Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Europa 1. Juni 2017
Eine neoliberale Alternative zum Brexit
von Ingo Schmidt

Die Griechen hatten die Wahl, sich entweder den Spardiktaten aus Brüssel und Berlin zu beugen oder aus dem Euro, vielleicht sogar der EU, zu fliegen. Sie haben sich mehrheitlich für den Verbleib entschieden. Per Referendum stimmte in Großbritannien im Juni letzten Jahres eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der EU.

 

Im Vorfeld der jetzt anstehenden Parlamentswahlen erklärten Tories und Labour unisono, sich an das Brexit-Votum gebunden zu fühlen. Bei den jüngsten Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen in den Niederlanden und Frankreich konnte sich das neoliberale Establishment gegen antieuropäische Herausforderer von rechts durchsetzen. Aber selbst die eingefleischtesten Anhänger von Euro und EU sehen sich genötigt, grundlegende Reformen anzumahnen. Nur die Stimmen aus Osteuropa spielen dabei keine Rolle. EU-Kritik gehört in Budapest und Warschau zur Regierungsrhetorik, hat aber keine praktischen Folgen. Weder wird der Austritt aus Eurozone und/oder EU angekündigt, noch von Brüssel angedroht.

Skepsis oder offene Ablehnung der EU gibt es in allen Mitgliedsländern, sie finden aber unterschiedliche Ausdrucksformen und stoßen auf unterschiedliche Reaktionen. Diese Unterschiede verweisen auf das Machtgefälle innerhalb der EU. Was Wähler oder auch Regierungen im Osten über die EU sagen, interessiert in den Hauptstädten des Westens nicht besonders. Als regelwidrig geltende Unmutsäußerungen im Süden führen zu Disziplinarverfahren. Absetzbewegungen im Westen jedoch gelten als existenzbedrohend, deshalb würden weder Troika noch Kanzleramt in London oder Paris jemals in der gleichen Art intervenieren wie in Athen und Lissabon. London und Brüssel bringen sich gegenwärtig mit starken Worten für den Verhandlungsbeginn in Stellung. Trotzdem lässt sich bereits eine Kompromisslinie erahnen.

 

Unüberbrückbare Gegensätze? Von wegen!

Angesichts des engen Zeitrahmens für die Austrittsverhandlungen hat Theresa May bereits Bedarf an Übergangsregelungen angedeutet. Artikel 50 des EU-Vertrags, der den rechtlichen Rahmen für die Verhandlungen absteckt, sieht dafür zwei Jahre vor. Am Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada wird bereits über zehn Jahre her­umgedoktort. Dass der ungleich komplexere Austritt eines EU-Mitglieds in zwei Jahren unter Dach und Fach zu bringen sei, glaubt niemand der an den Verhandlung Beteiligten.

Die Übergangsregelungen können sich jedoch als Türöffner für die variable Geometrie der EU erweisen, die Wolfgang Schäuble schon Jahre vor der Euro-Einführung gefordert hat. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt die Währungsunion selbst dar, weil sie unterschiedliche Regeln und Abstimmungsforen für EU- bzw. Euro-Mitglieder geschaffen hat. Der im Zuge der Eurokrise von den Gläubigerstaaten der Eurozone oktroyierte Fiskalpakt hat diese Unterschiede vertieft. Der jüngst von Schäuble ins Spiel gebrachte Europäische Währungsfonds könnte einen weiteren Schritt in Richtung Kerneuropa darstellen. Drum herum könnte sich eine Freihandelszone mit mehr oder minder freiem Personenverkehr innerhalb einer reformierten EU, aber mit strikten Migrationskontrollen an den Außengrenzen gruppieren. Einen derartigen Kompromiss könnten sowohl May, so sie denn im Juni wiedergewählt wird, als auch die um Schäuble versammelten Anhänger eines Kerneuropa als Erfolg verkaufen.

May könnte ihrer marktfixierten Anhängerschaft erklären, Großbritannien unter Androhung eines für alle Seiten nachteiligen EU-Ausstiegs aus den Fängen der Eurokratie befreit zu haben. Dies würde auch jene Tories versöhnen, die die EU nicht mögen, einen harten Brexit aber als Menetekel beschränkter Marktzugänge beargwöhnen. Schäuble könnte die Vertiefung der variablen Geometrie als EU-Reform verkaufen, deren Dringlichkeit mit Hinweis auf die Popularität von EU-Gegnern vom Schlage Le Pen auch vom neoliberalen Mainstream betont wird.

 

Die neue Mitte

Was Großbritanniens EU-Mitgliedschaft angeht, erscheinen May auf der einen und Schäuble, aber auch Juncker und seit wenigen Wochen Emmanuel Macron auf der anderen Seite, als Antipoden. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie neoliberale Überzeugungen teilen. Mögen sie diese auch mit dem Akzent ihrer jeweiligen Heimatländer artikulieren, sind ihre politischen Ansichten durchaus kompatibel. Mehr noch: Sie alle beschwören die Gefahren des Links- und Rechtspopulismus, gegenüber denen sie sich als verantwortungsvolle neue Mitte abgrenzen. Als müssten diese Gefahren besonders hervorgehoben werden, ist in jüngster Zeit häufig sogar von Links- und Rechtsextremismus die Rede. Was bei der totalitarismustheoretischen Einebnung der Unterschiede zwischen links und rechts verloren geht, ist der Extremismus der Mitte, dessen neoliberaler Gesellschaftsumbau soziale Spaltungen vertieft und damit Zukunftsängste hervorgebracht hat, von denen linke und rechte Gegner des Neoliberalismus im allgemeinen und der EU im besonderen auf unterschiedliche Weise zehren.

Sollte sich die variable Geometrie bzw. ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten durchsetzen, wird die Unzufriedenheit mit der EU weiter zunehmen. Sozialen Mindeststandards und einem daran anschließenden Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Sozialunion würde dadurch endgültig der Weg verstellt, nachdem die Maastrichtkriterien und die Schuldenbremse den dafür notwendigen finanzpolitischen Spielraum bereits drastisch eingeschränkt haben. Der Sozialdemokratie, die zumindest programmatisch an der Perspektive einer Sozialunion festhält, durch eine Fragmentierung des EU-Regelwerks den Weg zu verstellen, dürfte die neue Mitte um May, Macron und Schäuble freuen – wäre da nicht das Problem, dass eine neoliberale EU-Reform Anlass zu noch mehr Unzufriedenheit geben wird. Und das nicht nur bei jenen, die im Wettlauf um Arbeitsplätze und sozialen Status zurückfallen, sondern auch bei jenen, die ihre unternehmerischen Fähigkeiten beweisen wollen.

Von Befürwortern des Freihandels wurde die Ersetzung nationaler Standards durch einheitliche Regeln innerhalb des europäischen Binnenmarkts immer mit dem Argument größerer Transparenz begründet. Würde weniger effizienten Unternehmen die Möglichkeit genommen, sich hinter nationalen Schutzvorkehrungen zu verstecken, sei dies zwar schlecht für diese Unternehmen, aber gut für das Gemeinwohl. Wenn nur die effizientesten Unternehmen am Markt bestehen, sind Güter und Dienstleistungen für alle billiger zu haben.

In einer variabel gestalteten EU würde aber die alte Unübersichtlichkeit wieder hergestellt. Selbst Unternehmen, die sich davon nicht abschrecken lassen, müssten zusätzliche Kosten für Berater und Anwälte in Kauf nehmen, die herausklamüsern, welche Regeln für welches Auslandsgeschäft gelten. Auch eine Zunahme von Rechtsstreitigkeiten und EU-Bürokratie ist nicht auszuschließen. Am Ende dürfte auch die Unzufriedenheit jener steigen, die in der EU vor allem eine bürokratische Wettbewerbsbremse sehen.

 

Spielerin May gegen Vermittler Corbyn

Ob die Brexit-Verhandlungen den Anstoß zu einer neoliberalen Reform von EU und Eurozone geben und den Austritt Großbritanniens damit sogar hinfällig machen könnten, hängt davon ab, ob May als Premierministerin wiedergewählt wird. Anders liegen die Dinge, wenn Jeremy Corbyn gewinnen sollte. Ebenso wie May hat er erklärt, sich an das Resultat des Brexit-Referendums gebunden zu fühlen, aber gleichzeitig sein Interesse an einem weichen Brexit signalisiert, während May als Befürworterin eines harten Brexit in die Verhandlungen geht. Von der bürgerlichen Presse ist Corbyn mit Blick auf seine unbestimmte Position für einen weichen Brexit als führungsschwach kritisiert worden. Diese Presse wünscht sich einen linksliberalen EU-Befürworter à la Macron als Labour-Vorsitzenden. Umgekehrt kritisieren Teile der Linken Corbyn dafür, keine harte Brexit-Position einzunehmen.

Die Unentschiedenheit Corbyns reflektiert zunächst die Tatsache, dass sich unter den tatsächlichen und potenziellen Labour-Wählern ungefähr ebenso viele Brexit-Befürworter wie Brexit-Gegner befinden. Ähnlich gespalten ist die Anhängerschaft der Tories. Sofern Labour und Tories überhaupt noch als Repräsentanten eines linken und eines rechten politischen Lagers oder gar als Repräsentanten von arbeitenden bzw. besitzenden Klassen angesehen werden können, sind auf beiden Seiten dieser politischen bzw. sozialen Trennlinien Anhänger wie Gegner eines EU-Austritts zu finden.

Sollte Corbyn die Wahlen gewinnen, sähe er sich drei Herausforderungen gegenüber. Erstens müsste er Widerstand und Sabotage in der eigenen Partei überwinden, die Anhänger Blairs konnten sich in unzähligen Positionen des Partei- und Staatsapparats festsetzen und organisieren von dort den Widerstand gegen eine Linkswende. Zweitens müsste Corbyn nichts weniger als eine Neuerfindung des Sozialstaats gelingen, die einerseits den verbreiteten Wunsch nach Wiederherstellung des alten Sozialstaats aufnimmt, andererseits aber die Unmöglichkeit der Rückkehr in die vermeintlich guten alten Zeiten berücksichtigt. Drittens müsste er den Kampf gegen die neoliberale Mitte aufnehmen. Dabei hätte Corbyn in den Verhandlungen mit dem EU-Establishment einen Trumpf in der Hand. Dieses allerdings könnte ihn nicht so demütigen wie den linken Regierungschef eines Peripherielands.

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