von Peter Nowak
Wenn von armen Leuten die Rede ist, schwingt schnell ein Klang von Bedauern und Mitleid mit. Doch wenn der Sozialwissenschaftler und Erwerbslosenaktivist Harald Rein seinem neuesten Buch den Titel Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen gibt, knüpft er an eine Debatte über die Poor Peoples Movements an. Es sind soziale Bewegungen von Menschen, die weitgehend außerhalb der Lohnarbeitsprozesse stehen.
In einem eigenen Kapitel setzt sich Rein kritisch mit der auch von linken Wissenschaftlern vertretenen Meinung auseinander, arme Leute wären nicht in der Lage, sich politisch zu artikulieren. Er wirft auch einen kritischen Blick auf jene Marienthal-Studie von Anfang der 1930er Jahre, auf die sich viele linke Wissenschaftler beziehen, wenn sie armen Menschen die Fähigkeit absprechen, sich selbständig politisch organisieren zu können. Marienthal war ein österreichisches Dorf, in dem nach der Pleite einer großen Textilfabrik ein Großteil der Bewohner erwerbslos wurde. Resignation und Apathie bei einem Großteil der Bewohner waren die Folge, so lautet das Ergebnis der Studie, das Rein nicht bestreitet.
Er kritisiert allerdings, dass sie unzulässig verallgemeinert worden seien. Vor allem in Großstädten und bei jüngeren Menschen hätte Erwerbslosigkeit statt zu Apathie zu Lebensperspektiven jenseits der Lohnarbeit geführt. Sehr kenntnisreich und detailliert beschreibt Rein, wie sich Erwerbslose nach der Novemberrevolution von 1918 in eigenen Räten organisierten und von den Gewerkschaften selbstbewusst Unterstützung und Solidarität forderten. Rein zeigt aber auch, dass die Spitzen der Gewerkschaften und der SPD schon früh auf Distanz zu Erwerbslosenorganisationen gingen, die auf ihrer Autonomie bestanden. Sehr differenziert beschreibt er die Erwerbslosenpolitik der KPD und der ihr nahestehenden Organisationen in der Weimarer Republik. Er lehnt die häufig von Historikern bemühte These ab, die KPD habe die Erwerbslosen nur instrumentalisiert. Vielmehr zeigt er an Hand von Dokumenten auf, dass kommunistische Kommunalpolitiker sehr konkrete Maßnahmen für Erwerbslose erkämpft haben.
Daneben widmet sich Rein auch der libertären Strömung in der Erwerbslosenbewegung, auf die sich auch die autonome Erwerbslosenbewegung der 80er Jahre berief, in der Rein seit Jahren aktiv ist. Im Unterschied zu den gewerkschaftsnahen Strömungen sieht sie ihr als Hauptproblem nicht in der fehlenden Erwerbsarbeit, sondern im fehlenden Geldeinkommen. Rein listet die unterschiedlichen Themenfelder der jüngeren Erwerbslosenbewegung auf, die im Spätsommer 2004 im Kampf gegen die Agenda 2010 für einige Wochen noch einmal zu einer Massenbewegung angeschwollen war. Daneben richtet Rein den Blick auf den Alltagswiderstand von Erwerbslosen, der sich rund um die Jobcenter abspielt. Das können kurzeitige Go-Ins ebenso sein wie eine Begleitaktion von Betroffenen.
Es ist zu hoffen, dass sich manche durch die Lektüre des Buches ermutigt fühlen, solche Schritte der Selbstermächtigung zu unterstützen. Denn mittlerweile versuchen auch die Rechten, um die Armen zu werben, und machen Geflüchtete für ihre Situation verantwortlich. Es stimmt schon, wenn Rein feststellt, dass immer noch hauptsächlich vom Absturz bedrohte Mittelständler die AfD wählen und viele Arme gar nicht zur Wahl gehen. Aber es gibt auch die Beobachtung des Erwerbslosenberaters Harald Thome, dass Menschen, die sich nie für Wahlen interessiert haben, sich vor der letzten Bundestagswahl als AfD-Unterstützer outeten. Auf die Frage, wieso sie dieser im Kern wirtschaftsliberale Partei ihre Stimme geben wollten, sagten sie nur: Sie erwarten nichts von der AfD, aber sie wollen die da oben ärgern. Eine kämpferische Organisierung von armen Menschen wäre ein sehr konkreter Kampf gegen rechts.
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