von Helmut Dahmer*
«Kein schöner Land in dieser Zeit,
als hier das unsre weit und breit,
wo wir uns finden, wohl untern Linden,
zur Abendzeit!»
A.W. von Zuccalmaglio (1838)
Von Kultur ist immerfort die Rede, von Anerkennungs-, Erinnerungs-, Unternehmens-, Willkommens- und Wohlfühl-Kultur.
Berufspolitiker und Kulturbeauftragte, Festredner und ihr Publikum fühlen sich gehoben, wenn das Tagesgeschäft – gehe es um die Sicherung von Profiten oder um Wählerstimmen – mit dem vollmundigen K-Wort verbrämt wird. Da aber ein jeder nach dem schreit, was er nicht hat, können wir dem inflationären Gerede entnehmen, dass es den Kultur-Propagandisten an Kultur gebricht, dass sie Kultur zwar noch nicht haben, gern aber eine hätten.
Auf neuere Einwanderungswellen von Hunderttausenden, die verzweifelt versuchen, Verelendung und Krieg zu entkommen und in die wenigen Wohlstandsoasen vom Typus Deutschland zu gelangen, antworten die Regierungen der Nationalstaaten – seien sie noch parlamentarisch-demokratisch oder schon autoritär – unter stillschweigender Billigung der Bevölkerungsmehrheit mit der Schließung der (in unserem Fall: europäischen) «Außengrenzen».
Das Boot, es handelt sich in diesem Fall freilich eher um einen Luxus-Liner, ist angeblich wieder einmal voll. Frontex, die 2004 gegründete, 2016 reorganisierte «Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache», soll die Land- und Seegrenzen der EU sichern und unerwünschte Kriegs-, Terror-, Hunger- und «Wirtschafts»flüchtlinge fernhalten oder zurückschicken. Mit derzeit 20 Flugzeugen, 25 Hubschraubern und 100 Booten überwacht Frontex das Mittelmeer, die westafrikanische Küste, internationale Flughäfen (vor allem, um lateinamerikanische Migranten abzuwehren) und die griechisch-bulgarische Grenze zur Türkei.
Jede Realpolitik muss legitimiert, also propagandistisch abgesichert werden. Was Frontex für die Sicherung der realen Außengrenzen leistet, das leistet die «Leitkultur» im Bereich der Massenpsychologie. Sie puscht den (stets prekären) kollektiven Narzissmus durch Nachrüstung der altbewährten Mauern zwischen dem Klub der Alteingesessenen, Zugehörigen, und den Fremden und Zugereisten, die ihm nicht beitreten dürfen. Der damalige Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU (und heutige Manager) Friedrich Merz postulierte im Jahr 2000 – im Zusammenhang mit der Revision des Staatsbürgerschaftsrechts – eine «deutsche Leitkultur» zwecks Abgrenzung von muslimischen Zuwanderern. Jetzt hat der CDU-Innenminister Thomas de Maizière diesen ethnozentrischen Kampfbegriff abermals ins Spiel gebracht. Es geht ihm vor allem darum, im Vorwahlkampf potenzielle Wähler der AfD (und vielleicht auch einige muslimische Wähler) für die CDU/CSU zurückzugewinnen.
Illusionäre Gemeinschaft
«Kultur» ist, folgen wir einem ihrer materialistischen Kritiker, die Gesamtheit der Techniken, Deutungen und Institutionen, die der Verteidigung der Menschen gegen die äußere und ihre eigene Natur – also zur Distanzierung von Natur – dienen. Zu diesem Arsenal gehören Herrschafts- und Trostmittel (wie die Kulturideale, die in Religion und Kunst formuliert und gestaltet werden). Die uns bekannten Kulturen waren – wie die gegenwärtigen – Kulturen des Verzichts, der Ungleichheit und der Exklusion; sie waren (und sind) so repressiv wie provinziell. Als «Kulturideale» werden Verzichtleistungen prämiiert, die privilegierte Minderheiten den von ihnen beherrschten Mehrheiten auferlegen. Der Kult solcher Ideale (oder «Werte») stiftet eine illusionäre Gemeinschaft zwischen Herrschenden und Beherrschten, die zumeist stark genug ist, um den Kampf gegen soziale Ungleichheit hin anzuhalten und die Aggressionen der Mehrheit gegen Nichtzugehörige zu richten: Ketzer im Inneren und feindliche Kollektive jenseits der Grenzen. Eine «Kultur», die diesen Namen verdiente, gibt es noch nicht; sie muss erst noch erkämpft werden. Sie wäre eine, die zur «Leitung» von Menschen nicht taugt, nämlich eine, die «keinen mehr erdrückt».
De Maizières Thesen zu einer deutschen Leitkultur sind ein Hohelied auf den Ethnozentrismus. Die Gemeinschaft der Zugehörigen (oder Staatsbürger), die «Teil des Landes» (?) sind, und ihr «Zusammenhalt» werden beschworen. Sie müssen zusammenhalten gegen diejenigen, die die Leitkultur der Zugehörigen nicht «kennen, vielleicht nicht kennen wollen oder gar ablehnen», die also jenseits der Leitplanke leben und «denen die Integration wohl kaum gelingen» wird. Von der «Leitkultur» (oder dem «Kulturkreis») der Deutschen heißt es zum einen, das sei dasjenige, «was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet», ja sogar das, «was uns im Innersten zusammenhält». Das wäre also der gemeinsame Nenner aller Deutschen oder so etwas wie ihr «Wesen».
Zum andern aber ist die Leitkultur eine (ungeschriebene) «Richtschnur des Zusammenlebens» (also ein Postulat). Wir müssen ihrer bewusst sein und sie vorleben, denn sie ist der Königsweg zur Integration, also, dem Staatsrechtler Rudolf Smend zufolge, zum «einigenden Zusammenschluss». Die Leitkultur setzt sich, wie der Innenminister glaubt, aus verschiedenen, höchst ungleichartigen Komponenten zusammen. Das sind (für ihn) zunächst die gemeinsame Sprache und die (vielfach revidierte) 1949er Verfassung mit dem «Würde»-Artikel und den anderen Grundrechten. Sodann handelt es sich um «hier erprobte und weiterzugebende (soziale) Lebensgewohnheiten», «die Ausdruck einer bestimmten Haltung sind». Diese Haltung offenbart sich in de Maizières forschen Thesen: «Wir sind nicht Burka»; «Wir fordern Leistung» («Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht»)?; «Wir sind Kulturnation» (denn Bach und Goethe «waren Deutsche»); «In unserm Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft…»
Die «tiefsten Tiefen»
Stolz und Stärke sind Prämien, die denen winken, die die Leitkultur «vorleben»: «Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark. Stärke und innere Sicherheit führt zu Toleranz gegenüber anderen.» Dass dem nicht so ist, lehrt aber (unter anderem) die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts, deren «Erben» wir sind. Von dieser Geschichte sagt de Maizière euphemistisch, sie habe im «Ringen um die Deutsche Einheit in Freiheit und Frieden mit unseren Nachbarn…» bestanden, und in Bezug auf diese Geschichte gehe es jetzt um «das Ringen um Freiheit und das Bekenntnis zu den tiefsten Tiefen unserer Geschichte».
Ja, zu den tiefsten Tiefen soll’n die Deutschen sich «bekennen», nicht etwa sie gut kennen und dem Sog solcher Tiefe künftig widerstehen lernen. «All das ist vorbei, vor allem in der jüngeren Generation», blökt der Leithammel. Dies Nicht-Verständnis fortwirkender Geschichte in der Gegenwart erklärt auch de Maizières Vertrauen zu den «erprobten Lebensgewohnheiten» und «Haltungen» der viel zu vielen Deutschen, die Bach und Goethe nur dem Namen nach kennen («Wir sind Kulturnation!») oder jenes Fünftels von ihnen, dessen antisemitisch-xenophobe und autoritäre Attitüden in jeder empirischen Studie seit 1950 nachgewiesen worden sind.
So wenig wie die Gesellschaft ist die Kultur, ihr Spiegel, ein harmonisches Ganzes. Beide präsentieren sich als Bündel von Widersprüchen. Ist die Gesellschaft geprägt vom unaufhörlichen Ringen um Zeit (oder, was dasselbe ist, um das Mehrprodukt), so ist die Kultur die Sphäre, in der diese Wirklichkeit mit aus ihr (und gegen sie) entwickelten Antizipationen eines anderen oder «richtigeren» Lebens konfrontiert wird. Von deutscher Kultur als von einer «Leitkultur» reden kann man nur, wenn man unterschlägt, dass diese Kultur (mit all den «erprobten Lebensgewohnheiten» und einer «bestimmten Haltung») nicht nur Bach und Goethe, sondern eben auch die braune Pest aus sich hervorgebracht hat.
*Der Autor war Mitherausgeber der Zeitschrift Psyche und der Trotzki-Werkausgabe.
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