Totgeschwiegen
von labournet.de
Seit dem 27.März 2017 befinden sich russische Lkw-Fahrer in einem unbefristeten Streik gegen das Mautsystem «Platon», weil es die zu 80 Prozent selbstfahrenden Unternehmer in ihrer Existenz bedroht – zugunsten der großen Logistikfirmen. Ihr gewerkschaftsähnlicher Zusammenschluss heißt OPR, etwa 10000 Fuhrleute sind darin organisiert.
Nach 20 Streiktagen zog die Vereinigung OPR eine erste Zwischenbilanz des Streiks, sie hält eine ganze Reihe konkreter Auswirkungen des Streiks in den verschiedenen Regionen des Landes fest. Die OPR sieht den Streik auf einem guten Weg, die Entschlossenheit der Fuhrleute sei auch durch neuerliche Festnahmen nicht zu brechen, die Forderung nach einem Gespräch mit dem Regierungschef bleibt erhoben, auch wenn Regierung und Medien nach wie vor so tun, als ob nichts sei.
Neun Punkte werden in der Zwischenbilanz hervorgehoben*:
1.
Die Streikkoordinatoren gingen davon aus, dass der Streik nach einem Monat spürbare Auswirkungen zeigen würde. Die Prognosen sind früher eingetroffen.
2.
Offen zugängliche Zahlen über finanzielle Verluste von Tankstellenbetreibern liegen nicht vor, dafür gibt es Berichte aus den Regionen über Lieferstockungen, u.a. von Lebensmitteln. Solche Informationen stammen aus Städten, deren Versorgung komplett von Zulieferungen abhängig ist.
3.
Die Verbraucherschutzvereinigung teilte mit, dass ihr über hundert Meldungen aus drei Dutzend Regionen Russlands mit Beschwerden über Lücken im Warenangebot von Lebensmittelgeschäften vorliegen. Die Vereinigung erstellte eine interaktive Karte mit Angaben zur Lebensmittelknappheit, d.h. sie verweist auf Verstöße gegen die Rechte von Verbrauchern und auf das Gebot zur Lebensmittelsicherheit in der Russischen Föderation. Sie hat sich mit einem offiziellen Schreiben an Ministerpräsident Medwedew gewandt, das Informationen über erste Engpässe in der Lebensmittelversorgung enthält und auf die Notwendigkeit hinweist, eiligst Maßnahmen zur Vermeidung einer Unterversorgung zu ergreifen.
4.
Eine Reihe engagierter Personen, die zwar keine «Parteiführer» sind, sich aber für die Rechte und Freiheiten russischer Bürger einsetzen, haben sich offen für die Unterstützung der Fernfahrer ausgesprochen.
5.
Kulturschaffende und Personen des öffentlichen Lebens setzen sich für die Fernfahrer ein. Alexei Lebedinski, Musiker und bekannt als «Professor Lebedinski», hat eine Videobotschaft veröffentlicht. Der Politiker Leonid Gosman folgte. Die Regierung organisierte vor laufenden Kameras der zentralen TV-Sender ein Treffen mit Vertretern von Fake-Organisationen, die niemanden vertreten außer sich selbst.
6.
Die Regierung weigert sich demonstrativ, die Fernfahrer zu beachten, die auf ein Treffen mit Premierminister Medwedew und Transportminister Sokolow bestehen, um über die Umstände zu sprechen, die es den Fahrern unmöglich machen, ihrer Arbeit nachzugehen und Geld für sich und ihre Familien zu verdienen. Als ob nichts wäre.
7.
Versuche der Sicherheitsapparate, auf ihre Weise gegen die Fernfahrer vorzugehen, haben an der Situation nichts geändert. Die Streikenden sind in einem klassischen Netzwerk organisiert, ohne Anführer, bei gleichzeitiger Austauschbarkeit einzelner Koordinatoren, sie stehen dauernd im Kontakt und es verbinden sie gemeinsame Forderungen an den Staat. Kümmerliche Versuche, einzelne von ihnen wie Andrei Bashutin oder Rustam Mallomagomedow außer Gefecht zu setzen, scheiterten. Sie sind lediglich Sprecher der Streikenden, nicht mehr. Einschüchterungsversuche gegenüber den Fernfahrern in Dagestan, mit bewaffneten Einheiten der Nationalgarde, Panzern, Hubschraubern und Panzerwagen, führten zu nichts. Die Staatsmacht fürchtet sich vor einem Blutvergießen in Dagestan. Ein dritter Kaukasuskrieg käme ihr zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht gelegen.
8.
Die Staatsführung nimmt eine abwartende Haltung ein nach dem Prinzip: «Es wird sich schon alles irgendwie von selbst in Luft auflösen.» Im Fernsehen ist keine Rede von den Fernfahrern, sei’s drum. Als ob es keine Probleme gäbe.
9.
Die Taktik der Streikenden besteht derzeit darin, regional verschiedene Aktionen durchzuführen – etwa Autokolonnen u.ä. –, um Einfluss auf die lokalen Staatsvertreter zu nehmen, damit diese wiederum Druck auf Medwedew ausüben, dass er einem Treffen mit den Fernfahrern zustimmt.
* »Fernfahrerstreik. Zwischenbilanz nach 20 Streiktagen». Die zusammenfassende deutsche Übersetzung von Ute Weinmann, 17.April 2017, ist auf labournet.de erschienen.