von Pierre Rousset
Vielen, ob hierzulande oder in Frankreich, gilt er als Linker, zwar ein Reformist und auch nicht unbedingt von der appetitlichen Sorte, aber doch ein Strohhalm. Die Entwicklung, die er in der letzten Zeit durchgemacht hat, legt eher nahe, dass man an seinem Beispiel studieren kann, was linker Populismus ist.
Die Kampagnen von Jean-Luc Mélenchon zu den diesjährigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen waren ganz anders als die vorherigen. Sein Umgang mit den politischen Parteien im allgemeinen und insbesondere mit denen, die in der Front de Gauche (Linksfront) vorher seine Verbündeten gewesen waren, hat sich sehr weitgehend geändert. Mélenchon wollte «das traditionelle politische Personal» ablösen. Dabei gelang es ihm vergessen zu machen, dass er selbst ein ziemlich karikaturhaftes Exemplar dieser Kaste ist.
Sein Werdegang
Als Mitglied der «lambertistischen» Strömung – nicht gerade die demokratischste Strömung, die sich auf den Trotzkismus beruft und in Symbiose mit sozialdemokratischen, freimaurerischen und gewerkschaftlichen Apparaten im Rahmen der Gewerkschaft Force Ouvrière lebt – wurde er 1976 in die Sozialdemokratie (PS) geschickt, in die er sich vollkommen integrierte und wo er Karriere machte. 1983 wurde er Stadtratsmitglied. Seitdem ist er nie etwas anderes gewesen als Berufspolitiker. Er wurde Minister unter Jospin (auch der kam aus der lambertistischen Ecke), danach Senator – in Frankreich werden die Senatoren nicht direkt von der Bevölkerung gewählt, sondern von Wahlmännern; schließlich wurde er auch Abgeordneter im Europaparlament. Erst bei den jüngsten Parlamentswahlen wurde er zum Abgeordneten in die Nationalversammlung gewählt.
Seine politische Hauptreferenz ist François Mitterrand, Frankreichs Staatspräsident von 1981 bis 1995, den er bewundert, es heißt, er habe ein Porträt von ihm über seinem Bett hängen. Wie Mélenchon war auch Mitterrand ein ziemlich isoliertes Individuum, bevor es ihm gelang, die Sozialistische Partei (PS) zu kapern und sich im Rahmen des Bündnisses Union de la Gauche die Französische Kommunistische Partei (PCF) unterzuordnen und sie zu erdrücken; der historische Niedergang der PCF hat damals begonnen, als sie in die Regierung Mitterrand eintrat.
Das zweite Merkmal an ihm ist, dass er um jeden Preis Staatspräsident werden will – ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich das verstanden habe. Auf dieses Ziel ist er zugesteuert, seitdem er mit seiner Strömung, der Gauche Socialiste, die PS 2008 verlassen und die Linkspartei (PG) aufgebaut hat. Es ging Mélenchon dabei aber nicht darum, eine neue linke Kraft aus der Taufe zu heben, sondern immer darum, Staatspräsident zu werden.
Im Verlauf der Jahre sind andere politische Vorbilder hinzugekommen: Hugo Chávez, Rafael Correa, Evo Morales in Lateinamerika, aber auch Pablo Iglesias von Podemos. Sie sagen ihm etwas über die Rolle des Individuums in der Geschichte, lehren ihn aber auch eine neue Art, Wahlen zu gewinnen. Er hat genau studiert, wie sich Obama in seinen Wahlkämpfen der sozialen Medien bedient hat, wie Bernie Sanders damit gegen die Macht der traditionellen Medien anstinken konnte.
Seine Vorstellung von der Eroberung des Amtes des Staatspräsidenten läuft ausschließlich über die Wahlen. Er hat ein Konzept entwickelt, das er «Bürgerrevolution» nennt, es ist eine Revolution an der Wahlurne. Im Laufe der Zeit hebt er immer stärker die Dichotomie zwischen dem Wahlgeschehen auf der einen und den sozialen Kämpfen auf der anderen Seite hervor. Der soziale Kampf ist die Domäne der Gewerkschaften, erklärt er, meine Aufgabe ist der Politikwechsel durch die Wahlen. Diese Dichotomie hat in Frankreich eine lange Tradition, aber er treibt sie auf die Spitze.
Die Kampagne 2012
Mélenchon ist jemand mit großem politischem Gespür. Davon zeugt z.B. der Zeitpunkt, zu dem er die PG gegründet hat. 2008 war die Initiative zur Gründung der NPA ergriffen worden, er muss mitbekommen haben, auf welch großes Echo dies damals stieß, es hat sicherlich seinen Entschluss befeuert, aus der PS auszutreten und sich mit seiner Strömung unabhängig zu machen. Gegründet wurde die NPA aber erst 2009 und er hat darauf geachtet, dass er seine Linkspartei vorher gründen konnte. Diese Parallelentwicklung hat die NPA ziemlich aus dem Gleichgewicht geworfen. Ein anderes Beispiel für sein politisches Gespür ist die Gründung der «Bewegung für eine Sechste Republik». Ich hielt das damals für völlig abseitig, weil es die sozialen Fragen waren, die Sparpolitik etc., die die Leute vorrangig umtrieben. Aber mit der tiefen Krise der V.Republik wurde es offenkundig zu einem aufsteigenden Thema.
2012 trat er zum ersten Mal als Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen an. Damals stützte er seine Kampagne auf zwei Pfeiler: die Linksfront (Front de Gauche) und den erklärten Hauptfeind.
Die Linksfront war ein Bündnis aus der von ihm gegründeten PG, der PCF und der Gruppe Ensemble! (ein Sammelbecken verschiedener linker Organisationen, darunter einer Strömung, die die NPA verlassen hatte). Mélenchon hat die Linksfront dominiert, weil er ihr fähigster Präsidentschaftskandidat war, die PCF hatte damals keine vorzeigbaren Kandidaten. Dieser erste Pfeiler hatte die Funktion, das Gros der Organisationen der radikalen Linken aufzusaugen und von der NPA zu isolieren.
Der zweite Pfeiler ist der erklärte Hauptfeind. Mélenchon baut seine Projekte immer gegen jemanden auf, der erklärte Hauptfeind war damals mehrere Jahre lang die Front National (FN). Durch den Kampf gegen die FN wollte er bei den Präsidentschaftswahlen 2012 Zweiter werden, mindestens aber Dritter. Er dachte, wenn er in die zweite Runde mit Marine Le Pen kommt, wird er siegreich daraus hervorgehen. Er hat deshalb den persönlichen Schlagabtausch mit ihr gesucht, hat sich bei den Parlamentswahlen 2012 sogar in ihrer Hochburg, Hénin-Beaumont, aufstellen lassen.
Er hat alle Duelle gegen Le Pen verloren. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 bekam er 11,2 Prozent der Stimmen, das war das Potenzial, das die «radikale Linke» (links von der PS) aufzubieten hatte, aber es war ihm zu wenig. Er wurde nur Vierter hinter Marine Le Pen. Außerdem war seine Partei (die PG), ebenso wie die PCF, gespalten über die Frage, ob man Wahlbündnisse mit der PS eingehen sollte – die PCF trifft traditionell Wahlabkommen mit der PS, um trotz des Mehrheitswahlrechts einige Abgeordnetensitze in der Nationalversammlung zu ergattern. Die PG hatte, obwohl sie aus der PS kam, damals nur wenige Abgeordnete, viel weniger als die PCF.
Die Kampagne 2017
2012 hat Mélenchon sein Ziel nicht erreicht. Er ändert nun seine Strategie und beschließt, sich von allen Zwängen gegenüber anderen Parteien zu befreien, einschließlich der Linksfront und seiner eigenen Partei. Auf «bonapartistische Art» setzt er seine Präsidentschaftskandidatur ohne jede Absprache oder Verhandlungen mit anderen durch, indem er 2016 dafür seine eigene Wahlbewegung, La France Insoumise (FI – Unbeugsames Frankreich), gründet. Auf diesem Weg geht Mélenchon sehr weit. Sein Thema ist nun nicht mehr die Zusammenführung linker Kräfte, sondern ihre Ersetzung.
Jetzt tritt er als Anti-Parteien-Kandidat auf. «Putzt sie alle weg», ist seine Parole. Sein Hauptgegner wird nun die PS, und insbesondere ihr linker Flügel (die «Frondeure»). In Marseille kandidiert er bei den Parlamentswahlen gegen den PS-Linken Mennucci an – der sich als Gegner der Reform des Arbeitsgesetzes hervorgetan hatte – und gewinnt. Seine Bewegung tritt dabei flächendeckend mit Kandidaten an – auch gegen die PCF, mit der er zuvor noch im Linksbündnis war.*
Sein Wirtschaftsprogramm ändert sich nicht groß, es ist keynesianisch. Was sich aber nach und nach ändert, sind der Diskurs, die Art zu kommunizieren und die benutzten Symbole. Nun nutzt auch er die Tatsache, dass Gedrucktes immer weniger gelesen wird, und sattelt um auf die sozialen Medien. Er inszeniert seine eigene Person bis ins letzte Detail, bedient sich aufwendiger und teurer Werbegags und arbeitet intensiv mit Meinungsmachern. Mehr denn je ist er ein Politprofi.
Als seine Kampagne in Gefahr gerät, durch die Kandidatur von Benoît Hamon von links unter Beschuss zu geraten, verschärft er den populistischen Charakter seiner Kampagne noch. Er tritt nun als Staatsmann auf. Ein hervorragend gemachter Werbeclip zeigt, wie Frankreich ein Jahr nach seiner Wahl aussehen wird, und inszeniert ihn als den neuen Präsidenten. Er spricht darin die Sprache des Staates. Die Sprache der Linken, ihre Bezugspunkte, ihre Symbole verschwinden dahinter.
Mélenchon baut La France Insoumise auf, indem er systematisch mit dem Bezug auf die Klassenidentität und die historischen Symbole der Arbeiterklasse bricht. Obgleich er sich zum Vorreiter einer VI.Republik ernennt, steht er mit beiden Beinen in der Tradition der V.Republik, in der eine Präsidentschaftswahl die Begegnung eines Mannes mit dem französischen Volk ist. Er macht sich die Anti-Parteien-Welle zunutze, auf der auch schon Emmanuel Macron schwimmt. Sein öffentliches Profil, sein Medienauftritt sind wichtiger als sein Programm.
Aber auch diesmal reicht es nicht. Im 1.Wahlgang der Präsidentschaftswahlen holt er sensationelle 19,6 Prozent, bleibt damit aber immer noch Vierter, was ihn am Boden zerstört. Nachdem er sich erholt hat von dem, was er als eine Niederlage empfindet (gemessen an seinem Ziel, diesmal das Präsidentenamt zu schaffen), ruft er dazu auf, bei den Parlamentswahlen FI eine Mehrheit zu verschaffen – damit würde er Ministerpräsident werden und Macron eine konfliktreiche Kohabitation aufzwingen. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen fällt mit 11 Prozent ernüchternd aus, aber in seinem Wahlkreis in Marseille setzt er sich durch und wird nun erstmals Abgeordneter der Nationalversammlung – was ihn wiederum in Hochstimmung versetzt.
Mélenchon zieht mit 17 FI-Abgeordneten in Fraktionsstärke ins Parlament ein, die PCF mit 10 Abgeordneten, die FN kommt auf 8 Sitze. Die PCF wird vielleicht mithilfe von Mandaten aus den Überseegebieten ebenfalls das Minimum von 15 Abgeordneten zusammenbringen, um unabhängig von FI eine Fraktion bilden zu können.
Die neue Parlamentsfraktion der FI positioniert sich klar links. Ihr Hauptthema ist dasselbe wie das der PCF, nämlich die Verteidigung eines Arbeitsgesetzes, das die abhängig Beschäftigten schützt. Mélenchon wird sein Profil einmal mehr neu erfinden, aber es ist noch zu früh zu sagen, was aus FI wird, die ohnehin nur zu Wahlkampfzwecken ins Leben gerufen wurde. Interessant sind aber die Konstanten in der politischen Orientierung Mélenchons und die Folgen seines «populistischen Momentums» 2017.
* Die PCF trat bei den Parlamentswahlen mit 536 Kandidaten an, Lutte Ouvrière mit 553 Kandidaten.
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