von Jörn Boewe
«Digitalisierung» und «Industrie 4.0» – beide Schlagwörter drängen seit einigen Jahren der politischen Debatte um die Zukunft der Erwerbsarbeit ihren Stempel auf. Ideologie und reale Veränderungen sind dabei nicht immer leicht auseinanderzuhalten.
Fakt ist, dass der Einsatz immer neuer Kommunikations- und Informationsverarbeitungstechnologien den Alltag in den letzten Jahren gravierend umgestaltet hat. Auch die Arbeitswelt: Längst durchdringt die «digitale Revolution» den Alltag von Millionen Beschäftigten.
Zwar ist «Digitalisierung» in der heutigen Bedeutung ein relativ junger Begriff, aber kein neues Phänomen. Der massenhafte Einsatz digitaler Technologie in Produktion, Entwicklung und Verwaltung reicht in den USA und Japan mindestens bis in die 70er, in Europa in die 80er Jahre zurück. Anders als es die mediale Wahrnehmung suggeriert, ist die «digitale Revolution» ein langfristiger Umwälzungsprozess, der sich in aufeinanderfolgenden Innovationsschüben vollzieht.
Das verbreitete Unbehagen breiter Bevölkerungskreise angesichts der aktuellen Digitalisierungswelle wird oft als diffuse Zukunftsangst strukturkonservativer Milieus interpretiert. Vielleicht ist es aber eher ein Echo auf jahrzehntelange kollektive Erfahrungen: Nicht erst seit der Erfindung von Internet, Mobilfunk und «Big Data» ist die real stattfindende Digitalisierung der Arbeitswelt ein gigantisches Rationalisierungsprogramm. Wer ihm ausgesetzt ist, versteht auch ohne Expertenbeistand, dass der Prozess nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfindet, sondern unter kapitalistischen Bedingungen, in denen die Machtressourcen sehr ungleich verteilt sind.
Angriff auf die Höchstarbeitszeit
Es geht um langfristig wirksame gesellschaftspolitische Weichenstellungen. «Der starre Acht-Stunden-Tag passt nicht mehr ins digitale Zeitalter, wir wollen mehr Beweglichkeit», erklärte BDA-Präsident Ingo Kramer im Dezember 2015 – eine Formulierung, die diverse Unternehmerfunktionäre seither einem Mantra gleich herunterbeten.
Tatsächlich geht es überhaupt nicht um einen Angriff auf den Acht-Stunden-Tag, wie der Arbeitszeitexperte Andreas Hoff in einer aktuellen Studie aufzeigt, denn den gibt es längst nicht mehr. Politisches Ziel ist vielmehr, die Zehn-Stunden-Obergrenze zu schleifen. Nach den Vorstellungen der Unternehmer soll künftig nur noch ein wöchentliches Limit von 48 Stunden gelten. Die vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen soll abgeschafft oder mindestens aufgeweicht werden. Das ist umso bemerkenswerter, als schon bei der heutigen Rechtslage tägliche Arbeitszeiten von zwölf, dreizehn Stunden möglich sind und auch praktiziert werden, wie Hoff empirisch belegt.
Sachzwang?
In der Argumentation der Unternehmer erscheinen diese Forderungen als alternativlos, weil sie von einer anonymen technologischen Entwicklung getrieben werden, der man sich nicht verschließen könne und dürfe: Die «digitale Revolution» macht eine weitere Flexibilisierung des Arbeitszeitregimes notwendig.
Schaut man genauer hin, fällt auf, dass die vermeintlichen technischen Sachzwänge nirgends schlüssig begründet, sondern einfach als Selbstverständlichkeit in den Raum gestellt werden.
Nun gibt es tatsächlich technologische oder prozesstechnische Gründe für Abweichungen vom Normalarbeitstag – etwa in Bäckereien oder an Hochöfen. Es ist aber nicht erkennbar, wo der Einsatz von Bürocomputern, Internet, mobilen Endgeräten, RFID-Chips oder 3D-Druckern etwas Vergleichbares erfordern würde. Die Motive zur Flexibilisierung und Verlängerung von Arbeitszeiten im Zuge der Digitalisierung sind gerade nicht technischer, sondern betriebswirtschaftlicher Natur: Damit sich die hohen Investitionen rentieren, sollen teure Maschinen und Anlagen möglichst lange laufen.
Zwar ist Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit ihrem Versuch, das Arbeitszeitgesetz weitgehend aufzuweichen, vorerst gescheitert. Doch der Forderungskatalog des Unternehmerlagers besteht fort – und über die Geschwindigkeit und Form seiner Realisierung wird auch der Ausgang der nächsten Bundestagswahl entscheiden.
Die Gewerkschaften
Die Positionierungen der Gewerkschaften sind bislang ambivalent und zaghaft. Aufweichungen des Arbeitszeitrechts werden zwar zurückgewiesen – zugleich will man aber auch nicht als Fortschrittsverhinderer dastehen. Immerhin hat die IG Metall das Thema Arbeitszeit mit ihrer Kampagne «Mein Leben – meine Zeit» wieder aufgegriffen. Bei Ver.di existiert seit zwei Jahren ein Konzept für eine deutliche Arbeitszeitverkürzung – blieb bislang allerdings in der Schublade.
Eine vielversprechende Strategie ist die Verknüpfung von Arbeitszeit, Arbeitsverdichtung und Personalbemessung. Im Frühjahr 2016 hatten Beschäftigte am Berliner Universitätsklinikum Charité den bundesweit ersten Tarifvertrag zur Personalmindestbesetzung im Gesundheitswesen durchsetzen können. Vorausgegangen war ein jahrelanger Kampf der Charité-Beschäftigten. Bemerkenswert ist auch, dass die Initiative von den gewerkschaftlich organisierten Charité-Beschäftigten ausging und von der Ver.di-Führung lange nicht unterstützt wurde. Am Ende war sie dennoch erfolgreich.
«Arbeitszeit wird im 21.Jahrhundert wohl das Konfliktthema schlechthin», sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles Ende 2016 bei der Vorstellung ihres Weißbuchs «Arbeiten 4.0» in Berlin. Bleibt zu hoffen, dass sie recht behält. Entscheidend wird dabei sein, ob gewerkschaftliche und linke Arbeitszeitforderungen eine Bewegungsdynamik entfalten können oder nur eine Randnotiz zu einer professionell inszenierten Debatte bleiben.
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