Zu SoZ, Nov. 2017, Katalonien
von Matthias Schindler
Es gibt aus linker Perspektive keinen Zweifel daran, dass die Repression der Regierung Rajoy gegen die katalanischen Bewegungen für mehr Autonomie bis hin zur staatlichen Unabhängigkeit energisch zurückgewiesen werden muss. Ebenso muss das Recht auf Selbstbestimmung für die Katalan/innen, wie auch für jede andere Volksgruppe, ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Bedeutet dies aber auch, dass es richtig ist, die Abtrennung Kataloniens von Spanien und die Gründung eines neuen katalanischen Staates zu unterstützen? Daran habe ich erhebliche Zweifel, die ich hier umreißen will:
Dieser Unterschied wird laut Vicenç Navarro* auch an der Mobilisierung in Katalonien selbst deutlich: Dort ist eine Bewegung entstanden, „die von einem breit gefächerten Bündnis von Parteien und Bewegungen (Gewerkschaften, Unternehmer, Nachbarschaftsvereinigungen, Berufsverbänden u.a.m.) geführt wird. Befürworter und Nicht-Befürworter der Unabhängigkeit mobilisieren die Bevölkerung zur Verteidigung der Freiheiten und Rechte [… Kataloniens …]. Beim Generalstreik vom 3. Oktober […] wurde ganz Katalonien lahmgelegt, um gegen die Brutalität der [zentralen] staatlichen Polizei zu protestieren. Dieser Streik hätte so nicht durchgeführt werden können, wenn er nicht von der großen Mehrheit der Katalanen, die nicht für die staatliche Abtrennung ist, unterstützt worden wäre. Dieser Streik wurde von der Demokratischen Tafel [Mesa Democrática] organisiert, die nicht von den Separatisten angeführt wird, sondern von einer demokratischen Bewegung, die wesentlich breiter ist.“
Bisher haben die Katalan/innen weder mehrheitlich für die staatliche Unabhängigkeit noch für die separatistischen Parteien gestimmt. Bei den letzten Parlamentswahlen 2015 erhielten diese Parteien zusammen 47,7% der Wählerstimmen und errangen damit – durch das Wahlsystem bedingt – 72 von insgesamt 135 Parlamentssitzen. Mit dieser Mehrheit stimmten sie am 10. Oktober für die einseitig erklärte Unabhängigkeit Kataloniens. Am Referendum vom 1. Oktober über die Unabhängigkeit Kataloniens beteiligten sich 42,5% der Wahlberechtigten, von denen 90,1% (2.020.144 Wähler/innen) dafür stimmten.
Laut einer aktuellen Umfrage weisen 66% der Katalan/innen die Intervention Madrids gegen die katalanische Regierung zurück, aber gleichzeitig sprechen sich 69% für Neuwahlen aus. 60% halten das Referendum für keine ausreichende Grundlage, um einseitig die Unabhängigkeit zu erklären, und 55% meinen, dass das Referendum das Parlament nicht zu einer solchen einseitigen Erklärung legitimiert (El Periódico, 21.10.2017).
Das Recht auf Selbstbestimmung ist also nicht das Gleiche, wie die staatliche Unabhängigkeit. Beides wird auch von der Bevölkerung unterschiedlich wahrgenommen, das Erste wird von einer großen Mehrheit in Katalonien getragen, während das Zweite nicht.
Bevor ich näher auf diese Punkte eingehe, möchte ich jedoch betonen, dass die SoZ mit all ihrer Kritik an der Konstruktion des spanischen Staates, an der Verfassung von 1978, an der Dreieinigkeit König-Militär-katholische Kirche, am spanischen Nationalismus … völlig richtig liegt. Der durch und durch reaktionäre Charakter der diktatorischen Maßnahmen Rajoys steht außer Frage. Die Unterstützung dieser Politik durch die PSOE ist abstoßend und skandalös. Und auch das jahrelange Bemühen der katalanischen Regierungen, ihre Autonomierechte durch Verhandlungen zu stärken, im Kontrast zur totalen Unnachgiebigkeit Madrids gegenüber den kleinsten demokratischen Öffnungen und Begrenzungen der spanischen Zentralmacht sind richtig dargestellt.
Daraus folgt aber keineswegs automatisch die Notwendigkeit, heute einen neuen katalanischen Staat zu gründen. Den Katalan/innen bleibt keineswegs „nur noch die Mobilisierung für einen Weg in die Unabhängigkeit“, weil ihnen „sonst jeder Weg versperrt ist“ (A. Klein) oder weil anders „kein Druck [mehr] auf die Madrider Regierung“ aufgebaut werden kann (J. M. Antentas). Sie könnten nämlich durchaus auch weiterhin auf politische Maßnahmen orientieren, indem sie beispielsweise ihre Unterstützungsbasis innerhalb Kataloniens verbreitern und neue Bündnispartner im restlichen Spanien für sich gewinnen. Dies könnte ihnen wahrscheinlich noch besser gelingen, wenn sie ihre Maximalforderung – die Bildung eines eigenen Staates – zurückstellen und sich stattdessen für vielfältige Autonomierechte einsetzen würden, die auch für die anderen Nationalitäten und Regionen Spaniens attraktiv sind. Je breiter die Unterstützung für die demokratischen Rechte der Katalan/innen innerhalb wie außerhalb Kataloniens wird, desto stärker verliert die diktatorische Politik Madrids an Legitimität und Durchsetzungskraft.
Auch der Hinweis auf einige fortschrittliche Gesetze, die unter der inzwischen abgesetzten katalanischen Regierung beschlossen wurden, ist kein schlüssiges Argument für eine staatliche Unabhängigkeit. Ganz im Gegenteil: Die einseitige Unabhängigkeitserklärung hatte die absehbare Folge, dass das reaktionäre Zentrum um Rajoy und seine PP (Volkspartei) den Paragraphen 155 der Verfassung in bisher ungekannter Weise exzessiv zur Anwendung bringt, damit jede katalanische Entscheidung außer Kraft setzen kann und dies vielfach auch schon getan hat. Als Folge der einseitigen Erklärung hat sich die soziale Lage in Katalonien verschlechtert und wurde die politische Position Kataloniens gegenüber Madrid geschwächt.
Weiterhin ist die Aussage, dass die katalanische Bewegung „von linken Kräften angeführt“ wird, einfach absurd. Der inzwischen abgesetzte katalanische Präsident Puigdemont ist der Vorsitzende der traditionellen bürgerlichen katalanischen Mehrheitspartei PDeCAT (Katalanische Europäische Demokratische Partei), die zusammen mit ihrer Vorläuferpartei CDC (Demokratischer Pakt Kataloniens) seit dem Ende der Franco-Diktatur insgesamt 30 Jahre lang an der Regierung war und die Geschicke Kataloniens bestimmt hat. Diese Partei hat – zusammen mit der PP Rajoys – alle wichtigen Gesetze des neoliberalen Umbaus Spaniens (einschließlich Kataloniens) beschlossen und umgesetzt. Diese Maßnahmen haben wiederum zu einer massiven sozialen Krise in Spanien (einschließlich Kataloniens) geführt.
Als eine Folge dieser Politik herrscht in Spanien heute eine Arbeitslosigkeit von 18 Prozent, eine der höchsten Raten in ganz Europa. 30% der Bevölkerung sind von Armut bedroht. Diese Situationen sind in Katalonien nicht viel besser. 1,7 Millionen hauptsächlich junge Spanier/innen haben das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen. Inzwischen hat sogar der IWF festgestellt, dass der harte neoliberale Kurs in Spanien wirtschaftlich kontraproduktiv ist. Die Ökonomen der beiden katalanischen Regierungsparteien PDeCAT und ERC halten dennoch – wie auch die PP und die PSOE im restlichen Spanien – an den Maximen der neoliberalen Orthodoxie fest. Auf zwei kompletten Seiten der SoZ werden diese wirtschaftlich-soziale Krise Spaniens und die Verantwortung Puigdemonts und seiner Partei für diese Situation in Katalonien nahezu überhaupt nicht erwähnt.**
Auch die Tatsache, dass „ein riesiges Netz von zivilgesellschaftlichen Organisationen“ entstanden ist, die „bereit und in der Lage sind, staatliche Funktionen wahrzunehmen“, kann keinesfalls als Argument für die Gründung eines neuen Staates in Anspruch genommen werden, denn viele dieser Organismen unterstützen zwar das Recht auf Selbstbestimmung, teilen aber nicht die Orientierung auf eine staatliche Abspaltung Kataloniens.
Was es jedoch gibt, ist eine Kritik am neoliberalen Gesellschaftsmodell, das von deren beiden Hauptprotagonisten – der PP in Madrid und der CDC/PDeCAT in Katalonien – durchgesetzt wurde und auch weiterhin von ihnen vertreten wird. Was es weiterhin gibt, ist eine Kritik an den zum Himmel schreienden Korruptionsfällen in diesen beiden Parteien, die beide gegenwärtig staatsanwaltlich untersucht und gleichzeitig in den öffentlichen Medien völlig ignoriert werden. Und es gibt auch die Kritik, dass der Kampf um soziale Verbesserungen in Spanien (einschließlich Katalonien) vom Kampf um Fahne, Sprache und Nation in den Hintergrund gedrängt wird. Diese durch und durch berechtigten Kritiken als „traditionalistisch“ (J. M. Antentas) abzutun, scheint ein ziemlich durchsichtiger Versuch zu sein, den Kampf um einen eigenen katalanischen Staat nicht durch kritische, linke, sozialistische oder auch nur demokratische Nachfragen stören zu lassen. Es kann durchaus bezweifelt werden, dass eine solche Position noch mit dem Marxschen Postulat zu vereinbaren ist, dass die Kommunisten „in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben“ (Kommunistisches Manifest).
Seit Beginn der Entwicklung des spanischen Kapitalismus und Staates war Katalonien immer das Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung. Aber hat Katalonien seinen relativen Reichtum nicht auch seinem Handel mit dem restlichen Spanien zu verdanken? Sind es nicht ungleiche, und damit auch ungerechte, Handelsbeziehungen, die die Regionen mit höherer Produktivität gegenüber wirtschaftlich weniger entwickelten Zonen strukturell bevorzugen? Wenn aktuell vom katalanischen Nationalismus gefordert wird, selbst über den in Katalonien erwirtschafteten Reichtum zu bestimmen, dann gibt es zwei große Fragezeichen:
Erstens stellt sich die Frage, ob es überhaupt stimmt, dass Katalonien durch seine Zugehörigkeit zum spanischen Staat ökonomisch tatsächlich benachteiligt wird. Ich bezweifle dies und glaube, dass Katalonien unterm Strich von Spanien profitiert und dass es durch eine staatliche Abtrennung massiv verlieren würde. Das Paradebeispiel hierfür ist der Brexit Großbritanniens, wo eine nationalistische Propaganda den wirtschaftlichen Sachverstand grandios geschlagen hat. Großbritannien hat wahrscheinlich wirtschaftlich wesentlich mehr von der EU profitiert, als es durch seine Beitragszahlungen verloren hat.
Zweitens muss gefragt werden, inwieweit eine linke, solidarische, internationalistische Position eine politische Orientierung unterstützen kann, bei der eine reiche Region dafür streitet, ihre wirtschaftlichen Ressourcen für sich zu behalten und nicht mit den ärmeren Regionen des Landes zu teilen. Eine solche Orientierung führt zwangsläufig dazu, dass die unteren Klassen Kataloniens gegen diejenigen des restlichen Spaniens mobilisiert werden, anstatt die Solidarität der Arbeitenden gegen das Kapital und die Banken zu fördern. Konkret könnte dies beispielsweise heißen: in Spanien und in Katalonien die staatlichen Schulden in Frage zu stellen, die zum großen Teil eine Folge der Rettung privater Banken durch öffentliche Gelder sind, und die Bezahlung der Schulden gegenüber internationalen Finanzinstitutionen und Banken zu stoppen und die dadurch frei werdenden Gelder für öffentliche Investitionen und soziale Projekte zu nutzen.
Wenn das aber so ist, welchen Sinn macht es dann, auf eine einseitig erklärte Unabhängigkeit zu orientieren? Das aktuelle Ergebnis der Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlamentes ist, dass die katalanische Regierung abgesetzt ist, dass eine Hälfte von ihr im Knast sitzt und die andere Hälfte sich außer Landes befindet, dass die Regierung Rajoys jetzt direkt die Regierungsgeschäfte in Katalonien übernommen hat und dass das öffentliche Propagieren rassistisch-nationalistischer Parolen dadurch enorm gestärkt wurde.
Da helfen auch keine Wortspiele weiter, wie etwa „Wenn kein demokratischer Weg in die Unabhängigkeit führt, dann führt der Weg zur Demokratie über die Unabhängigkeit“ (J. P. Antentas). Und auch taktische Spitzfindigkeiten, wie „für die Unabhängigkeit zu stimmen, um den Weg frei zu machen für eine föderale Lösung“ (J. P. Antentas), sind kein Ersatz für eine in sich schlüssige linke Politik.
Nun wird vom katalanischen Separatismus behauptet, dass ein politischer Wandel im restlichen Spanien nicht absehbar – somit noch weniger realistisch als eine einseitig ausgerufene Republik – sei, und es deswegen keinen Sinn hätte, auf einen solchen Wandel zu setzen. Dazu muss jedoch angemerkt werden, dass mit Podemos in den letzten Jahren eine neue politische Kraft entstanden ist, die sich eindeutig für einen geregelten Abstimmungsprozess über die staatliche Unabhängigkeit in Katalonien einsetzt. Darüber hinaus hat es auch an der Basis der PSOE wichtige politische Entwicklungen gegeben. Bei den Wahlen zum Parteivorsitz konnte sich Pedro Sánchez vor allem durch zwei Zielvorstellungen gegen seine Mitbewerber durchsetzen: für ein multinationales Spanien und für ein Bündnis mit Podemos zum Sturz von Rajoy. Die aktuelle schamlose Unterordnung Sánchez‘ unter die diktatorischen Maßnahmen Rajoys wird für neue Turbulenzen in der PSOE sorgen, an denen die katalanischen Bewegungen anknüpfen könnten und sollten. Wer Politik mitgestalten will, muss auch an die Veränderbarkeit der Menschen und ihres Bewusstseins glauben. Wer daran zweifelt, dass er Andersdenkende von seinen politischen Zielen überzeugen kann, der sollte seine Zielvorstellungen gründlich überprüfen. Fortschrittliche, emanzipative, sozialistische Ziele können niemals durch besonders ausgeklügelte Tricks verwirklicht werden, sondern allein durch die Überzeugung von Mehrheiten. Und dies kann häufig länger dauern und komplizierter sein, als man es sich anfangs erhofft hatte.
Wiederum nur zwei Seiten davor schreibt Catherine Samary in derselben SoZ-Ausgabe mit Bezug auf den Neoliberalismus unmissverständlich und kategorisch: „Der Kapitalismus hat sich erneut globalisiert, in einem bislang unerreichten Ausmaß, was die Vorstellung von einem ‚Sozialismus in einem Land‘ undenkbarer macht denn je“. Aber in einem neuen europäischen Kleinstaat Katalonien soll der Kapitalismus auf einmal doch noch funktionieren? Was die Kapitalisten von dieser Idee halten, zeigen sie in diesen Tagen so deutlich, wie es deutlicher nicht geht: Sie ziehen ihr Kapital zu Tausenden aus Katalonien ab. Dies mögen viele Katalan/innen in der augenblicklichen Euphorie ihrer Sprache und ihrer Fahne nicht erkennen. Aber die Linke sollte sich dadurch nicht dazu verleiten lassen, ebenfalls die Augen vor diesen Tatsachen zu verschließen.
— Die Katalan/innen haben das volle Recht, über ihre eigenen Geschicke zu bestimmen, und dies schließt ihr Recht zur staatlichen Abspaltung ausdrücklich mit ein.
— Die undemokratische und gewalttätige Politik der Regierung Rajoy gegenüber Katalonien ist mit allem Nachdruck zurückzuweisen und erfordert eine breite internationale Solidarität mit Katalonien.
— Es muss ein Weg vereinbart werden, der es den Katalan/innen erlaubt, über ihre Unabhängigkeit und auch andere Fragen ihres Gemeinwesens frei und demokratisch abzustimmen.
— Die Orientierung auf die Bildung eines neuen unabhängigen katalanischen Staates ist abzulehnen; stattdessen muss eine massive Vertiefung der Autonomierechte Kataloniens und auch anderer Nationen und Regionen im spanischen Staat angestrebt werden.
— Dazu ist es unerlässlich, innerhalb Kataloniens weiter an einer Verbreiterung der Basis im Kampf für mehr demokratische, kulturelle und nationale Rechte zu arbeiten.
— Dabei ist es weiterhin wichtig, auch die nicht-katalanischen Sprachen und Kulturen, die es in Katalonien gibt, zu schützen und zu fördern.
— Schließlich muss die katalanische Bewegung Bündnispartner in anderen Teilen Spaniens für ihre Belange, insbesondere für das Konzept eines multi-nationalen Spaniens, gewinnen.
— Dafür muss die Linke sich in ganz Spanien (einschließlich Kataloniens) gemeinsam für ein Ende des neoliberalen Kahlschlags einsetzen; sie muss Korruption überall bekämpfen, wo sie auftritt; sie muss sich wieder auf ihre republikanischen Wurzeln besinnen; und sie muss die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse höher stellen als die nationalen Unterschiedlichkeiten.
* Vicenç Navarro ist ein katalanischer Politologe und Professor an der Universität Pompeu Fabra. Er veröffentlicht seine kritischen Kommentare regelmäßig in www.publico.es und auf seiner Homepage www.vnavarro.org. Ein großer Teil der in diesem Text verarbeiteten Informationen basieren auf seinen Artikeln.
** Klingelt es noch bei irgendjemandem, wenn man das Stichwort „Klapola“ erwähnt?