Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2017
Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Frankfurt am Main: Campus, 2016. 294 S., 19,95 Euro
von Thomas Goes

Lenin hat einmal geschrieben, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung. In Anlehnung daran könnte man sagen: Ein fortschrittlicher linker Populismus, den wir in Deutschland dringend bräuchten, das wäre Sahra Wagenknecht plus konsequenter Antirassismus, ein klarer Bezug auf soziale Kämpfe und Internationalismus.

 

Linkspopulismus ist notwendig

Scheitern wird das vor allem an Wagenknecht – und das ist tragisch. Denn auf weiter Flur gibt es in der deutschen Linken niemanden, der oder die eine Rolle spielen könnte, wie es Pablo Iglesias in Spanien tut oder Bernie Sanders in den USA getan hat. Natürlich, am populistischen Wesen allein wird die Linke nicht genesen. Es braucht viel mehr. Die deutsche Linke muss sich neu erfinden, wenn sie der Herausforderung der populistischen Rechten erfolgreich begegnen will. Sie müsste sich viel stärker darauf konzentrieren, vor Ort Gegenmacht zu organisieren, d.h. sich weniger auf Wahlkämpfe oder Großevents (wie Block-irgendwas) einschießen, dafür mehr entlang von Interessen im Wohnviertel, in der Schule, Universität und im Betrieb organisieren. Es wäre wünschenswert, Organisationen aufzubauen, die dafür nützliche Instrumente sind, mehr noch, die unterschiedliche Organisierungen und Kämpfe miteinander verbinden würden, um die Mauern zwischen verschiedenen Teilen der Unterdrückten und Marginalisierten niederzureißen.

Dafür werden wir noch einige Jahre brauchen – und doch werden wir auch dann nur Minderheiten der unteren Volksklassen erreichen. In der Massenpolitik, wie man das früher nannte, bräuchten wir hingegen einen fortschrittlichen und angriffslustigen Linkspopulismus. Das ist auch nicht neu. Linke Kräfte, sofern sie in der Geschichte führend wurden, haben deshalb auch immer mit sog. «populistischen Verdichtungen» gearbeitet. Wagenknechts sozial- und wirtschaftspolitischer ebenso wie ihr außenpolitischer Diskurs könnten dazu beitragen. Und doch scheitert sie. Ihr Sozialpopulismus wird gefährlich, weil er eine klare antirassistische und internationalistische Färbung vermissen lässt. Und er wirkt relativ hilflos, weil es ihm an einer realistischen Strategie fehlt, wie ihre Forderungen gegen die scharf kritisierten Eliten durchgesetzt werden sollen.

 

Wagenknechts Sozialpopulismus

Zur Zielscheibe heftiger Kritik wurde Sahra Wagenknecht, weil sie sich im «Sommer der Migration» und nach den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht 2015/16 wiederholt für eine Regulierung bzw. – indirekt – für eine Beschränkung der Einwanderung durch Flüchtende aussprach. Die Emotionen kochten hoch, als sie im Nachklapp zur Silvesternacht schließlich den Satz sagte: «Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht dann eben auch verwirkt», womit sie so tat, als sei Asyl an das Wohlverhalten der Geflüchteten gebunden – eine ebenso absurde wie inhumane Vorstellung.

Aber auch ihre Kapitalismusanalyse sei verkürzt und nütze der Rechten, kritisieren manche Linke. Die Pointe ist nicht neu: Kritisiert man den Kapitalismus nicht richtig, dann nützt das der extremen Rechten, die – etwa in Gestalt des völkischen Antikapitalismus – den Kapitalismus ja auch angreift. Und schließlich kritisiert Wagenknecht die Europäische Union und verteidigt soziale und demokratische Errungenschaften, wodurch sie sich – angeblich – mit der populistischen Rechten gemein mache. Dass die Kritik der einen das Gegenteil der anderen meint, interessiert da kaum mehr. Wagenknecht – die Gott-steh-uns-bei-Verführerin?

Wie lautet also Wagenknechts Grunderzählung? Werfen wir einen Blick in ihr Buch Reichtum ohne Gier. Die heutige Gesellschaft werde von einer Elite regiert, die sich benehme wie die frühere Feudalklasse: sozial verantwortungslos. Das zentrale Problem des Gegenwartskapitalismus sieht sie im Wachstum von Unternehmensgiganten, denen eine Mehrheit der Menschen gegenübersteht. Lässt es sich die Elite gut gehen, muss die Mehrheit um ihren Statuserhalt kämpfen. Die etablierte Politik handele im Interesse der Eliten. Diese Konzerngiganten, so Wagenknecht, unterscheiden sich grundlegend von einem unternehmerischen Mittelstand, dem sie zuschreibt, seine Verpflichtungen für das Gemeinwesen zu erfüllen (eine verblüffende Feststellung, ist doch der Mittelstand eine Bastion des Neoliberalismus). Analog dazu sieht sie eine Konzentration der wirtschaftlichen Macht in wenigen Händen und eine Deklassierung der Mittelschicht walten. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Privatisierungspolitik, die quasi neue Monopole schuf, nicht aber Wettbewerb. Entstanden sei so der Reichtum des einen Prozents (des Geldadels), der sich weitgehend sozial den 99% gegenüber abgeschlossen hat. Insgesamt verrotte der Kapitalismus, weil die Monopolisierung Konzerne hervorbringt, die kaum mehr innovativ sind.

Außerdem machen Monopolisierung und Vermögenskonzentration die Gesellschaft undemokratischer. Ein Wirtschaftsfeudalismus des 21.Jahrhunderts sei entstanden, in dem das «organisierte Geld» regiert. Die Demokratie müsse gegen diese «Räuberbarone», «die sich heute die Staaten unterworfen haben», zurückerobert werden. Ausgehöhlt werde die Demokratie aber auch durch die Internationalisierung der Politik. Hier wendet sie sich gegen die EU. Durch sie würden die demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente untergraben. Überhaupt könne Demokratie lediglich in überschaubaren Räumen funktionieren. Je inhomogener und unübersichtlicher der Raum, desto schlechter sei das möglich – das ist keine linke, sondern eine stark konservative Denkfigur.

Drittens schließlich sei die EU ein von Lobbyinteressen gesteuerter Technokratensumpf, demgegenüber man sich für den Nationalstaat einsetzen müsse. Alternativlos ist das alles nicht, genau genommen stellt Wagenknecht auf ihre Art sogar die Systemfrage. Eine demokratischere, eine leistungsgerechtere, dynamischere und auch innovative Ordnung sei möglich – nur eben nicht als Kapitalismus.

Blanker Unsinn ist es, Sahra Wagenknecht dabei auf den Pfaden der neoliberalen «Väter der sozialen Marktwirtschaft» wandeln zu sehen. Natürlich gibt es ihre Feinde, die sie mit Vorsatz beim Wort nehmen, obwohl sie es besser wissen, andere fallen auf einen intellektuellen Taschenspielertrick rein, der gleichwohl recht gut funktioniert. Wagenknecht nimmt sich in ihrem Buch Stück für Stück neoliberale Mythen vor – etwa: Leistung führt zu Reichtum, Privatisierung führt zu Wettbewerb –, entzaubert sie (Reichtum vererbt sich weitestgehend, Privatisierungen erzeugen häufig neue Monopole) und macht die neoliberalen Überväter zu ihren eigenen Fürsprechern: Wer eine leistungsgerechte, dynamische und innovative Gesellschaft möchte, muss nicht mehr Neoliberalismus, sondern den Bruch mit dem Kapitalismus wagen. Das ist auch dann noch radikal, wenn ihre nachkapitalistische Gesellschaft ein Unternehmertum ohne großes Bankenkapital sein soll.

Die Quellen für diese konkrete Utopie ist sicherlich nicht der Ordoliberalismus. Mich erinnert das eher an Überlegungen des tschechoslowakischen Reformkommunismus, in dem Köpfe wie Ota Šik an Konzepten arbeiteten, in denen die Innovationskraft und Dynamik des Unternehmertums mit Demokratie und Kapitalneutralisierung verbunden werden sollte.

 

Was man teilen kann…

Muss man das teilen? Ist ihre Kapitalismusanalyse richtig? Nein. Einiges ist richtig, etwa ihre Kritik an der Vermögenskonzentration oder dem antidemokratischen Charakter der EU, anderes schlicht falsch (etwa die Behauptung, deutsche Großkonzerne seien nicht innovativ). Aber darum geht es gar nicht. Auch die Kapitalismusanalyse von Bernie Sanders war eine Mischung aus richtigen Einsichten und sozialdemokratischen Mythen. Ähnlich wie Sanders bietet Wagenknecht eine ganzheitliche populistische Erzählung an. Sie kritisiert die Eliten scharf, appelliert an die lohnabhängige Mehrheit, schürt Wut auf die da oben, die nicht nur verantwortungslos seien, sondern auch die Demokratie zerstörten, spielt mit idealisierenden Vergangenheitsbezügen und bietet ein eigenes Entwicklungsmodell für die Republik an. Dabei mag vieles nicht ganz stimmig sein, aber ohne solche «populistischen Verdichtungen» kann es keine linke Hegemoniepolitik geben.

Entscheidend daran ist, dass exklusive Grenzziehungen gegenüber Geflüchteten oder Fremden ebenso wenig im Mittelpunkt ihres Populismus stehen, wie das Treten nach Schwachen und die Beschwörung des Nationalen. Genau das aber ist für den rechten Populismus grundlegend. Auch in einem Großteil ihrer öffentlichen Auftritte sucht man so etwas vergebens. Viel öfter kann man eine scharfe Kritikerin der sozial desaströsen Europapolitik, globaler Welt(un)ordnungskriege und der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sehen. Völlig zutreffend betont sie, dass hierin – und in einer ebenso ungerechten wie zerstörerischen Weltwirtschaftsordnung – die eigentliche Ursache für Fluchtbewegungen nach Europa liegt. Es müsse darum gehen, die Fluchtursachen zu bekämpfen, nicht aber die Flüchtenden.

 

…und was nicht

Das ist aber nicht alles. Sahra Wagenknecht scheitert als linke Populistin, und für dieses Scheitern gibt es drei Gründe.

Erstens: Ihre Argumentation zu Flucht und Asyl setzt falsche Akzente. Was bedeuten etwa ihre bereits zitierten Bemerkungen zum verwirkten Gastrecht bzw. zu den Grenzen der Aufnahmefähigkeit von Flüchtenden? Im kommunalpolitischen Straßenwahlkampf kamen Menschen an die Stände der LINKEN, die die Partei nun wählen wollten aufgrund der Äußerungen, die sie als Abwertung der Flüchtenden verstanden haben. Vorher sei die Partei für sie unwählbar gewesen, aber nach Wagenknechts Äußerungen habe sich das geändert. Ein Schlaglicht, zugegeben. Aber eines, das die Gefahr gut verdeutlicht.

Zugespitzt: Wagenknechts Ausführungen haben einen national-reformerischen Einschlag, der rassistische und exklusiv-solidarische Verarbeitungsweisen bei den Menschen bestärken kann. Sie argumentiert nicht rassistisch und dennoch sind ihre Äußerungen brandgefährlich. Problematisch ist auch, was sie nicht sagt. Anders etwa als in der Kampagne von Bernie Sanders sucht man bei Wagenknecht vergeblich nach Bildern oder Zuspitzungen, die die arbeitenden Klassen als multiethnisch und kulturell vielfältig zeichnen.

Beides, was sie sagt und was sie nicht sagt, hintertreibt was wir brauchen: den Aufbau einer breiten popularen Bewegung von unten, die die Verdammten dieser Erde nicht als Gegner nimmt, sondern in ihnen Brüder und Schwestern sieht. Und es beschädigt zudem, was ihr mit ihrer Sozial- und Kriegskritik auf hervorragende Weise gelingt: eine für viele Menschen, die nicht im linken Subkosmos leben, überzeugende Kritik an den Eliten und Verhältnissen sowie ein attraktives Plädoyer für Alternativen.

Zweitens: Ihre Kritik an der EU zielt darauf ab, demokratische Souveränität und national erkämpfte soziale Rechte zu verteidigen, die in supranationalen Einrichtungen zum Teil ausgehöhlt werden. Das finde ich richtig. Falsch ist aber ihre Begründung, wonach Demokratie übersichtliche und homogene Räume bräuchte – wie homogen müssten Bevölkerungen wohl sein, damit der Demos Macht ausüben kann? Falsch wird ihre Position erneut auch durch das, was sie nicht sagt: Ihre Verteidigung demokratischer Errungenschaften verbindet sie nicht mit dem Appell, zugleich für internationale Formen der Demokratie zu kämpfen. Mehr als ein schlichtes Zurück zum Nationalstaat scheint es bei ihr nicht zu geben.

Drittens: Bezüge auf soziale Bewegungen, Organisierungen und Kämpfe sucht man bei Wagenknecht vergebens. Ein solcher Rekurs würde ihren Populismus nicht nur realistischer machen, das Unten ließe sich auch mit einem politischen Projekt derer identifizieren, die sich wehren und nach solidarischen Alternativen suchen.

Ein fortschrittlicher linker Populismus könnte dabei helfen, ein breites populares Bündnis zu stärken, das den neoliberalen Eliten ebenso wie der sich radikalisierenden Rechten den Kampf ansagt. Ein solches Bündnis müsste die soziale Frage stark machen und demokratische Souveränität von unten nach oben verteidigen, dabei aber die Perspektive der am meisten Ausgebeuteten, Marginalisierten und Unterdrückten stark machen. Es bräuchte nicht nur eine antikapitalistische Stoßrichtung, sondern sollte die Klassenfrage mit Feminismus und Antirassismus verbinden – und das in einer internationalistischen Perspektive.

Einen solchen linken Populismus müssen wir zugleich mit und im Streit mit Wagenknecht und ihre Anhängern entwickeln – in harten Auseinandersetzungen in der Sache und im gemeinsamen Kampf gegen die neoliberalen Eliten und die populistische Rechte.

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