dokumentiert
Noch vor dem SPD-Parteitag hat der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann SPD-Chef Martin Schulz für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen die Unterstützung der DGB-Gewerkschaften zugesagt. Dagegen regt sich jetzt Widerstand. Der Landesbezirksvorstand und die Gewerkschaftssekretäre der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Bayern haben einen Offenen Brief an Reiner Hoffmann gerichtet, in dem er hart angegangen wird. Wir dokumentieren (leicht gekürzt) dieses wichtige Dokument:
Lieber Reiner,
du hast am 15.1.2018 dem TV-Sender Phoenix ein vielbeachtetes Interview gegeben, in dem du dafür plädierst, «den Weg für Koalitionsverhandlungen nicht zu verschließen, sondern die Chance, die darin liegt, auch zu nutzen». Es seien «deutliche Vorteile für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erkennen», vergleiche man die Sondierung mit den Ergebnissen der Jamaika-Verhandlungen.
Grundsätzlich ist die Aussage, dass man in Verhandlungen mehr erreichen kann, als wenn man sie nicht führt, richtig. Deutlich auseinander liegen wir aber bei der Einschätzung, ob es sich wirklich auf der Grundlage dieses Sondierungspapiers um eine «Chance für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer» handelt. […]
Eines der wichtigsten Instrumente zum Stopp der Umverteilungsorgie von unten nach oben ist die Steuerpolitik. Alle unsere diesbezüglichen gewerkschaftlichen Forderungen, von der Erhöhung des Spitzensteuersatzes bis zur Vermögensteuer, sind derart unberücksichtigt, dass uns rätselhaft bleibt, woher der Optimismus rührt, dass zu diesem Themenkomplex in Koalitionsverhandlungen noch mal Bewegung zu erwarten wäre. Und das betrifft viele weitere Punkte: Sachgrundlose Befristungen bleiben legal. Die Eindämmung der Werkverträge, Verbot von OT-Mitgliedschaften* in Arbeitgeberverbänden, Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen – kein Wort dazu im Sondierungspapier. Die Beendigung der Repression durch Hartz IV, geeignete Maßnahmen zum effektiven Abbau der Langzeiterwerbslosigkeit, die leichtere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – nichts dazu. Eine signifikante Erhöhung des Mindestlohns einschließlich des Abschaffens der bisherigen Ausnahmen, die Ausweitung der Mitbestimmung bei wirtschaftlichen Angelegenheiten, die deutliche Weiterentwicklung des Entgelttransparenzgesetzes – alles das und noch einiges mehr, was für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine spürbare Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bedeuten würde – Fehlanzeige im Sondierungspapier…
Die Exzesse, die der Wirtschafts- und Finanzkrise vorausgingen, können ungebremst weitergehen, CETA wird als Bollwerk der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefeiert.
Wir alle sind mit klaren Forderungen zur Zukunft der Rentenversicherung angetreten. Weder die Mindestrente mit signifikantem Abstand zur Grundsicherung, noch die Forderung nach breiterer Basis der Einzahlenden finden sich in dem Sondierungspapier. Das zukünftige Rentenniveau soll unterhalb unserer Forderung und nur bis zum Jahr 2025 abgesichert sein. Bezahlbarer Wohnraum für alle, die Bürgerversicherung, die Stärkung der Pflegeberufe über die Stärkung der Ausbildung und die Einführung eines Pflegemindestlohns – dazu findet sich nichts oder nur in schwachen Dosierungen im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD.
Die Privatisierung der Daseinsvorsorge wird nicht nur nicht gestoppt und umgekehrt, sondern soll weiter fortgesetzt werden. Kostenlose Bildung von der Kita bis zur Uni, pädagogische Ganztagsbetreuung und die Aufwertung der Berufe im Erziehungsbereich sind in weite Ferne gerückt.
Anstatt geschlossen dem zum Teil offenen Rassismus in der Gesellschaft mit Haltung entgegenzutreten, wird der entsolidarisierenden CSU-Politik der Obergrenze für Flüchtlinge in der Sondierung erstaunlich weitgehend entsprochen. Damit wird das gewerkschaftliche Prinzip der Solidarität in einer Art und Weise angegriffen, die schon für sich genommen eine Aufforderung an die SPD zu Koalitionsverhandlungen von unserer Seite verunmöglichen müsste.
Aber selbst wenn wir unterschiedliche Einschätzungen haben in Bezug auf die «Chance für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer» durch Koalitionsverhandlungen: Wir sind die, die wir sind. «Hütet die Einheit wie euren eigenen Augapfel.» Hans Böcklers Satz, gesprochen vor dem Trümmerberg des Zweiten Weltkriegs, ist aktuell wie eh und je. Er ist gespeist von der bitteren Erkenntnis, dass die deutsche Gewerkschaftsbewegung die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit seinen verheerenden Folgen infolge ihrer Uneinigkeit nicht hat verhindern können.
Vor diesem Hintergrund halten wir, die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten im Landesbezirk Bayern, den von dir vorgenommenen Eingriff in die aktuelle Debatte der SPD für äußerst problematisch. Wir sind stattdessen der festen Überzeugung, dass wir unsere Inhalte, die bei den aktuellen politischen Mehrheitsverhältnissen immer den Charakter von Forderungen haben werden, klar und akzentuiert an jedwede zukünftige Regierungskoalition richten müssen.
Wenn wir dies nicht tun, und dies ist unser wichtigster Antrieb für diesen Offenen Brief des NGG-Landesbezirksvorstands Bayern, schaffen wir eine erhebliche und für uns politisch brisante Distanz zu einem überwiegenden Teil unserer Mitgliedschaft. In den letzten Tagen erleben wir von unseren Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben enorme Irritationen zu deinem Debattenbeitrag.
Unsere Aufgabe ist, zu sein, wer wir sind. Wir haben uns, egal gegenüber welcher Regierung, für unsere Interessen einzusetzen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir müssen die Kämpfe dieser Zeit annehmen und Solidarität, unsere einzige politische Option, organisieren.
Einheitsgewerkschaft sein heißt in diesem Sinne, den schweren Weg beschreiten, parteipolitisch ungebundene KollegInnen, ebenso wie parteipolitisch aktive KollegInnen bei Linken, Grünen, Union und SPD hinter unserem gemeinsamen Programm zu vereinen. Einheitsgewerkschaft sein heißt für uns akzeptieren, dass auch innerhalb der Mitgliedschaft der DGB-Gewerkschaften legitime Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Neuauflage einer Großen Koalition auf Grundlage des vorliegenden Sondierungspapiers bestehen. Wir verstehen diesen Brief als Einladung für eine offene Debatte zum aktuellen Thema der Regierungsbildung und zugleich zu unserem Selbstverständnis als Gewerkschaftsbewegung. Wir freuen uns auf deine Antwort.
München, 17.1.2018
* OT = ohne Tarifbindung
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