von Daniel Kreutz
Auf dem Weg zu «ergebnisoffenen Gesprächen» über eine Neuauflage der Großen Koalition (GroKo) hat die SPD die Forderung nach einer «Bürgerversicherung» (BüV) bei der Kranken- und Pflegeversicherung besonders hoch gehängt. Seit den großen Kontroversen um «Bürgerversicherung oder Kopfpauschale» gilt das BüV-Schlagwort vielfach als Losung für eine Sozialreform «von links».
Verbreitet ist der Glaube, es gehe dabei um die Abschaffung der Privaten Krankenversicherung (PKV), jenes privilegierenden Sondersystems für Besserverdienende, Selbständige und Beamte (auch die allermeisten Abgeordneten und Minister) und die Einbeziehung dieser meist finanzstarken «besseren Risiken» in das Solidarsystem der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Und war da nicht auch vorgesehen, zusätzlich zu den Beiträgen auf Arbeitsentgelte, auch Einkünfte aus Vermögen (z.B. Aktien oder Geldanlagen) zur Finanzierung der BüV heranzuziehen? Mittlerweile fordert doch auch die SPD die Abschaffung der Zusatzbeiträge zugunsten der Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Versicherte. Wäre die Bürgerversicherung also nicht eine gute Sache?
Wer versucht, sich ein näheres Bild davon zu machen, was die SPD im einzelnen unter der Bürgerversicherung versteht, die sie seit 14 Jahren fordert, stößt auf erstaunliche Schwierigkeiten. Seit der ersten Skizze des Projekts im Bericht der Rürup-Kommission (2003) wurden die Darstellungen in den Parteibeschlüssen und Wahlprogrammen nicht konkreter, sondern im Zeitverlauf immer vager.
So war dem Bundestagswahlprogramm 2017 nur noch zu entnehmen, dass man eine Bürgerversicherung bei Gesundheit und Pflege will, in die alle einzahlen und die allen die notwendigen Leistungen ohne Zweiklassenmedizin sichern soll. Die ursprünglich vorgesehene Abschaffung der Privaten Krankenvollversicherung durch die Bürgerversicherung wurde von der SPD sofort revidiert.
Schon 2003 stellte der Bochumer Parteitag klar: «Am Nebeneinander von gesetzlichen Kassen und privaten Krankenversicherungen halten wir fest, weil wir den Wettbewerb wollen.» Und dabei ist es seither geblieben.
Die Einbeziehung von Vermögenseinkünften in die Beitragspflicht wurde spätestens mit dem Bundestagswahlprogramm 2005 wieder aufgegeben. Stattdessen gab die SPD zunächst vor, Kapitaleinkünfte über Steuerzuschüsse an der Finanzierung zu beteiligen. 2011 war mal von einem dynamisierten Aufschlag auf die Zinsabgeltungssteuer (der flat tax für Kapitaleinkünfte) die Rede. Danach finden sich zu diesem Thema in den Bundesprogrammen gar keine Hinweise mehr.
Marktkonforme Krankenversicherung für alle
Mit «Bürgerversicherung» meint die SPD nichts anderes als eine einheitliche Markt- und Wettbewerbsordnung für den Kranken- und Pflegeversicherungsmarkt, auf dem öffentlich-rechtliche («gesetzliche») Kassen und privatrechtliche Versicherungsunternehmen gleichermaßen konkurrieren sollen. Es gelten gleiche Regeln für die Erhebung von Beiträgen, den «notwendigen» Leistungsumfang und die Vergütung ärztlicher Leistungen.
Das bisherige Geschäftsmodell der PKV – auf Basis der Zuordnung der Versicherten nach beruflichem Status oder Einkommenshöhe und mit Prämien, die vom Alter und Gesundheitszustand abhängen – läuft aus. Stattdessen müssen private Versicherer am Bürgerversicherungsmarkt Vollversicherungen nach den gleichen Spielregeln anbieten wie die bisherigen gesetzlichen Kassen.
Ein solcher Wechsel des Geschäftsmodells wird heute teils sogar für notwendig gehalten, um eine «Implosion» der PKV abzuwenden. Denn sie leidet nicht nur unter der anhaltenden Niedrigzinsphase, auch ihre Leistungsausgaben wachsen erheblich schneller als bei der Gesetzlichen Krankenversicherung, und der Anteil derer, die von den PKV-Prämien überfordert werden, ist deutlich höher.
Andererseits dürfte es am Bürgerversicherungsmarkt auch keine «wettbewerbsverzerrenden Privilegierungen» der GKV mehr geben. Steuerzuschüsse für Leistungsausgaben etwa (2016: 14 Mrd. Euro) müssten gleichermaßen den Privaten zugutekommen. Seit die Politik 1992 den auf monetäre (Beitrags-)Ziele ausgerichteten «Kassenwettbewerb» im Bereich der GKV ausgerufen und dann sukzessive die typischen Wettbewerbsinstrumente der PKV auf die GKV übertragen hat, hat sich die Geschäftspolitik der GKV-Kassen stark der von Versicherungsunternehmen angenähert. Deshalb sind die Befürchtungen gestiegen, der Europäische Gerichtshof könne die GKV-Kassen als «Unternehmen» einstufen und sie den neoliberalen Regeln des EU-Binnenmarkts unterwerfen.
Die Schaffung eines einheitlichen Krankenversicherungsmarkts, auf dem private Unternehmen gleichberechtigt tätig sein sollen, würde dieses Risiko enorm erhöhen. Statt der «Abschaffung der PKV» stünde am Ende womöglich die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Kassensystems zugunsten einer vollständigen Kommerzialisierung. Die Niederlande, die seit 2006 einen ausschließlich von Privatversicherern besetzten, einheitlichen Krankenversicherungsmarkt haben, lassen grüßen.
Solidarprinzip statt Konkurrenz
Eine Bürgerversicherung «von links» müsste demgegenüber auf eine Verallgemeinerung der GKV als öffentliches Solidarsystem zielen und die PKV auslaufen lassen. Sie müsste auch den ökonomischen Wettbewerb der GKV-Kassen beenden, der vor allem zulasten der chronisch Kranken geht. Und dringende Handlungsbedarfe liegen noch «diesseits» jeder Reform zu einer Bürgerversicherung: bei der Abschaffung der Belastungen Kranker durch Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen, bei der umfassenden Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung sowie bei der Stärkung der Finanzkraft und der Solidarität durch die Aufhebung, zumindest aber erhebliche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze (BBG).
Der damaligen Rürup-Kommission ging es um die Entlastung der Arbeitgeber bei den «Lohnzusatzkosten» (Sozialversicherungsbeiträgen), auch durch Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Löhnen. Die Kommission – einschließlich des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach – einigte sich auf ein Paket kurzfristiger Lastenverschiebungen auf Kranke und Versicherte, darunter den offenen Bruch mit der paritätischen Finanzierung durch die einseitige Belastung der Versicherten mit einem Sonderbeitrag für Krankengeld.
Darüber hinaus sollte nicht nur Rürups Kopfpauschale, sondern auch Lauterbachs Bürgerversicherungsmodell der weiteren Beitragsentlastung der Arbeitgeber dienen. Die Absenkung des lohnbezogenen Beitragssatzes – und damit des Arbeitgeberanteils – sollte aus den Mehreinnahmen durch die Einbeziehung des PKV-Klientels und die zusätzliche Verbeitragung von Vermögenseinkünften Versicherter finanziert werden.
Beitragsbemessungsgrenze aufheben
Die Verbeitragung von Vermögenseinkünften war dabei grundsätzlich auf Basis des Steuerbescheids vorgesehen, wie dies bei freiwillig gesetzlich Versicherten ohnehin der Fall ist. Da jedoch weiterhin eine Beitragsbemessungsgrenze gelten sollte, wären davon nur Versicherte mit Erwerbseinkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze betroffen gewesen. Bei diesen wären evtl. Vermögenseinkünfte so lange einbezogen worden, bis das Gesamteinkommen die Beitragsbemessungsgrenze erreicht.
Eine vom Einkommen getrennte Verbeitragung von Vermögenseinkünften in einer «zweiten Säule» mit eigener Beitragsbemessungsgrenze wurde verworfen, weil sich bei Gesamteinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze sehr unterschiedliche Beitragsbelastungen ergeben hätte, je nachdem wie sich das Einkommen aus Erwerbs- bzw. Vermögenseinkünften zusammensetzt. Von einer Heranziehung «reicher Vermögensbesitzer» konnte jedenfalls keine Rede sein. Insgesamt war es vor allem der Kontrast zur «radikalen» Kopfpauschale, der die im Vergleich «moderate» Bürgerversicherung als soziale Alternative erscheinen ließ.
Eine Verbeitragung von Vermögenseinkünften wäre mit vielfältigen Problemen verbunden, die nur schwer in praktikabler Weise lösbar sind. Eines der wichtigsten ist, dass der Arbeitgeberbeitrag vom individuellen Arbeitsentgelt abgekoppelt werden müsste, um die paritätische Finanzierung sichern zu können. Sonst käme es zu einer Entlastung der Arbeitgeber im Volumen der halben Vermögensbeiträge, die bei abhängig Beschäftigten erhoben werden. Es spricht deshalb manches dafür, von einer Verbeitragung von Vermögenseinkünften in der Sozialversicherung Abstand zu nehmen.
Typischerweise treffen nennenswerte Vermögenseinkünfte mit höheren Erwerbseinkommen zusammen. Zur Heranziehung der höheren Einkommen ist die An- bzw. Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze allemal ergiebiger. Um Vermögen und Vermögenseinkünfte sollte sich eher die Steuerpolitik kümmern.
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