Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2017
Wo bleibt die solidarische Gesellschaft?
von Rolf Euler

Nach dem Anschlag in Berlin überschlugen sich Politiker und Presse mit der Forderung nach mehr Sicherheit. Die Schlagzeile «Wie wird Deutschland sicherer?» erschien bundesweit mit dem Unterton: so unsicher war es noch nie. Die Polizei wurde auf die Weihnachtsmärkte geschickt, schwerbewaffnet gab es den Anschein: wir reagieren. Forderungen, den Staat aufzurüsten, wurden erneut verstärkt an die Öffentlichkeit gebracht. Dabei ging und geht es darum, Gesetze zu verschärfen, die mit dem konkreten Anschlag wenig bis nichts zu tun haben: Videoüberwachung, Vorbeugeknast für Asylsuchende, Grenzlager, schnellere Abschiebungen, Datenaustausch der Behörden, Vorratsdatenspeicherung und Auslesen des gesamten Internetverkehrs durch die Geheimdienste.

Fragte man die Passanten auf den Weihnachtsmärkten, gingen die Antworten eher in die andere Richtung: Man weiß, dass auch mehr Polizeistreifen einen Lkw oder Attentäter mit anderen Angriffsarten nicht aufhalten würden – die Fußstreifen auf den Weihnachtsmärkten gaukeln vielleicht eine Sicherheit vor, die es so nicht geben kann. Eine konkrete Sicherheit gegen Lkw-Angriffe auf Weihnachtsmärkte stellten einige Städte besser mit Containern oder Betonbarrieren an Einfahrtstraßen her. Das Sicherheitsgefühl war nicht geringer als sonst, auch wenn die Menschen in ihren Gedanken natürlich zu den Opfern gingen. Die Forderung nach mehr Videokameras wurde zwar verstärkt erhoben, allerdings mit dem Hinweis: Damit verhindert man nichts, vielleicht kann man hinterher mehr aufklären.

Der Innenminister schlug eine Art deutsches FBI vor, also eine Bundespolizeibehörde, die über die Länderhoheit gestellt würde. Hier erntete er zwar Einspruch der Länder, aber nicht wegen der Verschärfung und Ausweitung der Gesetze gegen Asylbewerber, sondern wegen des Kompetenzgerangels. Vor allem will er den Verfassungsschutz zentralisieren, was ebenfalls an die Vergangenheit erinnert. Schließlich ist die föderale Struktur der Polizei der Bundesrepublik ein Ergebnis der schlimmen Erfahrungen des Dritten Reichs mit den zentralen Staatsschutzeinrichtungen Gestapo und SS.

Regierungen und Polizeiverantwortliche kannten nur eine Richtung: Sicherheit durch Überwachung, Datenaustausch und Aufstockung des Personals in den Behörden und bei der Polizei. Die seit einem Jahr betriebene Pressekampagne um die Kölner Silvesterereignisse tat ein übriges, um die Stimmung zu verbreiten, jetzt müsse der Staat aber stark werden und eingreifen können.

 

Vermischung von Asylverfahren und Terrorangst. Vor allem bei denjenigen, die konkret mit Flüchtlingen zu tun haben, macht sich die Sorge breit, dass ihre Arbeit bei dieser allgemeinen Stimmungsmache konterkariert wird. In Sonntagsreden wird die Arbeit der Ehrenamtlichen gelobt, aber werktags wird Flucht und Migration immer mit Terrorgefahr in Verbindung gebracht und so öffentlich Stimmung dagegen gemacht.

Über die Fluchtursachen wird dabei fast überhaupt nicht mehr diskutiert. Vor allem nicht über jene, die in unserer eigenen Gesellschaft entstehen und mit der Außen- und Wirtschaftspolitik der BRD zu tun haben.

 

Sicherheit gibt es nie absolut, aber in einer solidarischen Gesellschaft lebt man sicherer. Die Erfahrungen derer, die die Flüchtlinge unterstützt haben, zeigen, dass die Menschen, die zu uns kommen, konkrete Hilfe brauchen bei Spracherwerb, Wohnungsbeschaffung, Arbeitsmöglichkeiten. Dass sie ständig auf bürokratische Regelungen, auf Kompetenzgerangel zwischen Kommune, Jobcenter, Arbeitsagentur, Landesregelungen und Bundesamt stoßen und zum Teil monatelang auf integrative Maßnahmen warten müssen. Wer persönlich die Betreuung einer Gruppe, einer Familie, eines Flüchtlings übernimmt, merkt, wie die direkte Beziehung nicht den Betroffenen gut tut, sondern auch den Betreuern und unmittelbar zu solidarischem Verhalten beiträgt.

Ein Geflohener wird sich unter den Augen eines Betreuers nicht so einfach zum Attentäter entwickeln wie unter allein gelassenen Containerbewohnern, deren Ansprechpartner nur der Sicherheitsdienst und ein Sozialarbeiter für hundert Menschen ist.

 

Solidarisches Miteinander: Leben, Wohnen, Arbeiten. Die Aufgabe, so viele Menschen in unsere Gesellschaft einzufügen, verlangt Maßnahmen, die allgemein für eine solidarisches Miteinander gelten müssten, die wir bei uns jedoch vermissen. So ist nach wie vor die Wohnungs- und Eigentumsfrage zentral. Wer arm ist oder Hartz IV oder Flüchtling, wird immer stärker an den Rand gedrängt. Es haben sich in den großen Städten Ghettos gebildet, die sowohl den Armen das Leben erschweren, als auch die gesellschaftliche Spaltung vertiefen. Wir können uns eine solidarischere Gesellschaft vor allem da vorstellen, wo der Mangel an grundlegenden Gütern des täglichen Lebens behoben ist. Hartz IV reicht da nicht aus, daher ist eine der ersten Forderungen – solange es diese Art der sozialen Grundsicherung geben muss – die nach Anhebung der Regelsätze. Was die Lage auf dem Arbeitsmarkt angeht, so ist die Spaltung in Teilzeit- und Niedriglohnbeschäftigte einerseits, Normalarbeitsverhältnisse andererseits das größte Problem.

Forderungen nach einer guten Ausbildung für alle und Arbeitszeitverkürzung stehen hier an erster Stelle. Wenn die Automatisierung von Produktionsprozessen dazu führt, dass im industriellen Sektor immer weniger Arbeit benötigt wird, muss das auf mehr Menschen verteilt werden. Im sozialen Bereich könnte Arbeitszeitverkürzung dazu führen, dass vor allem Care-Arbeiterinnen entlastet werden, also jene, die Pflege, Krankenversorgung und Dienstleistungen an Menschen vollbringen.

 

Alternative Produktionsformen wären vor allem in der Landwirtschaft bei der Lebensmittelproduktion erforderlich, gegen den Trend zur industriellen Landwirtschaft. Modelle bis hin zu Kommunen und Bürgergenossenschaften, Regional-AGs für ökologischen Landbau gibt es ja lange. Das sind nur einige Ansätze für die Überwindung der profitorientierten Wirtschaftsverhältnisse, sie stellen den Nutzen für die Verbraucher und die Beschäftigten anstelle des Gewinns in den Mittelpunkt.

 

Selbstverwaltung, gesellschaftliches Eigentum. Nicht nur mit den Flüchtlingen stellt sich immer öfter die Frage, wieso alles mit bürokratischen Institutionen verwaltet werden muss. Was eine selbstverwaltete Gruppe erreichen kann, die sich demokratisch organisiert, lernten wir auch von Beispielen nach der großen argentinischen Wirtschaftskrise. Ebenso in Südfrankreich, wo die Belegschaft von Fralib die Teefabrikation in Eigenregie übernommen hat, das ist hier kaum bekannt und zeigt, was möglich ist.*

Wenn schon «mehr Sicherheit» verlangt wird, dann über soziale Netzwerke, über die Grundsicherung von Bedürfnissen, über zwischenmenschliche Beziehungen zu Eingewanderten – nicht durch mehr Überwachung und Polizeistaat.

 

* www.labournet.de/internationales/frankreich/arbeitskaempfe-frankreich/fralib.

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