von Tariq Ali
In SoZ 11/2017 berichteten wir über die Abschaffung der zaristischen Gesetze nach der Oktoberrevolution, mit denen die Frauen unterjocht worden waren. Weitaus schwerer als die Abschaffung der Gesetze war jedoch die Ausrottung der patriarchalischen Sitten und Denkweisen, die bis weit in die Reihen der Bolschewiki selbst hineinreichten. Um sie zu bekämpfen, wurde eine eigene Frauenabteilung gebildet, die elf Jahre existierte und sich das Ziel setzte, Arbeiterinnen und Bäuerinnen für die Selbstbefreiung der Frau zu gewinnen.*
Wenige Monate nach dem Oktoberaufstand wurden alle Familiengesetze und die Kriminalisierung der Sodomie aus der Zarenzeit per Dekret abgeschafft. Frauen waren rechtlich nicht länger schlechter gestellt, sie hatten dieselben Rechte wie Männer. Die kirchliche Trauung war ungültig, nur die standesamtliche Trauung hatte Gültigkeit vor dem Gesetz. Scheidung war möglich, wenn ein Ehepartner sie verlangte, es mussten dafür keine besonderen Gründe angegeben werden. Auch Unterhaltszahlungen waren für beide Partner gleich geregelt. Die jahrhundertealten Eigentumsrechte, die die Männer privilegiert hatten, wurden abgeschafft, damit auch das Stigma der Unehelichkeit. Alle Kinder bekamen gleiche Rechte zugesprochen, gleich ob sie ehelich geboren waren oder nicht. Das bedeutet eine radikale Abkehr von europäischen Gesetzen, da Familienpflichten nunmehr unabhängig vom Ehestand galten. Private Adoptionen waren untersagt mit der Begründung, der neue Staat werde besser für die Kinder sorgen als die Familien. Bei der Übermacht der Bauernschaft bestand die Befürchtung, dass ansonsten die Kinderarbeit auf dem Land begünstigt würde. Weitblickende Erzieher argumentierten, die Abschaffung der privaten Adoption sei ein Übergang zur allgemeinen staatlichen Kinderbetreuung.
Kritiker der neuen Regeln bezeichneten diese als eine Kapitulation vor bürgerlichen Normen. Alexander Goichbarg, Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Justiz der RSFSR, schrieb: «Sie beschimpften uns: ‹Die schriftliche Eintragung der Ehe, die formale Ehe, was ist das für ein Sozialismus?›»
Und N.A.Roslawez, ukrainische Delegierte zum Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der Sowjets 1918, auf dem das neue Gesetz diskutiert wurde, lehnte es vehement ab, dass der Staat überhaupt irgendetwas mit der Ehe zu tun haben sollte. Das sollte eine individuelle Entscheidung sein und bleiben. Sie geißelte das neue Gesetz als «bürgerliches Überbleibsel» und beendete ihre Rede mit dem Satz: «Ich kann nicht verstehen, warum dieses Gesetz den Zwang zu Monogamie errichtet.»
Goichbarg bat um Verständnis dafür, dass der Hauptgrund, warum es ein säkulares Ehegesetz geben musste, der war, damit Menschen, die ihre Ehe eintragen lassen wollten, dies an einer anderen Stelle als bei der Kirche tun könnten. Würde der Staat ihnen diese Möglichkeit nicht bieten, würde es, besonders auf dem Land, heimliche kirchliche Eheschließungen geben. Er konnte sich mit diesem Argument durchsetzen, aber nur nach heftiger Debatte.
Im Jahr 1919 schuf die Revolutionsregierung die Shenotdel (Frauenabteilung), die Abteilung für Arbeit unter Arbeiter- und Bauersfrauen, deren Ziel war die Selbstbefreiung der Frauen. Ihre Führung bestand aus Frauen, die bereits in den Jahren vor der Revolution auf diesem Gebiet aktiv gewesen waren: Inessa Armand, Alexandra Kollontai, Sofia Smidowitsch, Konkordia Samoilowna und Klawdija Nikolajewa, und ein Verständnis für die besonderen Anliegen der Frauen hatten. Für die Mehrzahl der Frauen war Frauenbefreiung kein Thema. Sozialdemokratinnen, auch Vera Sassulitsch und Rosa Luxemburg, betrachteten das als eine Ablenkung von den gigantischen Aufgaben, vor denen die Menschheit stand.
Utopistinnen?
Die Frauen der Shenotdel sahen sich selbst jedoch nicht als Utopistinnen. Sie glaubten einfach nur daran, dass Frauenemanzipation eine der Aufgaben der Revolution war. Keine von ihnen dachte, sie könne schnell, gar noch zu ihren Lebzeiten erreicht werden, aber ein Anfang musste gemacht werden, sonst wäre das Thema wieder im Orkus verschwunden. Und es brauchte Sofortmaßnahmen, um Hausarbeiten und Kinderbetreuung an staatliche Institutionen zu übertragen.
Die Frauen wollten, dass die kommunalen Verwaltungen lokale Einrichtungen zur Verfügung stellten, etwa kostenlose Kindertagesstätten, öffentliche Kantinen und Waschsalons. Darüber gab es hitzige Debatten. In seiner Grußadresse an eine Frauenkonferenz im September 1919 argumentierte Lenin, dass die Forderungen und die Tätigkeit der Shenotdel eine Arbeit seien, «die keine schnellen Ergebnisse zeitigt und auch keine glanzvollen Effekte verheißt». Trotzki argumentierte ähnlich in verschiedenen Zeitungsartikeln und zitierte dabei zahlreiche Beispiele aus dem Arbeiterleben, die nahelegten, hier müsse mit Vorsicht ans Werk gegangen werden. Zugleich räumte er jedoch ein, dass abstrakte Propaganda allein nicht ausreichen werde, um das Geschlechterverhältnis zu ändern.
Tatsächlich waren es die alten Bolschewiki (Männer und Frauen), die die Utopisten waren. Die Abschaffung des Privateigentums reichte nicht aus. Der Siegeszug des Konservativismus in der Sowjetunion nach 1930 führte zu einem «sexuellen Thermidor»: Die traditionellen Frauenrollen gewannen wieder die Oberhand, ganz ohne eine Änderung der Gesetze, mit Ausnahme der Homosexualität, die 1934 wieder unter Strafe gestellt wurde. Im glatten Gegensatz dazu wurden die praktischen Vorstellungen der Shenotdel nach dem Ende des Bürgerkriegs von Architekten umgesetzt, die neue Wohnungen für Arbeiter bauten.
Auf gesamtstaatlicher Ebene waren die Mitglieder der Shenotdel äußerst engagiert darum bemüht, dass Frauen nicht übergangen würden, wenn es um die Mitarbeit in den militärischen Revolutionskomitees, den lokalen Partei- und Gewerkschaftsapparaten oder der politischen Abteilung der Roten Armee ging. Die Teilnahme russischer Frauen an den Partisanenkriegen und terroristischen Untergrundaktivitäten in der Zarenzeit dienten als Beispiel dafür. Bäuerinnen hatten 1812 oft französische Soldaten umgebracht, die von der napoleonischen Armee getrennt worden waren, mit Sensen und Mistgabeln, oder manchmal auch, indem sie sie lebendig verbrannten.
Im Bürgerkrieg dienten viele Frauen als politische Kommissare oder als Krankenschwestern in den Feldlazaretten. Das Partisanenleben war hart, aber Frauen schätzten die Gleichbehandlung mit Männern, die sie dort erlebten, das wiederholte sich im Zweiten Weltkrieg. Die Weißgardisten behandelten gefangene Krankenschwestern deshalb mit besonderer Brutalität. Tausende Frauen leisteten Wehrdienst in der Roten Armee, sie kämpften an jeder Front und mit jeder Waffe, dienten als Gewehrfrauen, als Kommandantinnen von Panzerzügen, Kanonierinnen. Sie wurden auch Spioninnen. Lenin war äußerst beeindruckt von Berichten aus Odessa und Baku, wie die gebildeteren Frauen in der Roten Armee den französischen und britischen Soldaten entgegengetreten waren, die an der Seite der Weißen kämpften, und ihnen in Soldatensprache darlegten hatten, warum sie gegen ausländische Intervention waren. Er ordnete an, dass eine Spezialschule für Spionage und Desorganisation geschaffen werde. Diejenigen, die diese Schule absolvierten, darunter viele Frauen wie die talentierte Larissa Reissner, bildeten das Erste Partisanenkommando für besondere Aufgaben.
Widerstand
An anderen Fronten des Emanzipationskampfs stießen die bolschewistischen Feministinnen auf ernsthaften Widerstand. Es gab große Probleme, wenn sie einfache Büros im Kaukasus oder in Zentralasien oder selbst in der Ukraine errichten wollten. Die Frauen vor Ort waren verängstigt und scheu. Die Männer drohten den Feministinnen mit Gewalt, selbst wenn ihre Frauen nur eingeladen waren, in einem der Lesekabinette der Shenotdel lesen zu lernen. Nach einem Besuch im Kaukasus 1920 berichtete Clara Zetkin der Hauptgeschäftsstelle der Shenotdel, was Frauen ihr gesagt hatten, nachdem sie wochenlang versuchte hatte, sie zum Reden zu bringen:
«Wir waren schweigende Sklavinnen. Wir mussten uns in unseren Räumen verstecken und vor unseren Männern katzbuckeln, die unsere Herren waren. Unsere Väter hatten uns im Alter von zehn Jahren oder noch jünger verkauft. Unsere Männer schlugen uns mit dem Stock und verprügelten uns, wie es ihnen passte. Sie verkauften unsere Töchter, die uns eine Freude und Hilfe im Haushalt waren, wie man uns verkauft hatte.»
Die Arbeit der Shenotdel auf der unteren Ebene trug im ganzen Land unzweifelhaft Früchte. Sie legte die Grundlagen für ein striktes System der Geschlechtergleichheit, selbst im rückständigsten Gebiet der jungen Sowjetunion. Diese mutigen und selbstsicheren Frauen stellten sich den Männern frontal entgegen, ohne Waffen und Beschützer. Drei führende Mitglieder der Shenotdel wurden «von Banditen» erschlagen. Mitten in einer muslimischen Stadt hatten sie einen Film über eine heroische Muslimin gezeigt, die sich weigerte, einen alten Mann zu heiraten, der sie gekauft hatte. In Baku wurden Frauen nach einem Besuch des Shenotdel-Clubs von Männern mit wilden Hunden gejagt und ihre Gesichter mit kochendem Wasser verbrüht. Eine 20jährige Muslimin, die stolz darauf war, dass sie sich befreit hatte, ging im Schwimmanzug in eine Badeanstalt. Sie wurde von ihrem Vater und den Brüdern zerstückelt, weil sie «ihre Würde verletzt» hätte. Allein in drei Monaten des Jahres 1929 gab es 300 ähnliche Mordanschläge.
Doch trotz des patriarchalischen Terrors haben die Frauen am Ende gewonnen. Hunderte Musliminnen und andere Frauen aus diesen Regionen meldeten sich freiwillig als Übersetzerinnen und Büroarbeiterinnen in den Büros der Shenotdel. Und es gibt äußerst anrührende Berichte darüber, wie zu jedem 1.Mai und Internationalen Frauentag Tausende Frauen freiwillig und frech ihre Schleier ablegten. Sie schauten niemals zurück. Selbstbefreiung war der Weg, den die Shenotdel anregte, und nicht staatliche Bevormundung. Und so geschah es.
Eine Reihe führender Bolschewiki traten gegen die Shenotdel auf. Rykow etwa, der viel mit den vorwiegend männlichen Gewerkschaften zu tun hatte, forderte, die Shenotdel aufzulösen, weil sie die Gesellschaft spalte. Sinowjew stellte sich sogar gegen den Frauenkongress von 1919. Andere wollten ihn nutzen, um bolschewistische Frauen in diese Struktur abzuschieben und «die wirkliche Partei» den Männern zu überlassen, was mehr oder weniger sowieso der Fall war. Jelena Stassowa, die Sekretärin des Petrograder Parteikomitees im Oktober 1917, verlor ihr Amt, als die Hauptstadt nach Moskau verlegt wurde. Darüber war sie wütend und weigerte sich, zur Shenotdel abgeschoben zu werden, daraufhin wurde sie eine der politischen Sekretärinnen im Büro Lenins.
Lenin
Lenin selbst verteidigte die Shenotdel vehement gegen jeden Versuch, deren Kompetenzen zu beschneiden. In seinem wahrscheinlich letzten Interview zu dem Thema, das er Clara Zetkin gab, reagierte er ärgerlich, als sie ihm sagte, viele «gute Genossen» seien dagegen, dass die Partei besondere Strukturen für die «systematische Arbeit unter Frauen» schaffe. Sie würden argumentieren, jeder müsse sich emanzipieren, nicht nur die Frauen, Lenin habe sich in dieser Frage dem Opportunismus ergeben. Zetkin schrieb:
«‹Das ist nichts Neues und kein Beweis›, meinte Lenin. ‹Ihr dürft euch dadurch nicht beirren lassen. Warum haben wir nirgends – nicht einmal bei uns in Sowjetrussland – ebensoviel Frauen als Männer in der Partei? Warum ist die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen so klein? Die Tatsachen geben zu denken … Es ist daher auch richtig, dass wir Forderungen zugunsten der Frauen erheben … Unsere Forderungen sind nur praktische Schlussfolgerungen, die wir aus den brennenden Nöten, den schändlichen Demütigungen der Frauen als Schwache und Rechtlose in der bürgerlichen Ordnung ziehen. Wir beweisen dadurch, dass wir diese Nöte kennen und die Demütigungen der Frau, das Vorrecht des Mannes fühlen. Dass wir alles hassen, jawohl, hassen und beseitigen wollen, was die Arbeiterin, die Arbeiterfrau, die Bäuerin … ja in mancher Beziehung sogar auch die Frauen der besitzenden Klassen drückt und quält.›» [Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. In: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd.3. Berlin 1960. S.146f.]
* Der Text ist dem neuen Buch von Tariq Ali, The Dilemmas of Lenin (London: Verso, 2017), entnommen.
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