Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2018

Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Berlin: Hanser Berlin, 2017. 957 S., 28 Euro
von Petra Hartlieb*

Entwicklungsroman, Männergeschichte, aber…

Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe schon alles gelesen. Immerhin lese ich seit fünfundvierzig Jahren und seit ungefähr zwanzig Jahren professionell, zuerst als Literaturkritikerin, jetzt als Buchhändlerin. Das ist das Schöne an meinem Beruf – die Fülle an Themen, die unfassbare Auswahl, die ich zur Verfügung habe.

Allerdings bringt dieser unbegrenzte Zugang zur Literatur gewisse Begleiterscheinungen mit sich, denn so viele Lesejahre machen mich nicht gerade zur einfachen Konsumentin. Immer öfter ertappe ich mich bei dem Gedanken: Kenn ich schon. So etwas hab ich schon gelesen. Ganz gut, aber… Und dann gibt’s ja auch noch diese neue Serie auf Netflix, über die jetzt alle reden und wo ich immer noch in der ersten Staffel hänge.

Da erzählt mir auf der Buchmesse im Oktober 2016 ein Verlagsmitarbeiter von einem Wahnsinns-tollen-neuen-noch-nie-dagewesenen-Buch, das Anfang 2017 erschei­nen wird, und ich hör mir die Geschichte an und denke mir: Ja. Eh. Sicher. Eigentlich erzählt er mir nichts über den Inhalt, nur dass es eine wirklich arge Geschichte sei, eine, die niemanden kalt lässt. Auch das hab ich schon mehr als einmal gehört. Und es stoßen noch zwei Mitarbeiterinnen zum Gespräch dazu und erzäh­len ein bisschen, sie deuten nur an und wieder denke ich: ja okay, aber da ist so ein Leuchten in ihren Augen und gleichzeitig eine gewisse Traurigkeit, gerade so, als wüssten sie bereits etwas, das ich eigentlich auch wissen sollte.

 

Nach dem anstrengenden Weihnachtsgeschäft erlaube ich mir, ein neues Buch zu lesen. Eines, das im neuen Jahr erscheinen wird und natürlich greife ich zu diesem einen Buch. Nicht nur, weil der Verlag es inzwischen mehrmals geschickt hat, damit man es ja nicht übersieht, nein, auch, weil ich an diesem Cover nicht vorbeikomme. An diesem jungen Mann, der das Gesicht vor Lust oder Schmerz verzieht («Orgasmic Man», ein Foto von Peter Hujar).

Es beginnt mit einer alltäglichen Szene, in der zwei junge Männer namens Willem und Jude versuchen, eine Wohnung in New York zu mieten und kläglich daran scheitern, weil sie nicht kreditwürdig sind. Nach der Wohnungsbesichtigung treffen sie sich mit ihren beiden Freunden, Malcolm und JB bei einem heruntergekommenen Vietnamesen und erzählen die gescheiterte Wohnungssuche als kleine Komödie mit dem Fazit, dass ohnehin niemand in so einem Loch wohnen möchte.

Das Geplänkel bei Pho-Suppe und billigen Sandwiches ist wie eine leichtfüßige Ouvertüre zu den nächsten 957 Seiten: vier junge Männer, grundverschieden, beste Freunde, seitdem sie ein gemeinsames Collegeapartement bewohnt hatten. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Traum im Kopf und dennoch sind sie eine eingeschworene Gemeinschaft.

Am Anfang ist es nicht ganz einfach, die Personen auseinander zu halten – wer war jetzt noch mal Malcolm? War das der farbige Anwaltssohn? Und wie war das noch mal mit JB, der sich als Künstler sieht, und Willem, dem gutmütigen Farmersohn, der so gerne Schauspieler werden möchte? Über allem schwebt Jude. Jude St.Francis über den man nichts erfährt, der nichts preisgibt aus seinem Leben, der aber dennoch vom ersten Kapitel an die zentrale Figur zu sein scheint. Er ist schön und klug, aber gleichzeitig schwer beschädigt. Er hat Beinverletzungen von einem angeblichen Autounfall, ständig wiederkommende Schmerzattacken werfen ihn immer wieder völlig aus der Bahn, und seine langärmeligen Hemden zieht er nicht mal am Strand aus.

Also gut. Ein New-York-Roman. Eine Entwicklungsgeschichte. Ein Männer-Buch (die einzigen Frauen im ersten Kapitel sind die Wohnungsmaklerinnen und diverses Personal). Muss ich das wirklich lesen?

 

Plötzlich hat es mich. Es packt mich und lässt mich nicht mehr los. Es ist, als würde Hanya Yanagihara direkt in mein Herz fassen und es einmal zusammendrücken. Und ich weiß nicht genau warum, ich kann nicht mehr aufhören, bin versucht, Seiten zu überblättern, damit ich weiß, wie es weitergeht. (Stirbt jemand? Stirbt Jude? Bitte sagt mir, dass keiner stirbt!)

Obwohl die regelmäßigen Treffen der vier im Laufe der Jahre weniger werden, verlieren sie sich nie aus den Augen, Willem, inzwischen erfolgreicher Schauspieler, und Jude, Junior Partner in einer Anwaltskanzlei, bleiben sich so nahe wie in jungen Jahren. Nach und nach erfahren wir mehr über den geheimnisvollen Jude, über die verletzte Seele in seinem verletzten Körper, und parallel mit seinen Freunden werden wir mit reingezogen in das schwarze Loch seiner Vergangenheit.

Fast möchte ich das Buch immer wieder in die Ecke werfen, so unerträglich ist es manchmal, so schmerzvoll, stellenweise fühle ich mich wie eine Voyeurin, denn die Dinge, die Jude erlebt hat, will ich eigentlich nicht wissen. Doch ich muss einfach weiterlesen, auch wenn ich es stellenweise kaum ertrage, aber schließlich müssen auch Jude, Willem, Malcolm und JB einfach immer weitermachen mit ihrem Leben und ich kann sie schließlich nicht allein lassen.

Es ist wie eine Sucht, ich lese immer weiter, trau mich kaum zu atmen, geh nicht zum Kühlschrank, hole mir nichts zu trinken, was gut ist, dann muss ich wenigstens nicht aufs Klo.

 

Wann hatte ich das letzte Mal so ein Leseerlebnis? Dieses Gefühl, dass rundherum nichts mehr ist und ich mitten in der Geschichte bin, mitten drin im Leben von Menschen, von denen ich vor einigen Tagen noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt, und plötzlich sind sie mir so nahe, dass es mir fast das Herz zerreißt, allein beim Gedanken, es könnte ihnen etwas zustoßen.

Das ist schon sehr lange her, eigentlich ist dieses selbstvergessene, ja manchmal verzweifelte Lesen eine Kindheitserinnerung, und mir fallen Bücher ein wie Mio, mein Mio oder Der geheime Garten, Geschichten, in die ich als Kind eingetaucht bin und nur schwer wieder in die reale Welt zurückgefunden habe. Und auch wenn Ein wenig Leben auf den ersten Blick wie ein harter, sehr realitätsbezogener Roman erscheint, so ist es doch ein Märchen: Ein bisschen zu dick aufgetragen und von allem ein bisschen zu viel: Zu viel Leid – wie viel Schlechtes kann einem jungen Menschen widerfahren? Zu viel Liebe – wie viel Liebe kann man einem kaputten Menschen entgegenbringen? Das Märchenhafte wird dadurch verstärkt, dass wir Jude, Willem, Malcolm und JB zwar durch die Jahrzehnte begleiten, Yanagihara in ihrer Geschichte reale Dinge jedoch schlichtweg ausblendet. Kein Irakkrieg. Kein 9/11. Kein Obama. Keine Möglichkeiten für den Leser, sich an irgendeiner Zeitachse zu orientieren.

*

Die fünfte Hauptrolle in der Geschichte spielt eindeutig New York. Die Stadt als große Bühne für ein Drama voller Schmerz, Liebe und Freundschaft, als Ort der Weltoffenheit, in der alles möglich ist. Hier leben alle ihren Traum und die Stadt scheint alles zu tolerieren. Und vielleicht ist das das Faszinierendste an diesem Buch: Die völlige Neudefinition von Liebe, Familie und Beziehung. Nicht die Paarbeziehung, nicht die Herkunftsfamilie, nicht die Elternschaft sind die wichtigsten Dinge in deinem Leben, sondern die selbstgewählten Freundschaften. Die Menschen, die du dir selber aussuchst und für die du dann verantwortlich bist, egal welche Hautfarbe oder sexuelle Orientierung sie haben oder wie beschädigt sie durchs Leben gehen.

Und so verdanke ich Hanya Yanagihara mehrere schlafarme Nächte und in der letzten Nacht gebe ich auf, stehe um zwei Uhr morgens einfach wieder auf, ziehe mir einen warmen Pullover und dicke Socken an, setze mich in einen Fauteuil und lese und lese. Sitze und lese, wie Jude erneut enttäuscht wird, und bin traurig und weine. Weine wegen Jude und Willem, aber auch wegen dem Leben überhaupt und wegen aller Erinnerungen, die dieses Buch auslöst.

Als ich endlich fertig bin, bleibe ich noch lange sitzen, bis ich mich wieder ins Bett traue und Schlaf finde. Was bleibt, ist die Traurigkeit und das Gefühl, viel zu schnell gelesen zu haben, am liebsten würde ich noch mal von vorne beginnen.

Das alles kann ein Buch. Nicht sehr oft, aber wenn eines es kann, dann ist es wie eine Naturgewalt. Und: Ich will, dass es viele Menschen lesen, denn ich will mit ihnen darüber sprechen.

 

* Petra Hartlieb lebt in Wien und ist Buchhändlerin, Buchexpertin und Romanautorin.

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