Immer mehr Beschäftigte pendeln immer weiter zur Arbeit
von Manfred Dietenberger
Werktag für Werktag das gleiche Szenario: Stockender Verkehr und Stau auf den Straßen, nicht nur in den großen Ballungszentren Frankfurt, Hamburg, Berlin, Stuttgart und München. Millionen Berufspendler sind täglich im Auto und auf der Schiene von und zur Arbeit unterwegs. Dazu kommen Tausende, die so weit entfernt von der Familie arbeiten, dass sie sich am Sonntagabend oder Montagmorgen für die ganze Woche von ihr oder den Freunden verabschieden müssen.
Das war nicht immer so. Vor der Industrialisierung lagen Wohn- und Arbeitsort dicht beieinander. Nur in einigen wenigen Städten mit starker räumlicher Konzentration von Gewerbe, Handel und Verwaltung pendelte schon damals eine größere Zahl von Personen aus den Vorstädten oder dem ländlichen Umland ins Stadtzentrum zu ihren Arbeitsplätzen. Mit Beginn der Industrialisierung nahmen die Pendlerzahlen allmählich zu. Ganze Heerscharen von Arbeitern begaben sich schon frühmorgens auf lange Fußmärsche in die Fabriken und wanderten abends müde zurück in ihre Behausungen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatten alle großen Städte Berufspendler, von da an ist der Berufsverkehr permanent gestiegen.
Die Gründe für das stetige Wachstum der Pendlerzahlen liegen in der durch die speziellen Standortanforderungen von Industrie und Dienstleistungen erzwungenen räumlichen Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten und in der Herausbildung reiner Wohnquartiere am Stadtrand. So richtig möglich wurde die räumliche Funktionstrennung jedoch erst durch die Entwicklung der Verkehrssysteme. Anfangs bewältigte der sich ausbreitende öffentliche Personennahverkehr die größer werdenden Pendeldistanzen. Mit der in den 50er Jahren einsetzende Individualmotorisierung machte die Pendlermobilität einen weiteren quantitativen Sprung. 1950 waren 14,5 Prozent aller Erwerbstätigen Berufspendler, 1987 waren es 36,8 Prozent. Parallel dazu stieg auch die zurückgelegte Entfernung je Berufsweg.
Gestohlene Jahre, gestohlene Gesundheit
Heute, in Zeiten der totalen Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, wird der Zwang zu pendeln für immer mehr Menschen zur Arbeitsbedingung. Die jüngste Analyse des Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zu sozialversicherungspflichtigen Berufspendlern lässt aufhorchen: In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist der Anteil derer, die nicht am Arbeitsort wohnen, von 53 auf 60 Prozent gestiegen. Der Arbeitsweg hat sich im Schnitt von 14,6 auf 16,8 Kilometer verlängert. Die Zahl der Fernpendler, die einen Arbeitsweg von mehr als 150 Kilometern zurücklegen, ist um 300000 auf 1,3 Millionen gestiegen.
Die Tatsache, dass heute 60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen abhängig Beschäftigten Berufspendler sind, überrascht nur auf den ersten Blick. Der zweite Blick macht klar: Auch sowas kommt von sowas. Bei der permanent laufenden Umstrukturierung der Konzerne und Betriebe, die aufgekauft, zusammengelegt, filetiert oder ganz zerschlagen werden, kommt es immer öfter zu Standortverlegungen, oft in die Peripherie. Nicht selten ist es der größte Betrieb am Ort, der plötzlich als «Arbeitgeber» ausfällt. Neue Arbeit findet sich oft nur in den Metropolregionen.
Besonders drastisch war die Entwicklung in den Metropolen Frankfurt am Main, München und Berlin. Berlin hat mit 53 Prozent den größten Zuwachs an Fernpendlern. Gerade in den Metropolen aber wurde und wird viel zu wenig bezahlbarer Wohnraum geschaffen, die Politik nimmt auf die Mietpreisentwicklung kaum Einfluss. So bleibt den Berufstätigen meist nichts anderes übrig, als immer längere Wege und Fahrtzeiten in Kauf nehmen.
Die Vorstellung, dass der Trip zur Arbeit in Bus und Bahn entspannender ist, weil man die Zeit besser nutzen kann, hält die Pendler nicht vom Auto fern, und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel sind nicht weniger gestresst. Wegen der zunehmenden Digitalisierung ist das Arbeiten heute fast von überall aus möglich: Nicht wenige Pendler checken in der morgendlichen Bahn ihre dienstlichen E-Mails, und in den ICE-Zügen mutiert so mancher Großraumwagen zum fahrenden Großraumbüro. Pendler fühlen sich ausgeliefert, besonders bei Verspätungen, und die gehören bekanntlich zum Pendleralltag. Sich täglich durch den Berufsverkehr zum Arbeitsplatz und zurück zu quälen, macht krank. Die ganze Liste der Zivilisationskrankheiten – von Rückenschmerzen, Burnout und Kopfschmerzen bis hin zu Depressionen – verdoppelt oder verdreifacht sich für Pendler, die mindestens 30 Minuten oder länger am Tag für eine Arbeitswegstrecke unterwegs sind. In Deutschland sind das derzeit weit über 8 Millionen Beschäftigte. Zahnarzttermine, Hausarztbesuche und Vorstellungen beim Dermatologen werden regelmäßig versäumt oder verschoben.
Wo ansetzen?
Es ist Zeit, das Thema auf die politische Agenda zu nehmen. Mit Blick auf die Rekordpendlerzahlen in Deutschland und die damit verbundenen Probleme sagte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) Anfang April 2017: «Wir wollen Unternehmen dabei unterstützen, ihren Mitarbeitern bessere Mobilitätsbedingungen zu bieten.» Denkbar seien Jobtickets, die gemeinsame Nutzung von Autos, Fahrradstellplätze oder flexiblere Homeoffice-Angebote. «Wenn wir hier weiterkommen, ist das nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch für die Lebensqualität.» Besonders nachahmenswerte Modellprojekte sollen mit rund 7 Millionen Euro gefördert werden.
Wichtiger wäre jedoch der Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, damit künftig Standortentscheidungen in den Unternehmen nicht mehr über die Köpfe der Beschäftigten und ihrer gewählten Interessenvertretungen hinweg getroffen werden können. Bei Standortverlegungen wäre auch an den gesetzlich verpflichtenden Bau von Werkswohnungen (in Selbstverwaltung der Beschäftigten) zu denken.
Die DGB-Gewerkschaft IG BAU geißelt die wachsenden Pendlerzahlen zu Recht als eine Folge falscher Wohnungspolitik: «Es ist doch klar, dass die Pendlerzahlen steigen, wenn selbst Normalverdiener wegen hoher Mieten aus den Städten wegziehen müssen», sagt der stellvertretende IG-BAU-Bundesvorsitzende Dietmar Schäfers. Auch deshalb müssen rasch preis- und belegungsgebundene Wohnungen als Ersatz für den aus der Sozialbindung herausfallenden Wohnraum gebaut werden.
Wirklich notwendig wäre auch hier die radikale Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit – etwa in Form der Drei-Tage-Woche. Und noch was: Arbeitsweg gleich Arbeitszeit? Denkste! Das Pendeln, also der Zeitaufwand, um zur Arbeit zu gelangen, ist bislang unbezahlte Arbeit! Immer noch ist tariflich nicht geregelt, ob beispielsweise die Arbeit im Zug mit Laptop, Smartphone & Co. als Arbeitszeit gilt. 2012 hat das Jobportal Stepstone vorgerechnet, dass es ein Pendler im Schnitt auf mindestens zehn Stunden Pendelzeit in der Woche, oder umgerechnet rund 450 Stunden (= 19 Tage) im Jahr bringt. Bei rund 40 Berufsjahren Pendleralltag, summiert sich die auf das Pendeln verwendete Lebenszeit auf 760 Tage – das sind mehr als zwei unbezahlte, verlorene Jahre.
Welch eine erschütternde Bilanz. Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand brachte es auf den Punkt: «Die Arbeiterbewegung hat nicht 150 Jahre für eine Verkürzung der Arbeitszeit gekämpft, damit wir heute mehr Zeit für den Weg zur Arbeit aufbringen!»
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