von J.H.Wassermann
In politisch wie sozialpolitisch für Gewerkschaften schweren Zeiten verharrt die IG BCE weitgehend in Schockstarre.
Vom 8. bis 13.Oktober haben 400 Delegierte der IG Chemie, Bergbau und Energie (IG BCE) in Hannover ihre Führung wiedergewählt, knapp 400 Anträge abgestimmt und politischen A- und B-Promis gelauscht. Traditionell wird nach den üblichen Tagesordnungspunkten Rechenschaftsbericht und Entlastung erstmal gewählt. Am Folgetag können die Delegierten dann in der Zeitung lesen, was der neue/alte Vorsitzende zur künftigen Kursbestimmung vorab der Öffentlichkeit vermittelt hat. Erst danach folgt eine Aussprache in Form der Beratung der Anträge, die die Bezirks- und Landesbezirksdelegiertenkonferenzen durchgereicht haben.
Die Zahl der überwiegend von Vertrauensleutekörpern und Ortsgruppen eingereichten Anträge ist im Laufe des 20jährigen Bestehens der IG BCE stetig gestiegen. Um die Antragsflut zu kanalisieren, gibt es zu den Sachgebieten (Tarifpolitik, Organisationspolitik, Industrie- und Energiepolitik usw.) jeweils einen Leitantrag des Hauptvorstands. Ist der einmal angenommen, werden alle anderen Anträge in unterschiedlicher Abstufung als «Material angenommen», als «Material weitergeleitet», «als Material an die Tarifkommissionen weitergeleitet» usw. usf.
Antragsteller, die meinen, ihr Anliegen würde damit nicht ausreichend berücksichtigt oder ihr «politischer Punkt» fände sich im entsprechenden Leitantrag nicht wieder oder ihr Antrag sollte ausdrücklich als Antrag abgestimmt werden, müssen sich gegen die Empfehlung der Antragskommission aussprechen und versuchen, eine Abstimmung über ihren Antrag «zu erzwingen».
Solche Anträge oder hieraus sich ergebende Diskussionen gab es auf dem Gewerkschaftstag nicht. In allergrößter Geschlossenheit wurde alles wie empfohlen durchgewunken. Es gab keine kontroversen Anträge, also auch keine Diskussionen. Bei allen zu besetzenden Wahlpositionen gab es auch keine Gegenkandidaten. Die einzige «Kampfabstimmung» gab es zur Frage, ob man als IG BCE für die Abschaffung der Sommerzeit sein solle.
Friede, Freude, Eierkuchen?
In den Organisationsbereichen der IG BCE (Chemie, Bergbau, Energie, Kautschuk, Keramik, Leder, Glas, Papier, Mineralöl…) ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Betriebsräte und der Vorsitzenden so hoch wie nirgendwo sonst in Deutschland. Und in den Kernbereichen ist auch die Tarifbindung höher als in anderen Industriebranchen.
Diese Umstände tragen dazu bei, dass es in der IG BCE kein verbreitetes Problembewusstsein über die allgemeine Lage der abhängig Beschäftigten in diesem Land gibt. Dass in Deutschland mittlerweile von über 30 Millionen Lohnabhängigen ungefähr 10 Millionen in einem weiteren Sinn «prekär» beschäftigt sind (Leiharbeit, Teilzeit, befristet, Niedriglohnsektor), spielt für die meisten Funktionäre dieser Gewerkschaft kaum eine Rolle. Eine Reihe von Anträgen forderte zwar mehr oder weniger kosmetische Verbesserungen im Bereich der Leiharbeit, doch grundsätzlich in Frage stellen möchte diese kaum jemand. Bei der Teilzeitarbeit wird ein gesetzlich verbriefter Anspruch auf Rückkehr in Vollzeit gefordert.
Die IG BCE hat rund 650000 Mitglieder, davon sind etwa 60 Prozent betriebstätig. Basisorganisationen sind rund 900 Vertrauensleutekörper und 1100 Ortsgruppen. Worauf werden die nun orientiert?
In der Rentenpolitik soll ein weiteres Absinken des Rentenniveaus verhindert werden, die DGB-Kampagne wird unterstützt, jedenfalls auf dem Papier. Dass die gesetzliche Rentenversicherung durch die sog. «Riester-Reform» als Teil der Agenda 2010 geschwächt worden ist – dieses Problem wurde nicht aufgeworfen, im Gegenteil. Die Tarifpolitik der IG BCE hat diesen Tatbestand in den letzten Jahren politisch flankiert, indem sie Tarifverträge zur «Demografie» abgeschlossen hat, die Geld für den Aufbau einer betrieblicher Altersvorsorge, vor allem als private Altersvorsorge, vorsehen.
Im Kerngeschäft Tarifpolitik ist eine Flexibilisierung hinsichtlich der Arbeitszeit zu erwarten. Der Manteltarifvertrag zur Arbeitszeit in der chemischen Industrie Ostdeutschland, das sog. «Potsdamer Modell» (siehe dazu SoZ 7-8/2017) könnte vielleicht nach Westdeutschland übertragen werden. Begründet wird dies mit den sich aus «Industrie 4.0» bzw. der Digitalisierung ergebenden «veränderten Anforderungen an die Arbeitswelt» und mit dem Wunsch von angeblich vielen Beschäftigten nach individuellen Flexibilisierungsmöglichkeiten – Stichwort: «lebensphasenorientierte Arbeitszeit».
Hier hat es in der Tarifrunde 2015 im Bereich der chemischen Industrie intern durchaus geknirscht, das blieb auf dem Gewerkschaftstag jedoch unerwähnt und undiskutiert. Im Kernbetrieb bei der BASF in Ludwigshafen soll es 200–300 Austritte vor allem von Vertrauensleuten gegeben haben, die mit der Höhe des Abschlusses unzufrieden waren.
Ehrenamtliche wie hauptamtliche Tarifkommissionsmitglieder aus allen Teilen der Republik mussten 2015 aus der Zeitung erfahren, dass das Schlichtungsabkommen in der chemischen Industrie einfach mal nebenbei verlängert worden war. Es verlängert die Friedenspflicht – also auch den Ausschluss von Warnstreiks – über das Vertragsende des gekündigten Tarifvertrags und über das Scheitern der Tarifverhandlungen hinaus bis zum endgültigen Scheitern auch der Schlichtung. Pikant war das deshalb, weil der zentrale Apparat vorher ausdrücklich darauf orientiert hatte, das Abkommen diesmal nicht mehr zu verlängern, um den Arbeitgebern zu signalisieren, dass man auch anders könne.
Kohle noch ein bisschen länger
Gesellschaftspolitisch will die IG BCE einen fairen Welthandel und gerechtere Handelsabkommen, die Reichen sollten höhere Steuern bezahlen, Deutschland braucht mehr und bessere Bildung. Das bewegt sich alles zwischen «besserer Welt» und programmatischem Sozialdemokratismus und fasst sich unter dem Schlagwort «soziale Gesellschaft» zusammen. Ihre Branchen (Kautschuk, Glasartikel, pharmazeutische Produkte, Düngemittel, Keramik usw.) sollen geschützt werden, damit das jeweilige Unternehmen unter «fairen» Wettbewerbsbedingungen produzieren kann. Das Klima soll geschützt werden, die Energiewende sozial ausgewogen sein, dazu braucht es den Braunkohlestrom noch ein bisschen länger, als die meisten anderen sich das vorstellen.
Ob all dies zu irgendeiner gewerkschaftlichen Aktivität der Mitglieder führen wird, darf bezweifelt werden. Gegebenenfalls werden die Mitglieder – wie in der Vergangenheit mit Billigung und Unterstützung der jeweiligen Konzerne – mal zu einer Demonstration nach Berlin oder in eine Landeshauptstadt gekarrt.
Ansonsten ist die Beschlusslage zu den gesellschaftspolitischen Themen nur Rechtfertigung für intensives Klinkenputzen in den Vorzimmern der Ministerien und für folgenloses Gerede auf «Sozialpartnerschaftsveranstaltungen» mit den jeweiligen Unternehmensvertretern.
Bleiben zwei wichtige Fragen:
Wie steht die IG BCE zur SPD?…
Minutenlange, stehende Ovationen beim Ein- und Auszug führender SPDler gehören der Vergangenheit an. Der Beifall war diesmal warmherzig und aus Respekt auch häufig mit Aufstehen verbunden. Die Führung beschwört die historische besondere Beziehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung zur SPD. Und trotzdem, der Funke will nicht recht überspringen, Nahles und Schulz können die Herzen der ehrenamtlichen Funktionäre nicht erreichen, obgleich diese ihre Herzen weit geöffnet haben und geradezu darauf warten, dass sich jemand als Hoffnungsträger anbietet.
… und wie zur AfD?
Erfreulich klar ist die Positionierung zu den Geflüchteten. Sie sollen integriert werden, indem sie in Ausbildung und Arbeit kommen. Das soll auch tariflich (bei der Ausbildung) und durch sozialpartnerschaftliche Initiativen gestützt werden.
An der Tür der IG BCE prangt jetzt ein großes Schild: Ihr müsst draußen bleiben, wir haben keinen Platz für euch! Schon bisher hieß es in der Satzung unter «Schieds- und Ausschlussverfahren»: «Gegen ein Mitglied kann ein Schiedsverfahren eingeleitet werden, wenn es … antidemokratische oder antigewerkschaftliche Bestrebungen von Parteien, Vereinigungen oder Gruppierungen durch Mitgliedschaft, in Wort oder Schrift, bzw. durch aktive Mitwirkung unterstützt.»
Nach dem neuen, veränderten Wortlaut der Satzung ist nun die Mitgliedschaft in der IG BCE nicht vereinbar mit einer Mitgliedschaft «in Parteien, Vereinigungen und Organisationen, die für verfassungsfeindlich erklärt wurden, wie z.B. die NPD. Gleiches gilt bei Unterstützung oder Mitgliedschaft in Parteien, Vereinigungen und Organisationen, die den in §3 genannten Grundsätzen, Werten und Zielen der IG BCE entgegenstehen.» In §3 steht: «Die IG BCE orientiert ihr Handeln am solidarischen und respektvollen Miteinander, an sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Gleichberechtigung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Qualifikation, Herkunft, Religion und Weltanschauung sowie politischer oder sexueller Orientierung.» Dies ist vor allem eine juristische Absicherung für den Fall, dass die Organisation aktive Rechte ausschließen will.
Unter vorgehaltener Hand kursieren Geschichten, dass ehrenamtliche Funktionäre, die sich innergewerkschaftlich inhaltlich zur AfD bekennen oder gar in öffentlichen Auftritten zwischen AfD und IG BCE eine Verbindung herstellen (wenn z.B. ein Wahlkandidat, der auch Betriebsrat ist, in einem Wahlspot mit IG-BCE-Fahne posiert) ziemlich ernsthafte Gespräche mit Hauptamtlichen führen müssen und von ihnen ein anderes Verhalten oder der Verzicht auf Funktionen verlangt wird.
Der Gewerkschaftstag hat auch beschlossen, dass die IG BCE sich verstärkt an lokalen Bündnissen antirassistischer Mobilisierungen beteiligt. Wenn sich das dann noch mit der ebenfalls beschlossenen Verstärkung bzw. (Wieder-)Belebung der Vertrauensleutearbeit verbinden würde – ja, dann gäbe es aus der IG BCE vielleicht auch mal etwas Erfreuliches zu berichten.
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