dokumentiert
In den Morgenstunden des 20.Januar startete die türkische Armee einen Großangriff auf den kurdischen Kanton Efrîn im äußersten Nordwesten Syriens, der Angriff richtete sich zunächst gegen Stellungen der YPG/YPD. Einem Artilleriebeschuss folgte breitflächiges Bombardement von über 100 Zielen, später eine Bodenoffensive. Zum Einsatz sollen dabei auch deutsche Leopard-II-Panzer gekommen sein. Das Kommando der YPG vermeldete am späten Abend, die Besatzungsversuche seien zurückgeschlagen worden. Die russischen Militärbeobachter zogen sich am selben Tag aus der Region zurück.
Am Wochenende gab es in vielen europäischen Städten Solidaritätsdemonstrationen. Der türkische Staatspräsident Erdogan drohte der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit harten Konsequenzen, sollte sie ihre Anhänger auf die Straße bringen.
Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus einer Erklärung des Vorstandsmitglieds der PKK, Murat Karayilan, vom 20.1. Darin betont er: «Wir sind im Moment nicht dort. Die PKK ist etwas anderes als die YPG, und die YPD ist ebenfalls eine andere Struktur. Aber wenn es zum Angriff kommt, dann werden wir alle zusammenstehen.» Die Erklärung enthält die Sichtweise der PKK in Bezug auf die Lage in der Region.1
Der türkische Staat kann nicht in Efrîn eindringen
Die verehrte Bevölkerung von Efrîn und auch die Bevölkerung von ganz Kurdistan soll wissen, das türkische Militär ist nicht so mächtig. Es konnte neun Monate lang nicht in Nisêbîn eindringen [im Mai 2016]. Alle Soldaten, die dort gekämpft haben, sind krank, viele sind verrückt geworden und wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Viele sind geflohen und haben den Dienst quittiert. Und wann konnten sie in Nisêbîn eindringen? Wann konnten sie in Sirnex, Cizîre und Sûr eindringen? Erst als den WiderstandskämpferInnen die Munition ausgegangen war, als keine B7-Raketen und kein Sprengstoff mehr da war, sind sie mit Panzerfahrzeugen reingefahren.
Vor den Augen der ganzen Welt hatten sie sich drei Monate lang vor al-Bab abgemüht [Ende 2016]. Sie hatten den Cebel Akili am Eingang von Bab eingenommen und erklärt: «Jetzt haben wir den wichtigsten Punkt genommen.» Aber das war eine Falle, die der IS ihnen gestellt hatte. Danach umzingelte der IS sie, tötete Dutzende, nahm ihnen die Panzer weg und einige Soldaten als Geiseln. Dann hat der IS die gefangenen Soldaten verbrannt. Und wie hat die Türkei dann Bab eingenommen? Sie sind mit der Hilfe Russlands und einer Verständigung mit dem IS, nachdem er sich zurückgezogen hatte, nach Bab einmarschiert.
Also der türkische Staat macht viel Lärm gemessen an seiner wirklichen Kriegführung. Wir führen mit diesem Staat 35 Jahre lang Krieg und kennen ihn daher gut. Der türkische Staat kann nicht in Efrîn eindringen. Aber er wird kämpfen. Denn der türkische Staat weiß eines gut, wenn er nicht kämpft, dann verliert er vollständig. Er möchte, wenn Russland es erlaubt, an einigen Stellen Krieg führen. Aber er kann nicht nach Efrîn eindringen.
Die Haltung der USA ist unaufrichtig
So wie es in Syrien Kräfte aus der ganzen Welt gibt, wird ohne Zweifel auch der von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) angeführte Widerstand2 in Kommunikation mit diesen Kräften geführt. Denn die YPG, die YPJ und die QSD haben in Rojava nicht nur für sich selbst gekämpft, sie haben für die ganze Menschheit gekämpft. Sie haben die Hauptstadt des IS erobert. Diese Kraft hat sich im Kampf gegen El Nusra und den IS organisiert und die Weltmächte unterstützt. Aber manche Dinge wenden sich.
Diese Kräfte nähern sich sehr berechnend den Erpressungen der Türkei an. So macht z.B. jemand aus der amerikanischen Regierung eine provokative Erklärung. Sie haben die Türkei, Syrien und den Irak gegen die KurdInnen von Rojava angestachelt. Dann haben sie gesagt: «Wir verstehen die Sorgen der Türkei sehr gut», und wir «sind nicht in Efrîn und verteidigen es auch nicht». Das heißt im Klartext: «Ihr könnt in Efrîn einmarschieren». Wenn es nicht so ist und ihr mit den QSD zusammen gegen den IS arbeitet, dann ist doch klar, dass ein Teil der QSD sich auch in Efrîn befindet! Es ist doch eine Organisation, nicht wahr?
Also folglich gibt es da eine Form der Unaufrichtigkeit. Sie stacheln mit ihren Reden die Hegemonialstaaten gegen Kurdistan an und sagen danach, «und Efrîn verteidigen wir sowieso nicht». Ich sage dazu, die Verantwortlichen der YPG und der QSD sollten diese Situation kommentieren. Dass sich eine Macht als «internationale Macht» bezeichnet und sich selbst so groß darstellt, aber dann auf der einen Seite provoziert und sich auf der anderen Seite zurückzieht! Diese Haltung ist wirklich sehr verdächtig, besorgniserregend und unaufrichtig.
Warum sind Sotschi und Genf nicht erfolgreich?
Das Sotschi-Treffen in Russland wurde schon so oft verschoben. Warum? Die KurdInnen sind eine Realität und eine Kraft. Wenn man den KurdInnen nicht erlaubt, an dem Treffen teilzunehmen, dann kommt dabei nichts heraus. Wenn die KurdInnen teilnehmen, dann stellt sich die Türkei quer. Es wird eine Lösung gesucht, die beide Seiten zufrieden stellt. Aber die Türkei ist ein rassistischer Staat. Was ist also notwendig? Es ist notwendig, das Problem offen zu diskutieren.
Genf kann auch nicht zum Erfolg kommen. Warum? Weil die KurdInnen nicht teilnehmen. Nicht einmal mit einem Teil der Kraft, die ein Drittel Syriens kontrolliert, sind sie bereit sich zu treffen. Warum? Weil die Türkei dagegen ist.
Das Problem der Türkei ist die Verleugnung der Realität des kurdischen Volkes, sie sieht alle KurdInnen als Terroristen an. Sie macht eine rassistische Politik gegen KurdInnen. Wenn diese Staaten die Welt wirklich regieren wollen, dann müssen sie gerecht sein. Sie müssten der Türkei «Stopp» sagen. Aber das sagen sie nicht, denn sie sind auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Deswegen messen sie mit zweierlei Maß.
Ich weiß nicht genau, aber auf jeden Fall sagen sie den VertreterInnen der Revolution von Rojava das eine und der Türkei etwas anderes. Deswegen werden sie sowohl von Russland als auch von den USA immer wieder ins Abseits gestellt. Der richtige Schritt wäre, endlich die kurdische Frage in der Region offen zu diskutieren. […]
Werdet keine Komplizen
Wir als PKK und als kurdisches Volk haben folgende Perspektive: Wir erzählen der ganzen Welt diese Wahrheit. Wir lehnen uns an niemanden an. Wir selbst sind unsere Partner. Vor zehn Jahren haben FreundInnen ein Buch geschrieben, dort gab es folgenden Ausdruck: «Die strategischen Partner der KurdInnen sind sie selbst und die Berge.» Ich habe jetzt ähnliche Äußerungen aus südkurdischen3 Regierungskreisen gehört. Das ist die richtige Herangehensweise. Wir werden uns nur an die Berge anlehnen.
Aber wir sagen der ganzen Welt, allen demokratischen Kräften der Welt: Werdet keine Komplizen des Faschismus. Und wir sagen dies auch zum Beispiel Herrn Putin: Der türkische Staat betreibt eine völkermörderische Politik gegen die KurdInnen. Seien Sie kein Komplize. Wir wissen genau, dass die Türkei in Efrîn nicht eingreifen kann, wenn Russland es nicht erlaubt. Der türkische Staat möchte den Luftraum nutzen, denn ohne das kann er am Boden nicht vorwärtskommen. Aber der Luftraum steht unter russischer Kontrolle. Das bedeutet, wenn Kriegsflugzeuge über Efrîn fliegen, dann tragen sie vielleicht eine türkische Fahne, aber sie sind von Russland geschickt worden. Das sind also Russlands Kriegsflugzeuge. Das wird die Öffentlichkeit und das kurdische Volk so verstehen. Warum? Weil der Luftraum über Syrien und Efrîn unter der Kontrolle russischer Technologie steht.
Deshalb sollten die Öffentlichkeit und unsere Bevölkerung wissen, wenn türkische Kriegsflugzeuge Efrîn angreifen, dann heißt das, dass dies mit der Erlaubnis Russlands geschieht – also dass Russland angreift. Deswegen appellieren wir insbesondere an die russische Regierung und hoffen, dass sie sich nicht zum Teil von Erdogans schmutzigen Spielen machen lässt. Wenn es zu einem Angriff kommt, dann handelt es sich um einen Verrat der großen Staaten. Im Moment gibt es dort russische Soldaten, sie haben dort geholfen. Sie haben die Kräfte der YPG und QSD dort unterstützt. Und offiziell geht diese Unterstützung auch weiter. Daher wäre es ein Verrat, wenn sie den türkischen Flugzeugen nun den Weg freimachen. […]
Unsere Bevölkerung muss wissen: In Efrîn wie auch in Kurdistan vertrauen wir vor allem auf uns selbst. Aber es sollte niemand Komplize der schmutzigen Ambitionen der Türkei werden. Wenn niemand mit der Türkei zusammenarbeitet, niemand sie unterstützt, kann sie alleine nichts gegen das kurdische Volk ausrichten.
Anmerkungen
1 Der vollständige Wortlaut findet sich unter https://anfdeutsch.com/kurdistan/murat-karayilan-ruft-zur-mobilisierung-fuer-efrin-auf-1701.
2 Die Demokratischen Kräfte Syriens sind ein Militärbündnis bestehend aus kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), Jabhat al-Akrad; der kurdisch-turkmenischen Einheit Kata’ib Shams ash-Shimal; der sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre (Jaish ath-Thuwwar), der sunnitisch-arabischen Shammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der sunnitischen Rebellenbrigade ar-Raqqa (Liwa Thuwar al-Raqqa), den Al-Jasira-Brigaden und der Lîwai 99 Musat; sowie dem assyrisch-aramäischen Militärrat der Syrer (MFS).
3 Südkurdistan bezeichnet das autonome Kurdengebiet im Nordirak.
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