Reihe Arbeit 4.0
von Werner Seppmann
Zum Kernbestand der kapitalistischen Legenden, dem auch viele Linke anhängen, gehört die Behauptung, der industrielle Fortschritte hätte zu mehr Arbeitsplätzen mit hohen Qualifikationsanforderungen geführt. Das steht im Widerspruch zu vielen industriesoziologischen «Befunden» und stimmt für die großen Rationalisierungswellen seit den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts so nicht.
Es ist zwar richtig, dass neue betriebliche Organisationskonzepte und neue technische Verfahren höher qualifizierte Beschäftigte erfordern. Doch das galt immer nur für den kleineren Teil. Für einen wesentlich größeren Teil war der technische Fortschritt mit dem Bedeutungsverlust ihrer bisherigen Fertigkeiten verbunden. So wurden lange Zeit zwar nur wenige Lohnabhängige durch die technologischen Veränderungen arbeitslos, jedoch mussten sie Beschäftigungen mit geringerem Qualifikationsprofil akzeptieren. Dieser Prozess hat sich beschleunigt.
Gegenwärtig sieht es so aus, dass es auch deshalb nicht zu den prognostizierten Kahlschlägen innerhalb des Industriesystems kommt, weil die kapitalistischen Akteure Produktivitätssteigerungen regelmäßig zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition einsetzen, wofür dann wiederum neue Arbeitskraftverkäuferverkäufer benötigt werden. Beispielsweise werden immer größere, schnellere und technisch «aufgerüstete» Autos produziert und mit großem Tempo neue Konsumgüter entwickelt und auf den Markt geworfen. Das sind Vorgänge, die einen Teil der Automatisierungseffekte kompensieren und allzu große Arbeitsplatzverluste verhindern.
Die «einfache» Arbeit dehnt sich aus
Schon Marx hat diesen Vorgang in den Grundrissen prägnant beschrieben: Da «das Kapital … selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch ist], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt … vermindert [es] die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen [Arbeit], um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen [Arbeit]». Schon in den Frühschriften findet sich einer dieser bemerkenswerten Sätze, mit denen Marx Entwicklungen antizipiert, die zu seiner Zeit kaum mehr als andeutungsweise existierten und in denen er darauf verweist, dass die Arbeitenden durch die Ausdehnung der Produkte und der Bedürfnisse zum erfinderischen und stets kalkulierenden Zweck zu «Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher und eingebildeter Gelüste werden».
«Erfinderische Bedürfnisse» werden im entwickelten Kapitalismus durch die Konsumpropaganda vermittelt. Noch immer gilt uneingeschränkt das von Marx im Kapital beschriebene Reproduktionsprinzip, dass nämlich die Maschine zwar «das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit» darstellt, unter kapitalistischen Verhältnissen jedoch «in das unfehlbare Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln».
In der Arbeitswelt wird es also fraglos zu eklatanten Veränderungen kommen. Heute sieht die Situation so aus, dass die Hightech-Kerne (deren Bedeutung für die Kapitalverwertung natürlich gestiegen ist!), von einer ständig wachsenden Peripherie einfacher und einfachster Arbeit umstellt sind. Für die Kernbereiche des Industriesystems mag vielleicht eintreffen, was von der Abteilung «Zukunft der Arbeit» beim IG-Metall-Vorstand prognostiziert wird, nämlich dass der «Abbau einfacher, manueller Tätigkeiten in der industriellen Fertigung» voranschreitet. Für die wesentlich größere Zahl von «Peripheriearbeitsplätzen» kann diese Tendenz jedoch nicht unterstellt werden. Die Spaltungstendenzen in der Arbeitswelt werden sich demzufolge verstärken.
Click-Working und Internetökonomie
Vor allem die Kernbereiche der sog. «Internet-Wirtschaft» sind ein Treibhaus für die Ausbreitung wenig qualifizierter Arbeit. Nicht untypisch dafür ist das Verhältnis zwischen qualifizierter Arbeit und Hilfstätigkeiten bei Amazon, einer Firma die zum Inbegriff der Internetökonomie geworden ist, die ja angeblich durch ihre «Immaterialität» (von der Hardt und Negri schwadronieren) geprägt sein soll.
Bestenfalls wenige tausend Beschäftige mit qualifiziertem Anforderungsprofil stehen den mehr als 100000 Lagerarbeitern und Hilfskräften gegenüber, die bei diesem Mega-Internet-Versandhändler global tätig sind und materielle Güter verteilen. Das Heer der bei anderen Unternehmen beschäftigten Logistikarbeitern – die mit Zuliefertätigkeiten beschäftigt sind, aber dem Gesamtsystem Amazon angehören – ebenso wie das Heer der Auslieferungsfahrer ist in diesen Zahlen noch gar nicht berücksichtigt.
Zusätzlich zu den fest Beschäftigten greift Amazon noch auf ein Heer von 500000 digitalen Tagelöhnern, sogenannten Click-Workern, zurück, die nur temporär, je nach Arbeitsanfall beschäftigt werden und die nach US-amerikanischen Daten einen durchschnittlichen Stundenlohn von 1,25 Dollar erhalten. Das Click-Working, dieses neue Modell prekärer Arbeit, dürfte künftig in der kapitalistischen Arbeitswelt einen wichtigen Platz einnehmen, weil damit auch qualifizierte Lohnarbeiter weltweit gegeneinander ausgespielt werden können.
In der Bundesrepublik arbeiten bereits einige hunderttausend Arbeitskraftanbieter nach diesem Modell. Noch ist diese Beschäftigungsform als Hauptberuf von geringer Bedeutung, aber immerhin sind schon 20% der Click-Worker vollständig von ihr abhängig. Einschließlich des kleinen Kreises gesuchter und gut bezahlter Experten liegt ihr durchschnittliches Einkommen bei rund 1500 Euro brutto monatlich. Die Beiträge für Versicherungen und Altersvorsorge müssen die Beschäftigten selbst aufbringen. Das durchschnittliche Einkommen der nebenberuflichen Digital-Tagelöhner beträgt 326 Euro, bei in der Regel über 60 Einsatzstunden im Monat. Damit bewegt sich ihr Stundensatz im 5-Euro-Bereich.