Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2017

Über den «Tag ohne uns», seine Vorgeschichte und seine Lehren
Gespräch mit Valery Alzaga

«Fünfeinhalb Millionen geborene Briten leben als Migranten außerhalb des Landes, viele britische Staatsbürger sind Kinder von Migranten, und viele gebürtige Ausländer nennen Großbritannien ihre Heimat. Weltweit gibt es über 100 Millionen Migranten. Migration ist ein selbstverständlicher Teil ein jeder Gesellschaft. Deshalb müssen die Migranten bleiben.»

So heißt es auf der Webseite migrantvoice, die den Migrantenstreik in Großbritannien am 20.Februar vorstellte. Ein breites Bündnis hatte zu einem «Tag ohne uns» aufgerufen. Einen ähnlichen Streik hatte es in den USA 2006 und in Italien 2010 gegeben. Solche Aktionen durchbrechen die Grenzen der verschiedenen Arbeitsbereiche und Nationalstaaten. Wie kann so ein Streik aussehen, in einer Zeit, in der das Streikrecht ausgehöhlt ist und ein Streik sowohl die Produktion als auch die Reproduktion treffen muss, um effektiv zu sein?

Das italienische Webportal «connessioni precarie» hat mit Valery Alzaga, einer Gewerkschafterin (Mitglied von UNISON) und Organizerin für die Rechte von Migranten mit Erfahrungen in den USA und in Europa ein Interview über den Sinn solcher Streiks geführt.

 

Der Mayday von 2006 war der Tag des Migrantenstreiks in den USA: Millionen demonstrierten und blockierten einen großen Teil der amerikanischen Wirtschaft. Der Hauptgrund war der Widerstand gegen ein neues Gesetz, das Migranten ohne Papiere kriminalisieren sollte. Wie sah der Prozess aus, der zu diesem Tag geführt hat?

Vor 2006 gab es Jahrzehnte langes Organizing in großen Städten, dort, wo auf die Arbeit von Migranten nicht verzichtet werden kann: im Dienstleistungsbereich, in Reinigungsunternehmen (wie in meinem Fall), im Nahrungsmittelsektor, im Bereich der häuslichen Arbeit und in der Landwirtschaft. Der harte gesetzliche Angriff gegen die Migranten ließ uns keinen anderen Ausweg.

Es ging uns nicht nur um unsere eigene Sicherheit, sondern um unsere Familien in den Herkunftsländern, die wir versorgen. Für uns Migrantinnen ist es wichtig, dass wir keine Opfer sind, sondern verstehen, wie groß unser Beitrag zur Wirtschaft ist. Die Märsche, die wir damals organisierten, haben uns unsere Macht bewusst gemacht, dass wir mit vielen gemeinsam unsere Stimme hörbar machen können. Wir haben Modelle dafür entwickelt, Solidarität aufzubauen. Es geht auch um ein betriebsübergreifendes Konzept von Gewerkschaftsbewegung, wo Leute nicht nur demonstrieren, sondern auch die Wahlentscheidung von Mitgliedern mit Papieren beeinflussen können.

 

Verschiedene Entwicklungen haben zu diesem Tag geführt, z.B. die Bewegung der 70er Jahre «Si se puede» (Ja, man kann). Die Kampagne hatte auch unterschiedliche Schwerpunkte: Die Koalition «Wir sind Amerika» und Parolen wie: «We didn’t cross the border, the border crossed us» (Wir haben die Grenze nicht überschritten, sie hat uns betrogen – «to cross» heißt überqueren, aber auch betrügen) verwiesen auf jeweils andere Debatten. Wie war die Bewegung und was hat sie erreicht?

Es gab viele Spannungen und lange, schwierige Verhandlungen mit der Demokratischen Partei über die Legalisierung der Papierlosen.

Ein Resultat des Mayday war das Gefühl, wir kommen aus der Defensive heraus und können die Legaliserung wirklich erreichen. So ist es aber nicht gekommen. In der Bewegung gab es Leute, die sehr kritisch denjenigen – besonders den Gewerkschaften – gegenüberstanden, die die Verhandlungen führten. Dann gab es Organisationen, die fanden, wir sollten überlegter auftreten und mehr auf die Straße gehen. Wir hätten viel mehr tun können um zu zeigen, dass es nicht nur eine kritische Masse von Migranten gibt, sondern auch maßgebliche Persönlichkeiten, die sie unterstützen, nämlich solche Arbeitgeber und Politiker, die glauben, dass ihre Legalisierung möglich und nötig ist.

Es ist uns jedoch gelungen, die schlimmsten Punkte des Gesetzesvorhabens abzuwehren und in einzelnen Bundesstaaten und Städten Verbesserungen durchzusetzen. Zum Beispiel haben wir erreicht, dass Papierlose einen Führerschein bekommen und die Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen können, ohne dass ihr Aufenthaltsstatus überprüft wird.

Die sogenannten Sanctuary Cities (Zufluchtsstädte) wie San Francisco, Los Angeles oder New York verhalten sich fortschrittlicher als die Regierung in Washington. Sie verteidigen das Recht der Migranten, gleichberechtigte Bürger zu sein. Wir haben immerhin wichtige Räume erobert, in denen Migranten eine Stimme haben und Stimmen mobilisieren können.

 

Welche Rolle spielte der Streik selbst?

Der symbolische Streik funktioniert nicht als eintägiges Großereignis. Er funktioniert nur als sich kontinuierlich steigernder Prozess, bei dem immer wieder kleine Siege errungen werden. Wir müssen auf allen Ebenen arbeiten: den Gemeinden, Städten, Bundesstaaten, landesweit und global. Der Streik ist nur eines unserer Mittel, wenn auch ein sehr wichtiges. Große Aktionstage kann man anstreben, sie müssen aber ein lokales, ein spezifisches Anliegen haben, auch wenn das eigentliche Ziel darin besteht, mehr Leute zu mobilisieren. 2006 gab es viele Aufbauaktionen, viel lokale Organisationsarbeit, viel Medienarbeit – der Höhepunkt war der «Tag ohne uns», er war aber keine Eintagsfliege.

 

Ein Aktionstag kann neue Räume eröffnen, eine größere Sichtbarkeit und die Grenzen des Arbeitskampfs verschieben. Der Migrantenstreik am 1.Mai 2010 in Italien warf neue Fragen auf, z.B.: Wie kann jemand streiken, der oder die in einer privaten Umgebung arbeitet? Was können wir in dieser Hinsicht vom May Day 2006 lernen?

Der Streik war gesellschaftlich verankert: Studierende nahmen teil, Kirchengemeinden, einfach alle. Das war kein passiver Streik. Wer sich um die Kinder kümmern musste, forderte vom Arbeitgeber, frei zu bekommen und sogar mitzumachen. Große Firmen wurden gebeten, die Beschäftigten an den Protesten teilnehmen zu lassen. Da gab es dann zwar ein Zeitlimit, die Erlaubnis wurde aber oft erteilt. Manche gingen einfach nicht zur Arbeit: «Ich werde doch nicht um Erlaubnis fragen! Das ist unser Tag!» Da gab es viel Wagemut, aber da wir gemeinsam ein Risiko eingingen, wurde es für alle kleiner.

Auch ein einzelner Tag kann den Diskurs verschieben, ein sozialer Streik ist aber sicherlich breiter angelegt als ein Arbeitsstreik. Ein Arbeitsstreik funktioniert heutzutage nicht ohne sozialen Schutzmechanismus. Es bedarf einer selbstorganisierten Logistik.

 

Reden wir über deine Erfahrungen als Organizerin in Europa. Was ist ähnlich wie in den USA, was ist anders?

Die Arbeit der Migranten ist in Europa sehr wichtig geworden. Im Moment mache ich Organizing im Pflegebereich. Da arbeiten auch viele Deutsche, aber es gibt einen Zustrom von Migrantinnen. In diesem sehr prekären Bereich kommen Migrantinnen und Einheimische miteinander in Kontakt. In Europa ist es schwieriger, die Stärke von Migranten zu zeigen, da die Gewerkschaften nicht gewohnt sind, in diesem Bereich zu arbeiten. Es fällt ihnen schwer, den prekären Dienstleistungsbereich zu organisieren, in dem die meisten Migranten arbeiten, sie sind eher in einer Umgebung tätig, in der es stabile Anstellungsverhältnisse gibt.

Wir wollen Migranten und Einheimische im selben Sektor organisieren, gemeinsam gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit und gegen die Demagogie kämpfen, die Migranten für den Sozialabbau verantwortlich macht.

Derzeit versuche ich, die Beschäftigten eines Krankenhauses in einer Gegend zu organisieren, wo sehr viele für den Brexit gestimmt haben. Dort ist man auf die Ärzte und Krankenschwestern aus der EU oder anderen Länder angewiesen. Wir versuchen nun, sie in Gewerkschaften zusammenzuschließen. Außerdem wollen wir, dass alle zusammen den EU-Ausländern bei der «Remain»-Kampagne helfen. Eine neue Regelung besag, dass alle, die weniger als 35000 Pfund verdienen, das Land verlassen müssen. Wir setzen uns dafür ein, dass EU-Ausländer davon ausgenommen werden. Es müssen viele Berufssparten aus der Regelung ausgenommen werden, in denen die Beschäftigten unter dem genannten Einkommensniveau bleiben, aber dennoch gebraucht werden.

Neben dem Bleiberecht geht es auch um die Renten und eine staatenübergreifende Gesundheitsversorgung. Es gibt auch Migranten mit weniger Rechten und solche, die mehr Rechte haben und deswegen angegriffen werden. Nicht zuletzt müssen alle vor fremdenfeindlichen Attacken geschützt werden. Ich organisiere also Migrantinnen in einem Krankenhaus und tue das inmitten von britischen Brexit-Befürwortern – sie sind das, weil sie die Lage falsch analysieren und auch, weil die Gewerkschaften in bezug auf die Einwanderung keine guten Kampagnen geführt haben. Es kann also negative Reaktionen geben, weil die Belegschaft polarisiert ist.

Die Herausforderung liegt in der bereichsübergreifenden Organisierung, es braucht eine Kampagne zur Verteidigung des nationalen Gesundheitssystems und der Rechte, die durch den Brexit gefährdet werden. Entscheidend ist dabei, dass mit der Verteidigung der Migrantinnen auch die Verteidigung aller Beschäftigten gegen den zunehmenden Arbeitsdruck einhergeht.

 

Manche nennen den für den 20.Februar geplanten «Tag ohne uns» in Großbritannien einen Migrantenstreik. Wie siehst du das und wie kann ein Organizing der Migranten in der Brexit-Ära aussehen?

Die Gewerkschaften unterliegen vielen Beschränkungen, wenn es darum geht, einen Streik auszurufen. Ich bin gerade erst hierher gezogen und noch nicht sehr in der Migrantenbewegung außerhalb der Gewerkschaft verankert. Viel wird von den Verhandlungen abhängen. Ich denke, es gibt Potenzial und Unterstützung. Die Hälfte des britischen Bevölkerung will in der EU bleiben. Die Migranten sind motiviert, aber auch wütend. Die polnischen, spanischen, philippinischen Beschäftigten werden von verschiedenen Organisationen mobilisiert. Da gibt es nicht nur Lobbying, sondern auch gemeinschaftliches Organizing. Wenn morgen eine desaströse Maßnahme angekündigt wird, gehen wir auf die Straße. Ich spüre bei den Migranten den Willen, sich zu bewegen, etwas zu tun und sich zusammenzuschließen.

Ein gesellschaftlich verankerter Streik kann helfen, alle Beschäftigten zu organisieren. Migranten sind meist nicht formal in einer Gewerkschaft oder anderen Vereinen organisiert und haben Angst davor, in Aktion zu treten. Ein Streik ist ein großer Schritt, da muss sich erst einiges an Wut aufstauen und es muss eine klare Hoffnung geben. Die dafür nötige Kraft muss aufgebaut werden, dabei spielen effektives Organisieren, Vernetzung und der Aufbau von Gemeinschaften eine Rolle.

 

Wir von der Plattform Transnational Social Strike diskutieren über die Zusammenarbeit von Migranten und Einheimischen, wobei wir die soziale Dimension des Streiks und die Notwendigkeit einer transnationalen Ebene beachten. Wie siehst du das Potential für eine «politische Infrastruktur», die gemeinsame Perspektiven, Ideen und Forderungen entwickelt?

Das brauchen wir mehr denn je, denn das ist ein europäisches Problem. Die Fremdenfeindlichkeit und die Ausgrenzung, die Migranten derzeit erfahren, sind ein europäisches Phänomen und nicht nur etwas, was mit dem Brexit zu tun hat. Wir Linke sind sehr schwach, weil wir schon so lange vergeblich gegen den Neoliberalismus kämpfen. Über symbolische Aktionen hinaus muss es Bereiche geben, wo fortschrittliche Politik Boden gewinnt. Wir brauchen eine europäischen Bewegung. Ich bin voller Hoffnung, trotz Trump, denn wir haben eine progressive Szene und Städte, die gegen ihn Widerstand leisten.

Auch in Europa gibt es neben dem Aufschwung der extremen Rechten Städte wie Barcelona oder Madrid, die Hoffnung machen, weil dort die Rechte von Migranten im Mittelpunkt der Debatte stehen. In solchen politischen Räumen können wir mehr Rechte für Migranten durchsetzen.

Im Sozial- und Pflegebereich prekarisiert das neoliberale Modell die Arbeit und zerstört die soziale Infrastruktur. Der Bereich, der angesichts der alternden europäischen Bevölkerung am meisten gebraucht wird, wird gerade zerlegt. Gerade dort müssen wir gewerkschaftliche Verankerung erreichen.

Bei unseren Mobilisierungen muss es darum gehen, die Kontrolle über unsere Städte zu bekommen. Wenn wir auf lokaler Ebene Rechte und eine bessere Verteilung des Reichtums erreichen, können wir Gegenmacht aufbauen. In den Niederlanden haben wir begonnen, die Hausarbeit gewerkschaftlich zu organisieren – normalerweise kümmern sich die Gewerkschaften nicht um diesen Sektor. Hier werden jetzt vor allem papierlose Beschäftigte organisiert.

 

Es macht einen Unterschied, ob ich sage, Migranten sind sich ihres Werts bewusst und bringen dies zum Ausdruck, oder: Wir Migrantinnen werden gebraucht. Glaubst du nicht, dass wir innerhalb der Arbeiterbewegung einen Diskurs führen sollten, der die gemeinsamen Interessen von einheimischen und eingewanderten Beschäftigten betont?

Ich glaube, dass Migranten an der Spitze des Kampfs stehen können. Sie sind keine Opfer. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen Kampagnen, die zunächst einmal Botschaften an uns selbst sind. Wie organisieren wir uns selber als Migranten? Die Botschaft muss maßgeschneidert sein auf das, was wir erleben, was wir wollen und warum wir das wollen. Eine gute Kampagne muss außerdem zu vielen Bevölkerungsteilen sprechen und auch eine Botschaft enthalten, die von den Einheimischen verstanden wird. Unser Publikum soll nicht nur aus den «üblichen Verdächtigen» bestehen, den Migranten, Linken usw. Entscheidend ist dass wir zeigen, es sind nicht die Migranten für diese Krise verantwortlich. Viele Migranten haben es verinnerlicht, dass sie als Belastung für die Gesellschaft gesehen werden.

 

Wie steht das alles in Verbindung zu Arbeitskämpfen? Oft wird ja die Arbeit von Migranten dazu benutzt, die Beschäftigten zu spalten.

Es gibt eine Methode, wie man Kampagnen effektiv gestaltet. Wir haben beispielsweise Beschäftigte im Gepäckdienst auf den Flughäfen organisiert. Dort ist die erste Generation der Beschäftigten, Gewerkschaftsmitglieder mit guten Verträgen, eine schrumpfende Minderheit. Die anderen, vor allem Migranten, sind bei Subunternehmen angestellt – ohne Verträge, ohne Gewerkschaft, ohne Rechte.

Wir haben auch die Beschäftigten organisiert, die gegen die Migranten waren, da sie in ihren Augen ihre Verträge und Standards unterminierten. Wir mussten sie in einem Raum zusammenbringen, damit sie gemeinsam über ihre Perspektiven reden konnten. Dazu mussten wir eine Analyse der Firma anbieten: Wie wird das Teile-und-herrsche-Prinzip umgesetzt? Warum tun sie das und wie üben wir kollektiv Druck aus? Wir müssen den Beschäftigten zeigen, wo das Geld hingeht, wie das Auslagern von Arbeit funktioniert, welche Standards dadurch verloren gehen und wie das auch die privilegierten Arbeiter treffen wird, wenn wir nicht gemeinsam dagegen kämpfen.

Gleiches Geld für gleiche Arbeit war unsere Parole. Dafür sind viele Kämpfe nötig, es ist ein Prozess. Wichtig war, dass es ein unterstützendes soziales Umfeld gab. Und wir haben versucht, die Botschaft nicht bloß an die üblichen Verdächtigen zu richten, sondern an alle Betroffenen, damit sie verstehen, warum es wichtig ist, die Standards anzuheben.

In den nächsten zehn Jahren werden wir auf vielen verschiedenen Ebenen kämpfen. Wichtig ist, dass wir von reaktiv auf aktiv umschalten, von symbolisch auf strategisch in Hinblick auf die finanziellen und politischen Interessen, die hinter der neoliberalen Maschinerie stehen.

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