50000 demonstrierten in drei Ländern gegen Bröckel-AKW
Gespräch mit Leo Tubbax
Zehntausende haben am 25.Juni mit einer 90 Kilometer langen Menschenkette im Dreiländereck zwischen Deutschland, den Niederlanden und Belgien für die sofortige Abschaltung von zwei belgischen Atommeilern demonstriert. «Wir bedanken uns ganz herzlich bei 50000 Teilnehmenden», erklärte die grenzüberschreitende Initiative Stop Tihange auf Twitter.
Der Protest unter dem Motto «Kettenreaktion Tihange» richtete sich gegen die «Bröckelreaktoren» mit Tausenden von Mikrorissen im Mantel: Tihange 2 bei Lüttich und Doel 3 bei Antwerpen. Ursprünglich sollten die Reaktorblöcke Tihange 1 sowie Doel 1 und 2 schon 2015 stillgelegt werden. Die belgische Atombehörde hatte die Laufzeit jedoch um zehn Jahre verlängert. Unter dem Druck der Massenproteste hat sich auch die neue NRW-Landesregierung der Forderung nach sofortiger Abschaltung dieser Reaktoren angeschlossen,
Unmittelbar vor der Aktion sprach die SoZ mit dem Anti-AKW-Aktivisten Leo Tubbax aus Lüttich.
Warum diese Menschenkette?
Der Zustand der beiden Atomreaktoren ist absolut erschreckend. Die zahlreichen, im heißesten Teil des Reaktormantels besonders häufig vorhandenen Risse haben zu einer leider nur vorübergehenden Abschaltung von Tihange 2 und Doel 3 geführt. Die Materialermüdung des Stahlmantels, der viel zu brüchig geworden ist, ist weniger bekannt, wäre aber ein weiterer ausreichender Grund, die Reaktoren stillzulegen.
Ein Reaktormantel kann weder repariert noch ausgetauscht werden. So viel zu den rationalen Gründen für die Schließung.
Gibt es einen weniger rationalen Grund?
Der zweite Grund ist die außerordentlich breite Mobilisierung im Rheinland, genauer, in der deutschen Grenzregion, die sich von Aachen bis Köln erstreckt. Mit der Hilfe örtlicher Unternehmen sind 175000 (!) Exemplare einer 16seitigen Mobilisierungszeitung in die Briefkästen gesteckt worden.
Beim Derby zweier Fußballvereine von Aachen und Köln trugen die Spieler beider Mannschaften vor 12000 Zuschauern Trikots mit der Aufschrift «Tihange». Sehr regelmäßig gibt es zum Thema Demonstrationen und fantasievolle Aktionen. Unter einer Petition zur Stilllegung der Reaktoren stehen 300000 – vor allem deutsche – Unterschriften. Die deutschen Aktiven haben die Möglichkeit gesehen, jetzt einen Schritt weiterzugehen, daher das ehrgeizige Ziel, mit 60000 Beteiligten eine 90 Kilometer lange Menschenkette zu bilden.
Ist das denn realistisch?
Das hängt vom Standpunkt ab. Bei uns in Belgien fallen die Leute oft aus allen Wolken, wenn wir die Probleme erklären, die mit der Nutzung der Atomkraft verbunden sind, und die Alternativen darlegen. Die notorischen Probleme der Atomreaktoren werden in unseren großen Medien kaum erwähnt, während die Installierung von Windkraftanlagen regelmäßig mit Schlagzeilen auf der Titelseite der Zeitungen abgefeiert wird.
Wir freuen uns natürlich über die fortschreitende Nutzung der Windkraft, aber dieser Fortschritt ist zu wenig entwickelt, kommt zu spät und steht in keinem Verhältnis zu den Gefahren, die von der Atomkraft ausgehen. Wir sind einem ständigen Trommelfeuer der Propaganda für Atomkraft ausgesetzt, die über das Nuklearforum von Engie-Electrabel und von der Regierung ausgeht. Hinzu kommen Stellungnahmen der «ökomodernistischen» Strömung, die die Nutzung der Atomkraft ausbauen will, «um das Klima zu retten».
Kämpft ihr also für eine aussichtslose Sache?
Keineswegs. Alle sind aufgerufen zu kommen, zusammen mit Freundinnen, Familie, Verwandten, Kolleginnen. Nucléaire Stop und unsere LCR/SAP (belgische Sektion der IV.Internationale) setzen alle ihre Mittel ein, um die Aktion zu einem Erfolg zu machen. Die Mobilisierung für die Menschenkette ist jetzt schon ein Erfolg. Zehntausende Flugblätter wurden verteilt, Tausende Diskussionen wurden geführt, und in den sozialen Netzwerken ist die Kampagne sehr präsent.
Sogar wenn die Menschenkette nicht vollständig geschlossen werden kann, wird sie doch in jedem Fall die politische Landschaft rund um die Atomreaktoren verändern.
Glaubst du das wirklich?
Ich bin fest davon überzeugt. Die letzten Tage waren voller guter Überraschungen, die wir bislang nicht genügend für uns nutzen. Das niederländische Parlament ist von der Leine gelassen, weil es im Land derzeit keine Regierung gibt. Eine von D66, der PvdA, Groen-Links und der SP eingebrachte Entschließung für die Stilllegung von Tihange ist mit Mehrheit durchgekommen.
Eine zweite Entschließung verlangt, dass der belgische Innenminister und Vizepremierminister Johan Jambon vor dem niederländischen Parlament erscheint und sich zu den Rissen im Reaktormantel äußert.
Eine dritte Entschließung verlangt, die Investitionen der niederländischen Pensionsfonds aus Engie-Electrabel zurückzuziehen. 90 Gemeinden und Vertretungskörperschaften in Deutschland, in den Niederlanden und Luxemburg klagen wegen Tihange gegen Electrabel, das Nuklearforum und den belgischen Staat.
Auch im belgischen Flandern ist Bewegung in die Sache gekommen: Jan Peumans, Vorsitzender des flämischen Regionalparlaments und Gründungsmitglied der NVA (Neue Flämische Allianz), hat sich für die Stilllegung der Atomkraftwerke von Tihange und Doel ausgesprochen. Die Partei der Arbeit (PTB/PvdA), die bei weitem stärkste linke Partei in Belgien, ist neben Ecolo zur zweiten Anti-Atom-Partei Belgiens geworden. Auch in den Gewerkschaften kommt die Diskussion auf Betrieben der PTB/PvdA-Mitglieder auf einmal in Gang.
Was wird passieren, wenn die Menschenkette vorbei ist?
Ich halte mich bereit, mit Jambon und seinem Herrn Electrabel über die Schließung von Tihange 2 und Doel 3 zu sprechen. Scherz beiseite: Wir haben beim Aufbau einer Anti-AKW-Massenbewegung erhebliche Fortschritte gemacht. Jetzt muss der Erfolg der Menschenkette genutzt werden, um in Belgien eine landesweit beworbene, von allen gemeinsam getragene Demonstration auf die Beine zu stellen, ohne irgendjemanden auszuschließen, ohne Regionalismus und ohne Sektierertum. Plural zusammengesetzte, örtliche Komitees müssen dafür ins Leben gerufen werden.
Danach wird es darum gehen, bei den anstehenden Gemeinderats- und Regionalwahlen mit den beiden Anti-AKW-Parteien zusammen Druck zu machen, denn sie werden danach in zahlreichen Koalitionen präsent sein, gemeinsam oder jede für sich. Ecolo steht nun in der Verantwortung, bei den Koalitionsverhandlungen in Wallonien die sofortige und endgültige Stilllegung von Tihange 2 unzweideutig auf die Tagesordnung zu bringen. Auch wenn die Atomfrage formell nicht Sache der Regionen ist, das Verbot oder Nichtverbot der gefährlichen Transporte atomaren Materials rund um das Kraftwerk ist sehr wohl Sache der wallonischen Region. Der Geschäftsführung von Electrabel wäre ein solches Verbot sehr unangenehm.
Wenn Tihange 2 stillgelegt wird, was wird dann aus den dort Beschäftigten?
Das ist Gegenstand einer durchaus schwierigen Debatte in der Anti-AKW-Bewegung. Ein Teil der Mitglieder der Bewegung versteht die Bedeutung der Gewerkschaften in unserem Land nicht.
Die Mehrheit der Bewegung bezieht aber deutlich Position dafür, dass die Beschäftigten der Atomkraftwerke nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sind. In diesem Zusammenhang ist die Forderung nach Konversion der Produktion sehr wichtig, um der Gewerkschaftsbewegung mit ausgestreckter Hand zu begegnen.
Ebenso wichtig ist die Forderung nach freiem Zugang zur Energieversorgung für alle Haushalte. Es muss Schluss sein mit der zwangsweisen Budgetierung des privaten Stromverbrauchs und der Kappung der Energieversorgung, die 100000 Haushalte betrifft. Wir werden Tihange 2 und Doel 3 nur zusammen mit den Beschäftigten stilllegen können.
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