von Manfred Dietenberger
Der Abschluss der Koalitionsverhandlungen und der Metalltarifrunde sind zeitlich fast zusammengefallen. Sie zeigen beide in die gleiche Richtung: Verbesserungen im Kleinen, Rückschritte im Großen.
Die deutsche Wirtschaft läuft auf Hochtouren, auch die Lage der Weltwirtschaft wird gegenwärtig (Februar 2018) überwiegend in rosigen Farben gezeichnet: Steigendes Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosigkeit, niedrige Inflation usw. stimmen die meisten bürgerliche Wirtschaftsbeobachter optimistisch. Das erinnert an die Situation vor 2007 und dennoch weiß jeder: Die nächste, noch tiefere Krise kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.
Der eilt gegenwärtig eine tiefe, alle parlamentarischen Parteien durchdringende Legitimations- und Handlungskrise voraus. Die Mehrheit der Menschen in diesem Land traut der ganzen Führungskaste nicht mehr über den Weg, zu oft schon haben sich Wahlversprechen nach der Wahl in Luft aufgelöst. Die Mehrheit der Arbeiterklasse scheint zu ahnen, dass egal welche Parteien in welcher Konstellation auch immer die nächste Regierung bilden, für sie nichts Gutes dabei herauskommt. Das ganze politische System der BRD befindet sich deshalb in seiner tiefsten Krise seit der Nachkriegszeit.
Gleichzeitig haben die deutschen Gewerkschaften in dieser fragilen, hochgefährlichen Zeit ihren Millionen verunsicherten Mitgliedern keine unabhängige Alternative anzubieten. Sie orientieren sich stattdessen einmal mehr an der SPD, als wäre die noch ihr natürlicher Verbündeter von anno dazumal. Dabei befindet sich die SPD doch allerspätestens seit der Agenda 2010 in offener Frontstellung zu den Interessen der abhängig Beschäftigten, und die Gewerkschaften kämpfen im tagtäglichen Stellungskrieg mit den Folgen der arbeiterfeindlichen Politik der SPD und ihrer jeweiligen Koalitionspartner.
Dessen ungeachtet hat der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann seinem Genossen und SPD-Chef Martin Schulz für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen die Unterstützung der DGB-Gewerkschaften zugesagt, denn es seien «deutliche Vorteile für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erkennen». Und auch der jetzt ausgehandelte Koalitionsvertrag findet seine prinzipielle Zustimmung: «Die Beschäftigten bekämen mit einer Großen Koalition weit mehr, als mit Jamaika möglich gewesen wäre. Die Sozialdemokraten haben ihr Stimmgewicht gut eingesetzt», so Hoffmann.
Dem widersprachen der gesamte Landesbezirksvorstand und die Gewerkschaftssekretäre der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Bayern in Form eines geharnischten Offenen Briefs an Hoffmann:
«Lieber Reiner … eines der wichtigsten Instrumente zum Stopp der Umverteilungsorgie von unten nach oben ist die Steuerpolitik. Alle unsere diesbezüglichen gewerkschaftlichen Forderungen … sind derart unberücksichtigt, dass uns rätselhaft bleibt, woher der Optimismus rührt … Alles das und noch einiges mehr, was für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine spürbare Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bedeuten würde – Fehlanzeige. Anstatt geschlossen dem zum Teil offenen Rassismus in der Gesellschaft mit Haltung entgegenzutreten … wird der entsolidarisierenden CSU-Politik der Obergrenze für Flüchtlinge in der Sondierung erstaunlich weitgehend entsprochen. Damit wird das gewerkschaftliche Prinzip der Solidarität in einer Art und Weise angegriffen, die schon für sich genommen eine Aufforderung an die SPD zu Koalitionsverhandlungen von unserer Seite verunmöglichen müsste … Wir sind stattdessen der festen Überzeugung, dass wir unsere Inhalte, die bei den aktuellen politischen Mehrheitsverhältnissen immer den Charakter von Forderungen haben werden, klar und akzentuiert an jedwede zukünftige Regierungskoalition richten müssen … Unsere Aufgabe ist zu sein, wer wir sind. Wir haben uns, egal gegenüber welcher Regierung, für unsere Interessen einzusetzen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir müssen die Kämpfe dieser Zeit annehmen und Solidarität, unsere einzige politische Option, organisieren … Wir verstehen diesen Brief als Einladung für eine offene Debatte zum aktuellen Thema der Regierungsbildung und zugleich zu unserem Selbstverständnis als Gewerkschaftsbewegung. Wir freuen uns auf deine Antwort.»
Ob und wenn ja was, der DGB Bundesvorsitzende seinen bayrischen Kolleginnen und Kollegen geantwortet hat, ist nicht bekannt. Die Einladung der Kollegen sollte ab sofort von allen, die in diesem Land an einer solidarischen Gesellschaft interessiert sind, aufgegriffen werden. Es ist hohe Zeit, dass sich die Gewerkschaften wieder auf ihre eigene Kraft besinnen und sich nicht länger auf die Rolle als Lohnmaschine reduzieren.
Einen wichtigen Debattenbeitrag leistete Karl Marx dazu, als er feststellte: «Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals … Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.» (MEW 16:152.) 1866 kritisierte er in seinen «Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats» für den ersten Kongress der I.Internationale die Gewerkschaften, sie hätten sich bislang «zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten». Sie müssten aber lernen, «bewusst als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation» (MEW 16:197).
Der Platz hierfür kann künftig nicht mehr nur der Betrieb sein. Gewerkschaften nur als betriebliche Gegenmacht zu begreifen, reicht längst nicht mehr. Wenn die Gewerkschaften sich nicht endlich auch als politische und kulturelle Gegenmacht in den Kampf werfen, dann werden sie künftig immer weniger in der Lage sein, selbst ihre elementarsten Aufgaben, wie z.B. Lohnforderungen, Arbeitsplatzsicherung und sozialen Schutz durchsetzen können. Um aus dem Rückwärtsgang wieder in die Offensive zu kommen, müssen die Gewerkschaften sich wieder auf ihre eigene Kraft besinnen, müssen politischer werden. Von ihnen muss der Impuls ausgehen für eine außerparlamentarische Bewegung für eine Mensch und Natur achtende und liebende Republik. Ohne den Mut zum politischen Streik, ohne die Überwindung auch der kulturellen Verarmung der Gewerkschaften wird Kampf um ein besseres, sich in Einklang mit der Natur befindendes Leben in einer friedlichen Welt nicht zu gewinnen sein.
Dieser Anspruch ist leicht zu formulieren, doch Ansätze der Umsetzung sind nur schwer zu finden. Nicht grundlos, aber perspektivlos glauben daher immer noch viele Linke hierzulande, auch ohne oder gar gegen die Gewerkschaften eine solidarische, nicht am Profit sondern am Wohl von Mensch und Natur orientierte Gesellschaft erkämpfen zu können. Das war schon zu Marx’ Zeiten so: «Die Leute sehn … manches, was sie an ihrem bornierten Trades-Union-Standpunkt irremacht – und zudem, wo wollt Ihr denn einen recruiting ground finden, wenn nicht unter den Trades Unions?» (Friedrich Engels, MEW 38:17.)
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[…] Der Schlüssel liegt bei den Gewerkschaften “Der Abschluss der Koalitionsverhandlungen und der Metalltarifrunde sind zeitlich fast zusammengefallen. Sie zeigen beide in die gleiche Richtung: Verbesserungen im Kleinen, Rückschritte im Großen. (…) Das ganze politische System der BRD befindet sich deshalb in seiner tiefsten Krise seit der Nachkriegszeit. Gleichzeitig haben die deutschen Gewerkschaften in dieser fragilen, hochgefährlichen Zeit ihren Millionen verunsicherten Mitgliedern keine unabhängige Alternative anzubieten. Sie orientieren sich stattdessen einmal mehr an der SPD, als wäre die noch ihr natürlicher Verbündeter von anno dazumal. Dabei befindet sich die SPD doch allerspätestens seit der Agenda 2010 in offener Frontstellung zu den Interessen der abhängig Beschäftigten, und die Gewerkschaften kämpfen im tagtäglichen Stellungskrieg mit den Folgen der arbeiterfeindlichen Politik der SPD und ihrer jeweiligen Koalitionspartner. (…) Gewerkschaften nur als betriebliche Gegenmacht zu begreifen, reicht längst nicht mehr. Wenn die Gewerkschaften sich nicht endlich auch als politische und kulturelle Gegenmacht in den Kampf werfen, dann werden sie künftig immer weniger in der Lage sein, selbst ihre elementarsten Aufgaben, wie z.B. Lohnforderungen, Arbeitsplatzsicherung und sozialen Schutz durchsetzen können. Um aus dem Rückwärtsgang wieder in die Offensive zu kommen, müssen die Gewerkschaften sich wieder auf ihre eigene Kraft besinnen, müssen politischer werden. Von ihnen muss der Impuls ausgehen für eine außerparlamentarische Bewegung für eine Mensch und Natur achtende und liebende Republik. Ohne den Mut zum politischen Streik, ohne die Überwindung auch der kulturellen Verarmung der Gewerkschaften wird Kampf um ein besseres, sich in Einklang mit der Natur befindendes Leben in einer friedlichen Welt nicht zu gewinnen sein…” Artikel von Manfred Dietenberger in der Soz Nr. 03/2018 […]
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