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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2018
Pekings Stadtverwaltung vertreibt Hunderttausende Arbeitsmigranten
von Wu Qiang*

Am 18.November tötete ein Feuer 19 Menschen im Township Jiugong im Pekinger Distrikt Daxing. Einige Tage später setzte die Stadtverwaltung eine massive Säuberungsaktion gegen «überflüssige Menschen» in den Vorstädten in Gang. Innerhalb einer Woche wurden über 200000 Arbeitsmigranten aus ihren Mietwohnungen und von ihren Arbeitsplätzen vertrieben.

Videos und Berichte von Bürgern und Journalisten der Mainstreampresse in den sozialen Medien zeigten, wie Menschen in den von Arbeitsmigranten bevölkerten «Shantytowns» – dörflichen Enklaven innerhalb urbaner Gebiete –  aufgefordert wurden, binnen zwei bis drei Tagen zu verschwinden. Restaurants und Fabriken in diesen Shantytowns wurden von marodierenden Banden heimgesucht, Scheiben und Türen einschlagen. Nachts drangen Polizisten widerrechtlich in die Wohnungen ein und vertrieben die Bewohner unter Androhung von Gewalt. Videos zeigten sie mitten in der Nacht frierend und obdachlos auf den Straßen von Peking. Einige fuhren in Zügen zurück in ihre Heimatdörfer, andere suchten eine vorübergehende Bleibe in der benachbarten Provinz Hebei. Einige trieben ziellos auf Pekings Straßen – als Flüchtlinge im eigenen Land.

Die grausamen und gewalttätigen Aktionen der Regierung riefen in Chinas sozialen Medien Empörung und Protest hervor. Selbst einige staatlich kontrollierte Medien veröffentlichten Artikel, die eine verhüllte Kritik an der Politik der Pekinger Stadtverwaltung äußerten. Zivilgesellschaftliche Gruppen, die in den letzten fünf Jahren einer anhaltenden Repression ausgesetzt gewesen waren, zeigten außerordentlichen Mut bei der Organisierung von Protesten und Hilfsaktionen. Studierende der Pekinger Universität, Intellektuelle und Arbeiterorganisationen protestierten mit Offenen Briefen. Besonders bemerkenswert war, dass auch Pekinger Bürger, und nicht nur die kleine Zahl christlicher Organisationen und unabhängiger Arbeiterorganisationen, den Vertriebenen mit Notunterkünften, Nahrung und Jobs halfen. Dies zeigt, dass die Pekinger Zivilgesellschaft trotz massiver politischer Repression weiterhin aktiv und mutig ist.

 

Vorzeigehauptstadt

Chinas politische Führung bekundet seit 2014 die Absicht, aus Peking eine reine Hauptstadt machen zu wollen. Zu diesem Zweck soll seine Einwohnerzahl 23 Millionen nicht überschreiten und die Stadt von «Überflüssigen» gesäubert werden – das ist eine der Hauptaufgaben für die nächsten Jahre. «Vorzeigbare Resultate» sollen bis 2017 vorliegen.

Das Feuer in einem Wohnhaus mit billigen Mietwohnungen im Distrikt Daxing Ende letzten Jahres lieferte somit den perfekten Vorwand. Die Pekinger Behörden schickten ihr exekutives Personal sofort in großer Zahl in jeden Bezirk, in dem Arbeitsmigranten wohnen und sich ihre Läden und Betriebe befinden. Unter dem Vorwand des «Brandschutzes» und der Umstellung der Haushalte von Kohle auf Gas drangen sie in Begleitung von uniformierten Polizisten in die Häuser ein und begannen mit den Bauarbeiten, wobei die Bewohner vertrieben wurden.

Die Massensäuberung begann kurz nachdem Cai Qi, ein enger Vertrauter von KP-Chef Xi Jinping, im Oktober um den 19.Parteitag herum Parteisekretär von Peking wurde. Es ist mittlerweile üblich, dass lokale Parteikader sich gerne als Hardliner präsentieren, um der Spitze ihre Loyalität zu zeigen. Ähnliche Dinge trugen sich während des G20-Gipfels in Hangzhou zu, als ein Stadtentwicklungsplan mit massiven Restriktionen für die Einwohner verbunden war, oder in Xiamen vor dem BRICS-Gipfel, als Kommunalpolitiker zur Aufrechterhaltung der Sicherheit eine Politik der verbrannten Erde verfolgten.

In Peking geht es jedoch um mehr als um die Demonstration politischer Loyalität und die Verwirklichung des Wunsches der Zentralregierung, aus Peking eine Vorzeigehauptstadt wie Pjöngjang zu machen. Als Grund für die neue Stadtentwicklungspolitik für Peking nannte Cai Qi im August, in der Hauptstadt sei die wichtigste Frage die «politische Sicherheit», sie sei Teil der nationalen Sicherheit.

 

Eine neue Klasse von Entwurzelten

Der Unterschied zwischen den aktuellen Vorkommnissen und dem Vorgehen gegen Intellektuelle, Dissidenten und NGO-Aktivisten während der «Jasmin-Revolution» 2011 in Peking ist der, dass die Zielscheibe von Cai Qi diesmal eine gewaltige Gruppe von Menschen ist. Es handelt sich um die «neue Klasse der Entwurzelten». Dazu gehören Arbeiterinnen und Arbeiter der Textilmanufakturen, kleine Werkstattbesitzer, Beschäftigte im Dienstleistungssektor und kleine Selbständige.

Ihr gemeinsames Kennzeichen ist das Fehlen eines stabilen und langfristigen Beschäftigungsverhältnisses und einer sozialen Absicherung. Im Unterschied zur Hauptklasse der chinesischen Gesellschaft leben sie an den Rändern des urbanen China. Vor zehn Jahren waren die Hauptvertreter dieser Gruppe die Arbeitsmigranten, aber mit dem raschen Wachstum der Urbanisierung und der Zunahme von Wanderbewegungen, vor allem aber wegen der stetigen Zunahme von befristeten Beschäftigungsverhältnissen und dem Zusammenbruch des Systems der sozialen Sicherheit wächst diese Gruppe weiter. Sie hat sich nun auch auf Beschäftigte im IT-Sektor und auf traditionelle Industriearbeiter ausgedehnt. Die prekäre Arbeit und Entlohnung dieser neu Entwurzelten schafft eine neue Form der Ungleichheit und Unsicherheit und auch neue Formen der Marginalisierung.

 

Aufgeputzt für das «schöne Leben»

Der Pekinger Bezirk Daxing liegt in der «Wirtschaftszone» des neuen Flughafens und ist wegen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten stark bevölkert, so waren die Vertreibungen dort am gewalttätigsten. Diese Shantytowns verbrennen im Winter Kohle und verursachen Verschmutzungen und häufig Brände. Zum Teil sind sie auch ein rechtsfreier Raum.

Das «Dorf Zhejiang» in Dahongmen weist eine hohe Konzentration von Textilwerkstätten und Reparaturläden und eine große Zahl von Angehörigen der neuen Klasse der Entwurzelten auf. Wegen ihrer erschreckenden Lebensbedingungen werden diese Viertel oft als Krebsgeschwür an den Rändern der Stadt betrachtet und schüren bei den Behörden «Sorge um die Sicherheit». Sie werden nun der auf dem 19.Parteitag beschlossenen Politik der «schönen Stadt» geopfert, da die Existenz einer Klasse von Entwurzelten als damit unvereinbar betrachtet wird.

Aber auch die Mittelklasse ändert sich. IT-Unternehmen wie Online-Shops haben zugenommen und die traditionelle urbane Landschaft verändert. Die Straßen sind voll von Kurieren, Lieferwagen und zahllosen Fahrrädern. Die Expansion und Prekarisierung der neuen Mittelklasse hat Folgen für viele traditionell hochbezahlte Beschäftigte in Industriezweigen wie Computerprogrammierung und Finanzsektor. Ihre Lebensverhältnisse lassen sich mit den Vorstellungen der Behörden vom «schönen Leben» nicht vereinbaren.

In Peking und im Rest des Landes ändert diese wachsende Klasse von «langfristigen Zeitarbeitern» die Klassenstruktur und urbane Landschaft Chinas. Sie entbehren elementare Bürgerrechte und das Recht auf Freizügigkeit. Ihre unstabilen Arbeitsverhältnisse bewirken einen unstabilen Lebensstil, der seinerseits eine Herausforderung für den städtischen Raum darstellt.

Es ist möglich, dass diese Schicht zum Vorwand für eine fortgesetzte Politik der Diskriminierung und sozialen Differenzierung genommen wird. In den letzten Jahren sind Pekings Arme auf ihrer Suche nach billigem Wohnraum zunehmend von den alten Stadtvierteln in die Vorstädte gezogen.

 

Eine «gefährliche Klasse»?

Das Resultat der utopischen Behördenpläne für ein «schönes Leben» ist eine neue Art innerer Kolonialismus. Zur Aufrechterhaltung der finanziellen Stabilität und zur räumlichen Isolierung der neuen Klasse der Entwurzelten werden Mauern errichtet, die garantieren sollen, was Cai Qi «politische Sicherheit» nennt. Es ist eine Umkehrung des ständigen Niederreißens von Barrieren in den zurückliegenden 30 Jahre der Reformen und Öffnungen.

In Zukunft wird es vielleicht nur noch Menschen erlaubt werden, in Peking zu wohnen und zu arbeiten, wenn sie zur Elite und der neuen privilegierten Klasse gehören und einen ausreichenden Anteil am neuen «System sozialer Berechtigung» erzielen. Vielleicht wird die Anwendung staatlicher Gewalt auf den Straßen dann nicht mehr nötig sein. Dafür wird es wahrscheinlich immer mehr Flüchtlinge aus Peking geben. Gleichzeitig könnte die neue Klasse der Entwurzelten ihr Selbstbewusstsein finden und zu einer wirklich «gefährlichen Klasse» werden.

 

* Der Autor hat an der Universität Duisburg-Essen in politischer Wissenschaft promoviert und arbeitet als freier Schriftsteller in Hongkong.

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