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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2017

Über die Präsidentschaftswahlen in Frankreich, die Kampagne der NPA und den Kampf gegen Rechts
Gespräch mit Olivier Besancenot

Olivier Besancenot ist zusammen mit Christine Poupin, Armelle Pertus und dem Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich. 1974 geboren, war er zunächst in SOS Racisme und in der JCR, der Jugendorganisation der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), der Sektion der IV. Internationale in Frankreich, aktiv. Obgleich er studierter Historiker ist, arbeitet er seit 1997 als Postbote. Im Jahr 2002 war er Präsidentschaftskandidat der LCR und holte überraschend 1,2 Millionen Stimmen (4,3%).

Er war zeitweise der populärste Politiker Frankreichs, obwohl er sich selbst immer als Aktivist gesehen hat. Bei der Präsidentschaftswahl 2007 erhielt er fast 1,5 Millionen Stimmen, aufgrund der im Vergleich zu 2002 viel höheren Wahlbeteiligung waren das 4,1%.

Dieser spektakulärer Erfolg war der Anlass für die LCR, die Gründung der NPA zu betreiben, in die sie sich 2009 auflöste. In der Folgezeit hat die NPA Rückschläge erlebt, ohne ihre Fähigkeit zu verlieren, in den Bewegungen eine vorantreibende Rolle zu spielen.

Manuel Kellner sprach am 11.April mit Olivier Besancenot über die Wahlen, über die Präsidentschaftskandidatur von Philippe Poutou und den Kampf gegen die nationalistische und rassistische Rechte.

 

Am 23.April läuft in Frankreich der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Was ist das Profil der aussichtsreichsten Kandidaten und warum wurden viele von ihnen nicht von den traditionellen großen Parteien aufgestellt worden?

Das ist Ausdruck einer scharfen Krise nicht nur der etablierten Parteien, sondern des politischen Systems insgesamt. Sie betrifft alle politischen Lager. Die traditionelle Rechte ist tief in sich gespalten. Auch die sozialdemokratische PS ist gespalten. Die Anpassung der Sozialdemokratie an prokapitalistische und neoliberale Politik unter der Präsidentschaft von François Hollande hat solche Ausmaße angenommen, dass es die Partei zerreißt. Das geht einher mit einem fortschreitenden Zerfall der traditionellen Arbeiterbewegung. Da schlägt die Stunde der Quereinsteiger, der Individuen, der Kandidaten, deren Markenzeichen ist, nicht von den Apparaten der etablierten Parteien aufs Schild gehoben worden zu sein.

Es ist eine Art Vakuum entstanden, in dem z.B. eine Figur wie Emmanuel Macron, ein Neoliberaler, der vorgibt zwischen Links und Rechts zu stehen, die Rolle eines kleinen Bonaparte spielen kann. Das alles erinnert an den Zusammenbruch des alten Parteiensystems seinerzeit in Italien.

Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei (Parti de Gauche) schafft es mit seinem linken Republikanismus-Nationalismus – er tritt an unter dem Motto: La France insoumise (das nichtunterworfene Frankreich) – und einem Profil, das stark an die Zeiten der PS unter François Mitterrand in den 80er Jahren erinnert, viele Stimmen ehemaliger PS-Wähler auf sich zu ziehen.

 

Wie schätzt du die Kampagne des Kandidaten der NPA, Philippe Poutou, ein? Wie erklärst du dir seinen Erfolg in den Medien? Schafft er es, das Image des Front National (FN) als einer Partei der Auflehnung gegen das Establishment zu zerstören?

Nein, das schafft er natürlich nicht, dafür ist der FN zu stark in breiten Bevölkerungsschichten verankert. Philippe Poutou hat aber viele Sympathien auf sich gezogen, weil er als politischer Aktivist auftritt und nicht als Berufspolitiker. Er spricht laut aus, was viele still bei sich denken. Dabei ist es ihm auch gelungen, die Kampagne von Marine Le Pen und des FN zu stören, weil er aufzeigt, dass deren Behauptung, «gegen das System» zu stehen, gelogen ist. Auch sie ist etabliert, auch sie ist korrupt, auch sie nutzt das System im eigenen Interesse, auch sie treibt Politik im Interesse des Kapitals.

Philippe Poutou wurden zu Beginn der Kampagne 0,5% der Stimmen zugetraut, ich glaube, es wird mehr sein. Sicher wird es keinen wahlpolitischen Durchbruch geben. Viel wichtiger aber ist, dass inzwischen viele Menschen zu unseren Veranstaltungen kommen und sehr viel mehr Menschen als noch vor einigen Monaten uns zuhören, wenn wir von der Solidarität mit den Flüchtlingen sprechen. Das ist ermutigend für die Zukunft.

 

Es könnte sein, dass im zweiten Wahlgang Marine Le Pen, die Kandidatin des FN, gegen einen bürgerlich-konservativen oder neoliberalen Kandidaten antritt. So etwas hat es ja schon einmal gegeben, als ihr Vater Jean-Marie Le Pen 2002 im zweiten Wahlgang gegen den Gaullisten Jacques Chirac angetreten war. Wird die NPA in diesem Fall dazu aufrufen, «gegen Le Pen und den FN» zu stimmen, also faktisch für einen bürgerlichen Kandidaten?

Das war eine sehr unangenehme Situation damals. Heute ist die Lage aber anders. Heute kann niemand voraussagen, wer im zweiten Wahlgang gegen wen antreten wird. Inzwischen liegt Mélanchon mit 18% in den Umfragen sogar einen Prozentpunkt vor dem rechten Republikaner François Fillon. Auch er könnte in die Stichwahl kommen. Derzeit führen Macron und Le Pen laut Umfragen mit jeweils 24%. Aber das alles kann sich sehr schnell ändern. Viele Wähler werden sich spät entscheiden, die Situation ist sehr instabil und unberechenbar. Wenn der Fall eintritt, den du angesprochen hast, werden wir nach dem ersten Wahlgang darüber diskutieren, wie wir uns verhalten.

 

Siehst du Anzeichen dafür, dass der FN an seine Grenzen stößt wie die FPÖ in Österreich und Geert Wilders in den Niederlanden – in gewisser Weise auch wie die AfD in Deutschland, die in den Umfragen ja viel eingebüßt hat?

Auch das ist möglich. Le Pen würde wahrscheinlich gegen Macron verlieren, vielleicht erlebt sie aber schon vorher einen wahlpolitischen Einbruch. Der FN kann auch zum Opfer der politischen Instabilität werden, die er selbst hervorgerufen hat. Das hängt davon ab, wie viele seiner bisherigen Wähler erkennen, dass auch er Teil des etablierten Systems ist, und dass er an der Macht massiv gegen die Interessen der Beschäftigten, der Erwerbslosen und kleinen Leute handeln würde. Alle Varianten sind denkbar, alles ist in Bewegung.

 

Denkt die NPA über eine europaweite Initiative für eine grenzüberschreitende Mobilisierung gegen die Rechte, gegen Rassismus, für die Solidarität mit den Migranten und Flüchtlingen nach oder hat sie schon Schritte in diese Richtung unternommen?

Die Verteidigung der Migranten und Flüchtlinge spielt eine herausragende Rolle in unserer Wahlkampagne, und wir haben – zusammen mit anderen – eine ganze Reihe von Solidaritätsdemonstrationen und -aktionen organisiert. Der Internationalismus ist das Herz unserer Kampagne, wir setzen uns dafür ein, dass in ganz Europa viele sich zusammentun, um gemeinsam in diesem Sinne aktiv zu werden. Internationale europaweite gemeinsame Aktionen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und gegen die extreme Rechte sind unbedingt notwendig, und wir werden uns weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen.

 

Wie wir in Deutschland scheint ihr auch in Frankreich in der Linken zum Thema Syrien gegen den Strom zu schwimmen. So hat euer Kandidat Poutou den Militärschlag der USA unter Trump gegen einen Flughafen des Assad-Regimes verurteilt, zugleich aber auch die Intervention Russlands zur Rettung des Assad-Regimes.

Ja, auch in Frankreich sind viele Linke, auch viele radikale Linke, dem «Lagerdenken» verhaftet und glauben, das Assad-Regime verteidigen und die Putin-Regierung decken zu müssen, um gegen den «eigenen» westlichen Imperialismus zu kämpfen. Wir halten es für völlig falsch, reaktionäre und imperialistische Politik zu unterstützen, nur weil sie in Konflikt mit «dem Westen» gerät. Wir sehen in Syrien zweierlei Konterrevolution, die der Assad-Diktatur und die der islamistischen Kräfte mit dem IS als schlimmstem Auswuchs.

Internationalismus bedeutet für uns in erster Linie Solidarität und den gemeinsamen Kampf mit allen Menschen, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung wehren, egal in welcher geopolitischen Konstellation dies geschieht.

 

Du kommst am 3.Juni auf Einladung der Internationalen Sozialistischen ­Organisation (ISO), der Sektion der IV.Internationale in Deutschland, zusammen mit Michael Löwy nach Köln. Dort wirst du euer Buch Revolutionäre Annäherung – Unsere roten und schwarzen Sterne (Die Buchmacherei, 2016) vorstellen und an einer Podiumsdiskussion zu dem Thema teilnehmen, wie der Aufstieg der Rechten und die Kapitaloffensive gestoppt werden können. Welche Orientierung im Kampf gegen Rechts und gegen den Rassismus schlägst du vor?

Dieses kleine Buch ist als Denkanstoß gedacht. In der Vergangenheit sind die Differenzen von Marxismus und Anarchismus betont worden. Es hat aber eine Reihe von Grenzgängern zwischen beiden Denktraditionen gegeben, und eine ganze Geschichte gemeinsamer Kämpfe. Auf den Prozess und die Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti hatte eine breite internationale Protestbewegung geantwortet, in der Kommunisten sehr stark vertreten waren,

Sehr viel fruchtbarer, als die Meinungsverschiedenheiten zu betonen, scheint mir, den Gemeinsamkeiten auf den Grund zu gehen, um heute gemeinsam gegen Kapitalherrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung vorzugehen. Das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist unsere wichtigste Gemeinsamkeit.

Im Kampf gegen Rechts ist eine möglichst breite Einheit wichtig. Zugleich brauchen wir aber auch eine radikale Infragestellung des herrschenden Systems. Ein Reformismus ohne soziale Reformen – die der heutige Kapitalismus nicht mehr zulässt – schafft den Raum für rechte Radikalisierung. Wenn wir die berechtigte Empörung nicht in die antikapitalistische Richtung lenken, dann wird die extreme Rechte diesen Raum einnehmen und eine Elite an die Macht bringen, die vorgibt, die Masse zu vertreten.

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