Demokratische Wahlen?
von Mehmet Simsek
«Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat», erklärte der türkische Staatspräsident Erdogan in Ankara nach der Verkündung der knappen Mehrheit für ein Ja im Referendum um die Änderung der türkischen Verfassung. Was er sich unter «demokratisch» vorstellt, demonstrierte er am Umgang vor allem mit der kurdischen Opposition.
Nach vorläufigen Angaben der türkischen Wahlkommission stimmten am 16.April* 51,4 Prozent der Wahlberechtigten im In- und Ausland für den Umbau des Regierungssystems zu einer Präsidialdiktatur, 48,6 Prozent dagegen. Das Referendum ermächtigt den Präsidenten, 18 Verfassungsartikel zu ändern, die fast ausschließlich die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten und seine Verantwortung gegenüber dem Parlament betreffen. Erdogan will nach eigenen Angaben zunächst das Justizsystem so umbauen, dass er Einfluss auf die Ernennung der Richter nehmen kann, und auch die Todesstrafe (wieder) einführen. Diese war vom Parlament im Jahr 2001 auf Kriegszeiten und Terrorverbrechen eingeschränkt worden, um die Aufnahmekriterien in die EU erfüllen zu können. Der letzte, gegen den die Todesstrafe verhängt (aber nicht vollstreckt) wurde, war 1999 Abdullah Öcalan.
Druck auf die Opposition
Die Diskussionen um die Änderungen an der türkischen Verfassung und die Kampagnen um die Abstimmung haben in der Türkei zu einer hohen Politisierung der kurdischen wie der türkischen Bevölkerung geführt. Dabei wurde in den europäischen Ländern wie auch in der Türkei von den Befürwortern der Verfassungsänderungen massiv Druck auf die Nein-Sager ausgeübt. In den Städten Europas beschränkte sich dieser Druck auf Bedrohungen (auch von Seiten offizieller Vertreter des türkischen Staates) und Provokationen bzw. Angriffe auf Infotische, in der Türkei jedoch erreichten die Repressalien eine ganz andere Dimension.
Der größte Widerstand gegen die Verfassungsänderungen kam von der HDP (Demokratische Partei der Völker) und ihrem Umfeld. Im Vorfeld des Wahlkampfs wurden 13 HDP-Abgeordnete verhaftet, 5000 HDP-Funktionäre hinter Gitter gebracht, 82 Bürgermeister der HDP und der Partei der Regionen (DBP) in überwiegend von Kurden bewohnten Städten abgesetzt. Jegliche freie Kampagne der HDP für ein Nein wurde mit allen Mitteln verhindert.
Hinzu kommt, dass durch die militärischen Angriffe und Bombardierungen vieler kurdischer Städte etwa eine halbe Million Menschen ihre Häuser und Wohnungen verloren hat und obdachlos geworden ist. 342000 wahlberechtigte Personen haben deshalb keine Adresse und konnten somit auch ihre Stimme nicht abgeben. In unzähligen Ortschaften wurden zwei, drei Tage vor der Wahl die Wahlurnen an Orte gebracht, die für die Wähler unerreichbar waren. Als die Stimmabgabe abgeschlossen war, wurden Vertreter von HDP und CHP nicht zur Auszählung der Stimmen zugelassen. In der Provinz Hakkâri, wo die HDP/DTP in allen Wahlbezirken die überwiegende Zahl der Stimmen bekam, wurden in allen 222 Wahllokalen AKPler als Wahlleiter eingesetzt. Auf Druck der AKP-Vertreter in der Hohen Wahlkommission ließ diese in letzter Minute auch Stimmzettel zu, die keinen amtlichen Stempel trugen – ein eklatanter Verstoß gegen das Wahlgesetz, das einen solchen Stemple ausdrücklich verlangt. Das Wahlergebnis wurde von einer AKP-kontrollierten Nachrichtenagentur als der Sieg des Erdogan-Lagers deklariert.
Damit fängt nun die Demontage der Republik an und das Land steuert auf ein halbfaschistisches Regime zu.
Das Bündnis der Linken
Die linken, demokratischen und sozialdemokratischen Kräfte haben mit 49 Prozent für das Nein einen beachtlichen Erfolg erzielt. Obwohl es zwischen ihnen keine Bündnisse oder gemeinsame Aktionen gab, hat die Opposition gegen die Verfassungsänderungen neue Akteure auf die politische Bühne gebracht. Eine davon ist der «Demokratische Kongress der Völker – Europa» (HDK–A). Mindestens in den europäischen Ländern hat sie keine unwesentliche Rolle gespielt.
Seit Monaten gibt es eine breite Plattform von linken, demokratischen, kurdischen und türkischen Gruppen und Organisationen für die «Nein»-Kampagne. In einigen Städten wurde diese Kampagne von der Gruppe «Einheit für Demokratie» (Demokrasi için Birlik oder Demokratik Güç Birligi) organisiert. Zusätzlich sind in vielen Ortschaften Initiativen entstanden, die von den politischen Gruppen unabhängig sind.
Die türkische und kurdische Linke organisiert sich überwiegend im «Demokratischen Kongress der Völker – Europa» (HDK–A). Diese Organisation hat ein demokratisches, antifaschistisches Programm. Sie beschränkt ihre Arbeit nicht auf die Mobilisierung der Wähler, sondern strebt eine dauerhafte politische Organisierung der europäischen Migranten an. Als die politische Arbeit in der Türkei wegen der massiven Repressalien und Verhaftungen zunehmend schwerer wurde, beschlossen HDK/HDP, ihre Arbeit unter aus der Türkei in europäische Länder Eingewanderten zu intensivieren.
Zur Geschichte der HDK
Die Partei «Demokratischer Kongress der Völker» (HDK) wurde im Jahr 2011 in der Türkei gegründet. Am Gründungskongress nahmen 820 Delegierte aus 81 Provinzen teil.
Sirri Süreyya Önder, einer der Parlamentsabgeordneten der HDP, beschreibt die Gründungsphase der HDK so: «Die Geschichte der Linken in der Türkei ist auch eine Geschichte gescheiterter Bündnisse. Es gab Hunderte von Spaltungen, oft unabhängig von realen Konflikten. Vor den Parlamentswahlen 2011 wurde mit dem Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit ein neuer Versuch unternommen – erstmals erfolgreich. Zuvor haben wir immer versucht, die Bündnisse zu vereinheitlichen. Diesmal haben wir gesagt: Behaltet eure Strukturen und entwickelt sie weiter. Der erste Schritt zu einer gemeinsamen Praxis war, uns ein gemeinsames Wahlmanifest zu geben, der zweite, neuen Frauenorganisationen Raum zu geben. Das hat einen qualitativen Unterschied ausgemacht … Wir wollten, dass aus dem Wahlblock ein strategisches Bündnis wird, und gründeten dazu die HDK, die auf lokalen Rätestrukturen beruht. Die HDP ist nun die Partei dieses Bündnisses.»
Aktivisten der HDK in Europa erklären ihre politische Arbeit und Ziele wie folgt:
«Hervorgegangen ist die HDP aus dem Demokratischen Kongress der Völker (HDK), dem organisatorischen Zentrum für Hunderte von Gruppen und politischen Akteuren, die erstmals im Oktober 2011 zusammengekommen sind. Die Beschlüsse dieses Kongresses – etwa das Prinzip der demokratischen Selbstverwaltung, die Geschlechterparität, die Vertretung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen (LGBTI), Basisdemokratie und Rätestrukturen als Organisationsform – sind für die Demokratische Partei der Völker bindend. Der HDK–A ist ein Kongress, an dem Vertreterinnen und Vertreter demokratischer Parteien, Organisationen und Einzelpersonen aus der Türkei, Kurdistan, aber auch Menschen aus europäischen Ländern teilnehmen können. Aufgerufen sind dazu neben Frauenorganisationen die LGBTI, ethnische Gruppen wie Vertreter der Armenier, Assyrer und anderer Ethnien aus der Türkei und Kurdistan, sowie alle religiösen Gemeinschaften, insbesondere die vom Regime bedrängten Aleviten, Jesiden und Christen. Ziel ist es, im Sinne der demokratischen Selbstverwaltung einen europaweiten demokratischen Rat aufzubauen, in dem alle Abgeordneten ihre Schwerpunkte in die Debatten einbringen können. Deshalb ist der HDK–A kein Aktionsbündnis, sondern ein Rat, der gemeinsam debattiert bzw. Beschlüsse fasst, die von den Parteien, Organisationen und Einzelpersonen umgesetzt werden.»
Der Autor ist in Anfang der 80er Jahre aus politischen Gründen aus der Türkei geflohen und lebt seitdem in Deutschland.
*Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen erfolgte außerhalb der Türkei zwischen dem 27.März und 9.April, in der Türkei fand sie am 16.April statt.
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