IGBCE vereinbart 38,5-Stunden-Woche für Ostdeutschland
von J.H.Wassermann
Die IGBCE vereinbart für Ostdeutschland eine Senkung der Wochenarbeitszeit bei weitgehender Flexibilisierung, das sog. «Potsdamer Modell».
Für die chemische Industrie in Ostdeutschland hat die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IGBCE) die tariflichen Wochenarbeitszeiten neu vereinbart. Im Tarifbereich arbeiten rund 30000 Beschäftigte, der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt vermutlich bei 40 und etwas mehr Prozent. In drei Stufen wird jeweils zum Januar 2019, 2021 und 2023 die tarifliche Arbeitszeit um eine halbe Stunde pro Woche von aktuell 40 auf 38,5 bei vollem Lohnausgleich verkürzt.
Die IGBCE hält sich zugute, dass damit hinsichtlich der tariflichen Bestimmungen in der chemischen Industrie die Angleichung von Ost- und Westdeutschland abgeschlossen sei. Im Westen gilt seit 1993 die 37,5-Stunden-Woche. Die «fehlende» Stunde sieht die IGBCE in einem Tarifvertrag «Lebensphasenorientierte Arbeitszeit» aufgehoben, die je Beschäftigten im Betrieb eine Stunde zur Verteilung vorsieht.
Viel Öffnung
Dass in Deutschland eine Arbeitszeitverkürzung in einem Flächentarifvertrag vereinbart wird – und das ohne Kampfmaßnahmen – scheint im derzeitigen politischen Klima überraschend. Die Unternehmerverbände und die übrigen Propagandisten neoliberaler Einschränkung von Arbeitsschutzrechten und des Zurückdrängens von Errungenschaften des Klassenkampfs trommeln seit Jahre mit Erfolg für die Verlängerung der Arbeitszeiten – jedenfalls auf der betrieblichen Ebene und im Alltag von Millionen Beschäftigten. Die Einschätzung der Führung der IGBCE war:
–?Die Unterstützung für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist weder in der Tarifkommission noch in den Betrieben besonders stark. Im Gegenteil, diese Unterstützung musste durch die Hauptamtlichen erst «gesponsert» werden, dass sie streikfähig sein würde, davon konnte nicht ausgegangen werden, ganz abgesehen davon, dass die Führung der IGBCE gar nicht streikwillig ist.
–?Eine Angleichung der Arbeitsbedingungen in Ost und West gelingt entweder jetzt oder auf absehbare Zeit nicht mehr. Diese Angleichung bezieht sich nicht auf die Löhne, die werden bezirklich vereinbart, sondern auf alle anderen tariflich geregelten Umstände, und Arbeitszeit war der letzte dieser Umstände.
Unter den Bedingungen des aktuellen gesellschaftlichen Klimas und bei mangelnder Durchsetzungsfähigkeit konnte so nur ein Kompromiss herauskommen:
–?Die Arbeitszeitverkürzung ist in Kleinstschritten über sechs Jahre gestreckt.
–?Der Tarifvertrag öffnet erhebliche Flexibilisierungsmöglichkeiten. So können jetzt – als tarifliche Arbeitszeit – zwischen 32 und 40 Wochenstunden betrieblich vereinbart werden. Aber auch innerbetrieblich kann dies nochmal nach Abteilungen/Bereichen differenziert werden.
–?Wenn Betriebsräte Arbeitszeiten, die unter der «eigentlich gültigen» Wochenarbeitszeit (39,5, 39 und 38,5 Stunden) liegen, vereinbaren, führt dies zu einer Minderung des Einkommens.
–?Diese Öffnungsmöglichkeiten werden den Betriebsräten zugemutet, auch wenn es bei Nichteinigung im Betrieb eine tarifliche Auffanglösung gibt.
–?Es gibt außerdem eine zusätzlich und gleichzeitig anwendbare individuelle «Wahlarbeitszeit»: Beschäftigte können – im Rahmen einer Betriebsvereinbarung – ihre Arbeitszeit individuell mit dem Unternehmer vereinbaren, sofern sie sich im Rahmen von 32 bis 48 Stunden (!) in der Woche bewegen. Ab der 40.Stunde wären Überstundenzuschläge zu bezahlen.
Wenn überhaupt, wäre auf der positiven Seite zu verbuchen:
–?Ja, es gibt nach Jahren wieder einen Flächentarifvertrag, in dem Arbeitszeitverkürzung vereinbart worden ist.
–?Die vereinbarte tarifliche Arbeitszeit ist immer Vollzeitarbeit und auch bei deutlich unter 35 Stunden nicht Teilzeitarbeit.
–?Arbeitszeiten von 35 Wochenstunden und weniger bieten für die Gestaltung von vollkontinuierlichen Schichtsystemen deutlich mehr Spielraum.