Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2017
Der Austritt aus der EU steht nicht mehr an oberster Stelle
von Bernard Schmid

Es gibt Momente in der Geschichte, anhand derer sich relativ sauber und trennscharf ein «Davor» und ein «Danach» unterscheiden lassen. Dies trifft, was die wechselhafte jüngere Geschichte der extremen Rechten in Frankreich betrifft, für den 3.Mai 2017 fraglos zu.

Am 3.Mai fand die von vielen mit Spannung erwartete, von manchen lang herbeigesehnte TV-Debatte der beiden übriggebliebenen Bewerber um die französische Präsidentschaft statt, Emmanuel Macron und Marine Le Pen. Würde die rechte Demagogin ihren Widersacher in die Enge treiben – ja ihm symbolisch jenen Prozess machen, den man in ihren Augen dem gesamten «globalisierten und antinationalen» Establishment bereiten sollte? In Medienberichten wurde vorab das Gerücht gestreut – doch es gab viele Gerüchte –, Macron werde nach einer halben Stunde aufstehen und gehen, falls ihm das Trommelfeuer seiner Gegenkandidatin zu sehr zusetze. Um das Gesicht zu wahren, werde er sich darauf berufen, es sei unter der Würde eines seriösen Politikers, sich so durch die Mangel ziehen zu lassen.

Es kam völlig anders: Es war Marine Le Pen, die an jenem Abend dreieinhalb Stunden lang in die Enge getrieben und vor einem Millionenpublikum ihrer Unkenntnis in wirtschaftlichen Fragen überführt wurde. Phasenweise wirkte sie während des dreieinhalbstündigen TV-Duells wie eine ertappte schlechte Schülerin.

Dass es so sehr anders kam, das hat bei vielen rechtsautoritären Wählerinnen und Wählern gesessen, bis heute. Es ist die Wunde, die nicht verheilt. Und aufgrund derer die extreme Rechte in Frankreich nun in einer tiefen Orientierungskrise steckt und sich in Strategiedebatten zerfleischt – nur ein halbes Jahr, nachdem viele glaubten, wenn sie schon nicht gewinne, werde sie wenigstens für die kommenden Jahre unbestritten die Oppositionskraft Nummer Eins.

Unerwartet deutlich fiel jedoch die Niederlage in der Stichwahl um die französische Präsidentschaft aus: Statt mit über 40 Prozent, wie vielfach erwartet, unterlag Marine Le Pen mit 33,9 Prozent ihrem Gegenkandidaten Emmanuel Macron.

 

Liebesentzug

Nehmen wir nur die bekennenden Anhänger der extremen Rechten, die hier und da zu Wort kommen. In der Boulevardzeitung Le Parisien haben sie es am 17.September 2017, in einer Sonntagsausgabe, auf die Titelseite geschafft: «Le Pen und ihre Wähler – der große Liebesentzug» lautet die fette Überschrift. Einige der Liebesentziehenden hat das Boulevardblatt aufgespürt.

Da wäre Ghislaine, die Enkelin eines Kommunisten in der nordfranzösischen früheren Bergarbeiterstadt Condé-Folie: «Ich habe in der zweiten Runde für sie gestimmt, aber mit weniger Enthusiasmus als im ersten Wahlgang. Dazwischen lag diese Debatte. An jenem Abend hat sie uns die ‹Guignols de l’info› vorgespielt» (so heißt eine satirische Sendung mit Politikerpuppen, die stark übertriebene oder leicht verrückte Dinge tun).

Ein anderer Artikel stellt Françoise vor, eine 67jährige Rentnerin in Calais, Stammwählerin des Front National (FN). Auch sie stößt sich in ihrer Erinnerung an der Fernsehdebatte: «Marine Le Pen war eine Niete! Sie hatte alle Chancen, und sie hat alles verspielt.» In den Augen von Françoise, die in der Vergangenheit schon für den Vater, Jean-Marie Le Pen, stimmte, ist Marine Le Pen als Politikerin bereits Geschichte. Sie wartet nun auf «einen starken Mann mit harter Hand», von dem sie noch nicht weiß, um wen es sich handeln könnte.

War es zu viel Selbstsicherheit im Vorfeld, mangelndes Interesse, vor allem an ökonomischen Problemen? War es ihre gesundheitliche Labilität, am Ende gar ihr (unter Journalisten seit längerem bekanntes) Alkoholproblem? Man wird es vielleicht nicht erfahren. Fakt ist, es ist nicht sicher, ob es auf Dauer noch Marine Le Pen sein wird, die in Zukunft die französische extreme Rechte verkörpert. Auch wenn gewiss ist, dass sie nicht einfach von der Bildfläche verschwinden wird.

Den vorläufig letzten Akt in der diesjährigen Dramaturgie bot der Austritt von Florian Philippot, 36 Jahre alt und seit sechs Jahren Chefideologe des FN. Er verkündete ihn am 21.September. Sein Rückzug kam für viele Außenstehende überraschend; intern hatte er sich angekündigt.

Stunden zuvor hatte Le Pen ihrem Vize den Löwenanteil seines Aufgabenbereichs entzogen. Er sollte offiziell Nummer Zwei der Partei bleiben, gleichberechtigt neben dem Co-Vizepräsidenten – und Lebensgefährten Le Pens –, Louis Aliot. Doch hatte die Chefin ihm die Außenvertretungsmacht für die Partei entzogen, und damit die Fernsehauftritte, die Philippot quasi täglich absolvierte, so häufig wie kein anderes Führungsmitglied des FN.

 

Generation Maastricht

Philippots Abgang ist zunächst einmal schlicht das Ergebnis eines Machtkampfs zwischen ihm und Marine Le Pen. Als solcher ist er nicht auf ideologische Differenzen zurückzuführen; im Gegenteil war es in erster Linie Philippot, welcher der Chefin bis vor kurzem ihre «Linie» einflüsterte oder zumindest inspirierte. Doch nach der katastrophal verlaufenen TV-Debatte vom 3.Mai 2017 glaubte Philippot nicht mehr so richtig an die Fähigkeiten seiner Chefin. Im selben Monat gründete er seinen eigenen Verein, Les Patriotes, den viele alsbald als eine Art Partei innerhalb der Partei betrachteten. Wiederholt forderte Marine Le Pen ihn öffentlich auf, den Vorsitz darin niederzulegen. Florian Philippot weigerte sich standhaft. Darin liegt auch der Grund für seine innerparteiliche Degradierung, die er zum Anlass nahm, gleich ganz zu gehen.

Nun werden viele FN-Kader versuchen, nach dem Abgang Philippots die «Linie» der Partei in einem anderen Sinne zu beeinflussen. Umgekehrt hat Marine Le Pen möglicherweise Philippot auch «geopfert», um zumindest Teile seiner Strategie – ohne ihn – zu retten. Diese beruht darauf, möglichst stark soziale, gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus kritische Positionen zu betonen und dabei gleichzeitig die Forderung nach einem Austritt aus dem Euro und aus der EU zum Schlüssel für alle weiteren programmatischen Veränderungen zu erklären – denn «ohne finanz- und währungspolitische Souveränität» sei auch «keine Sozial- und Wirtschaftspolitik möglich».

Philippot wurde als Heranwachsender vom französischen Referendum über den Maastricht-Vertrag im September 1992 geprägt (es ging mit 51 zu 49 Prozent knapp zugunsten der Unterzeichnung des EU-Vertrags aus), das er als fast Elfjähriger miterlebte. So arbeiten es jedenfalls seine Biografinnen, die Politikjournalistinnen Astrid de Villaines und Marie Labat in ihrem Buch Philippot Ier. Le nouveau visage du Front national (erschienen im März 2017) heraus.

Zwischen der Abstimmung von 1992 und jener im Mai 2005 über den, daraufhin gescheiterten, EU-Verfassungsvertrag – Philippot war nun 23 – formte er sich ein Weltbild, worin die Trennlinie zwischen «EU-Befürwortern und Globalisten» einerseits und «Patrioten» andererseits die entscheidende politische Scheidelinie darstellt. Linke wie rechte, unterschiedlich motivierte Neinstimmen gilt es in seinen Augen stets zu bündeln, um auf diese Weise Mehrheiten zu organisieren.

 

Über den Parteien oder stramm rechts?

Doch viele in der Partei zeigten sich darüber in den letzten zwei Jahren beunruhigt, zumal die Konservativen seit 2015 eine Kampagne gegen die «unverantwortlichen, linkslastigen Positionen» des FN in Sachen Wirtschaftspolitik führen, die auch in Teilen der Partei selbst verfängt. Philippot wurde wegen angeblichen «Linksdralls» innerparteilich heftig angegriffen – allerdings auch immer wieder wegen seiner Homosexualität.

Die Kreise, die hinter diesen Attacken stehen, fordern «endlich wieder ein richtiges rechtes Profil», was in ihren Augen auch die offene Akzeptanz stärkerer sozialer Ungleichheit beinhaltet. Zwar wünschen auch die Gegenspieler von Philippot eine gewisse Unverwechselbarkeit des FN gegenüber den Konservativen – vor allem durch besonders scharfe Positionen zur Einwanderung –, doch müsse viel klarer und deutlicher werden, dass man rechten Konservativen grundsätzlich näher stehe als jedem Sozialdemokraten oder Linken.

Hingegen stand und steht Philippot auf einer Position, die «weder rechts noch links, sondern patriotisch» sein und sich an die Wählerinnen und Wähler (respektive die Enttäuschten) in beiden etablierten politischen Lagern gleichermaßen wenden will.

Zu den Anhängern einer rabiaten Gegenposition zu Philippot zählt etwa Marine Le Pens Schwager Philippe Olivier –  er ist neuerdings auch einer ihrer Redenschreiber – oder der Bürgermeister von Béziers, der frühere Linke Robert Ménard. Diese Linie verfügte ursprünglich auch über einen eigenen Kandidaten für den Parteivorsitz im Vorfeld des kommenden Parteitags, der am 10. und 11.März 2018 in Lille stattfindet – den dortigen Bezirkssekretär Eric Dilliès. Dieser musste seine Bewerbung, die als Gegenkandidatur zu Marine Le Pen geplant war, jedoch zurückziehen, da er nicht genügend Unterstützungsunterschriften von Funktionsträgern aus dem Apparat erhalten hat.

 

Eine neue Partei

Im Laufe der Jahre 2016 und 2017 wurde Philippot fortlaufend in Richtung Ausgang gedrängt – und öffnete am Ende die Tür aus eigenen Stücken. Nun lautet die Frage, wohin es ihn in naher Zukunft ziehen wird. Gemunkelt wurde zunächst, er werde sich dem rechtsbürgerlichen EU-Kritiker Nicolas Dupont-Aignan annähern. Letzterer erhielt als Präsidentschaftskandidat im April 2017 knapp 5 Prozent der Stimmen und hatte sich dann, für die Stichwahl, kurzzeitig mit Marine Le Pen verbündet; ihre Allianz zerbrach jedoch noch vor den Parlamentswahlen vom Juni 2017. Dupont-Aignan hält dem Vernehmen nach Kontakt sowohl zu Marine Le Pen als auch zu Florian Philippot, bleibt auf einer Position der Äquidistanz zwischen beiden und erklärt, sich «nicht in ihre Scheidungsangelegenheiten einmischen zu wollen».

Inzwischen hat Philippots Vereinigung Les Patriotes ihrerseits den Parteienstatus erworben. Ende Oktober/Anfang November 2017 behauptete er, «rund 5000 Mitglieder» zu organisieren. In Wirklichkeit dürfte die Zahl darunter liegen. Der FN seinerseits beansprucht «81000 Mitglieder ohne Beitragsrückstand», tatsächlich dürften es rund 50000 sein.

Am 7.November stellte Philippot eine «Charta», eine Art Grundlagenprogramm, seiner neuen Partei vor. Die Idee eines EU-Austritts steht dort an zentraler Stelle und er greift den FN wegen der «Preisgabe seiner Ideen» zu diesem Thema heftig an. Tatsächlich sprach Le Pen erstmals in einer Rede am 1.Oktober in Poitiers explizit davon, Ziel ihrer Partei sei nunmehr nicht länger der EU-Austritt, sondern, «die EU von innen heraus zu reformieren».

Umgekehrt relativiert die neue Philippot-Partei das Thema «Einwanderung», jedenfalls auf formaler Ebene, erheblich, es steht nur noch an 14. Stelle im Programmkatalog – wenngleich auch er eine harte Position gegen Zuwanderung einnimmt.

Wahrscheinlich erscheint, dass alle diese Akteure ihren Platz inmitten der allgemeinen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Widersprüche erst noch suchen müssen. Und dass dabei vor allem dem FN heftige Orientierungsdebatten bevorstehen dürften. Zumindest bis zum nächsten Parteitag.

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