von Ingo Schmidt
Verunsichert steht das politische Establishment vor seinem Wahlvolk. Es ist stolz, das Land mehr oder minder unbeschadet durch Börsenkrach und Eurokrise gesteuert und dann noch einen Superaufschwung aufs Gleis gebracht zu haben. Und fragt sich: Wieso wählen die jetzt AfD? Kaum, dass wir uns an DIE LINKE gewöhnt haben? Und erklären am Ende von oben herab: Die Populisten sind eine Gefahr für Demokratie und Weltmarkt. Die darf man nicht wählen.
Die so Gescholtenen freut es. Lebt doch der Populismus davon, im Namen machtloser Massen eine abgehobene Elite anzuklagen. Der von oben dekretierte Antipopulismus bestätigt die Arroganz der Macht aufs Neue, ist aber zugleich ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Und nicht der einzige.
Den Populismus in Worten zu verdammen, aber Teile seines Programms umzusetzen, trägt auch nicht gerade zur Glaubwürdigkeit bei. Überraschen kann dieses Falschspiel nicht. Rassismus und Nationalismus, den die Populisten vom Schlage der AfD zur Schau stellen, haben ihre Wurzeln im Liberalismus, dem neuen wie dem alten, in dessen Namen kapitalistische Eliten ihre Regierungsgeschäfte treiben. In Anlehnung an Max Horkheimers berühmtes Diktum könnte man sagen: Wer vom Liberalismus nicht reden will, sollte auch von Rassismus und Nationalismus schweigen.
So hilflos der Antipopulismus des neoliberalen Establishments gegen rechts ist, so wirkungsvoll schwächt er die Linke. Wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges gilt wieder «rechts gleich links». Der Rechtspopulismus versteht sich als Vertretung eines Volkes, das anderen Völkern qua Geburt oder kultureller Prägung überlegen ist, von den herrschenden Eliten aber an minderwertige Völker verraten wurde. Schutz des eigenen Volkes ist seine Parole. Demgegenüber sieht der Linkspopulismus im Volk arbeitende Menschen, die von den Früchten ihrer Arbeit wenig abbekommen und politisch nichts zu sagen haben. Dieses arbeitende Volk mag, wie der Dritte Stand im revolutionären Frankreich des späten 18.?Jahrhunderts, politische Repräsentation auf einem bestimmten Territorium fordern. Dennoch zielen seine Bestrebungen nicht auf Abschluss von Grenzen und Ausschluss anderer Völker.
Rechts = links, eine alte Masche
Die Forderungen des Dritten Standes fanden einen Wiederhall in den bürgerlichen Revolutionen im Europa des 19.Jahrhunderts und den revolutionären Bewegungen des 20.Jahrhunderts, die die Befreiung der Dritten Welt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Forderungen des Dritten Standes in Frankreich vorantrieben. Was, wenn nicht populistisch, waren diese Massenbewegungen im 18. und 19.Jahrhundert in Europa und im 20.Jahrhundert in den von Europa unterworfenen Kolonien?
In der jüngsten Vergangenheit ist zudem ein Linkspopulismus entstanden, der das Unbehagen an der zunehmenden Ungleichheit mobilisierungswirksam in den Slogan «Wir sind die 99 Prozent» übersetzte. Die Ausbreitung dieses Linkspopulismus zu verhindern, ist ein Hauptziel des in Bedrängnis geratenen, neoliberalen Establishments. Schließlich könnte hieraus eine sozialistische Alternative erwachsen, die den Kapitalismus nicht nur in seiner neoliberalen Form in Frage stellt.
Die Neuauflage der Totalitarismustheorie blockiert eine solche Entwicklung. Wer Sympathien für den Populismus von links hat, aber Angst, sich in die rechte Ecke gestellt zu sehen, wird sich des linken Engagements enthalten. Genauso wie Menschen, die in der linken Abgrenzung vom Populismus jeglicher Couleur eine Annäherung an den Neoliberalismus sehen, gegen den die Linke doch eigentlich mobilisieren wollte.
Der totale Markt
Wieso ist der Populismus der Rechten ein Kind des Neoliberalismus? Eine erste Antwort hierauf gibt die Verwandlung des Neoliberalismus von einer Wirtschaftstheorie, die eine kleine Zahl von Professoren im exklusiven Kreis seit den 1940er Jahren erarbeitet hat, in eine Massenideologie. Ohne die Übersetzung des akademischen Duktus in die Alltagssprache des gesunden Menschenverstands und seine massenmediale Verbreitung wäre dies nicht möglich gewesen. Ohne das Anknüpfen an und die Umdeutung der Staatskritik der Neuen Linken, die in den 1970er Jahren über Studierstuben hinaus zum Grundkonsens verschiedenster Protestbewegungen geworden war, wohl auch nicht.
Herausgekommen ist eine Übersetzung altlinker Vorstellungen vom Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten in die Behauptung, der Staat, genauer: der Sozialstaat samt der ihm verbündeten Gewerkschaften, nutze seine Monopolstellung zur Ausbeutung wehrloser, aber hart arbeitender Steuerzahler aus.
An diese Behauptung wurde das Versprechen geknüpft, durch Befreiung von Steuern und Regulierungen einen größeren Wohlstand erringen zu können. Mit dem Ende staatlicher Bevormundung würden dem Individuum zudem seine unveräußerlichen Freiheitsrechte wiedergegeben. Garant der Freiheit, das Leben nach eigener Façon gestalten zu können, sei der Markt. Dessen eherne Gesetze seien allerdings strengstens einzuhalten.
Neben das Freiheitsversprechen trat noch der Zwang, sich am Markt zu behaupten. Auf allen Ebenen: als Individuum im Kampf um den Arbeitsplatz, als Betrieb im Wettbewerb mit anderen Firmen, und als Standort im Kampf gegen andere Nationen. Unter dem Druck einer um ein strategisches Ziel vereinten Kapitalistenklasse lösten sich vormals organisierte Arbeiterklassen immer mehr in ihre individuellen Bestandteile auf: sie wurden vereinzelte Verkäufer von Arbeitskraft.
Zuflucht findet das Individuum nur noch in der Wertschöpfungsgemeinschaft, sei es im Betrieb oder im Wettbewerbsstaat. Allerdings erfordert die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft die dauernde Mobilisierung der Arbeitskraft oder besser der gesamten Persönlichkeit. Anders kann man im Wettbewerb nicht bestehen. Der Ausgang des Menschen aus sozialstaatlicher Unmündigkeit führt nicht ins Reich der Freiheit, sondern zum Gefühl dauernder Überforderung und zu Versagensängsten. Vorübergehende Entlastung bietet der Hass auf die Konkurrenz oder die «ganz anderen», die der Konkurrenz bereits erlegen sind.
Die Angst vor der Wiederkehr des Proletariats
Je grobmaschiger das soziale Netz wird, umso mehr führt das rationale Abwägen von Aufwand und Ertrag verschiedener Kaufs- und Verkaufsoptionen zu Ohnmachtsgefühlen sowie individuellen und kollektiven Abstiegsängsten. Unten fürchten sie um die Bewilligung der Stütze, in den nächsten Etagen um den Verlust des Arbeitsplatzes sowie des damit gegebenenfalls verbundenen Ansehens, und oben fürchten sie um ihre Spitzenstellungen. In der Mitte und oben mögen Angst vor und Ablehnung von Arbeitslosen, Flüchtlingen und Billiglohnarbeitern weniger verbreitet sein als unten, dafür grassiert die Angst vor dem Untergang des Westens. Die neoliberale Globalisierung liefert Standortnationalismus und Rassismus in vielerlei Ausführungen frei Haus.
Es gibt unter den Reichen und Mächtigen allerdings noch eine andere Angst: Dass die aus der Konkurrenz geborenen Rassismen und Nationalismen überwunden und durch eine neue Klassenpolitik von unten ersetzt werden. «Den Chinesen» vorzuhalten, dass sie «unsere Firmen» aufkaufen, ist rassistisch. Aber verfängt nur teilweise. Die meisten Leute wissen schon, dass ihnen die Firma nicht gehört. Dafür wissen sie oftmals nicht, wer eigentlich die großen Aktienpakete «ihrer» oder irgendeiner anderen Firma besitzt. Im Zweifel ziehen sie die Übernahme durch ausländische Eigentümer einer echt deutschen Betriebsschließung vor. Quer zu den Nuancen der Einkommensschichtung und biologistischen und kulturellen Identitätskämpfen gibt es auch ein weit verbreitetes Verständnis der Trennungslinien zwischen Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht.
Wer ist «wir»?
Hier setzt der Linkspopulismus mit seinem «Wir sind die 99 Prozent» an und das wird auch verstanden. Ein guter Ausgangspunkt, um sich darüber zu verständigen, ob zu denen da oben nicht doch ein paar mehr gehören als das eine Prozent. Und der Frage nachzugehen, wie viele in der Mitte ihre Großmutter verkaufen würden, um sich denen oben anzudienen. Daraus könnte eine Klassenpolitik von unten erwachsen. Diese wird aber dadurch behindert, dass sich weite Teile der Linken in eine unselige Debatte haben hineinziehen lassen, ob «wir» das mit den Flüchtlingen schaffen oder nicht.
Einige wollen an das verbreitete Gefühl anknüpfen, das wir es nicht schaffen, lassen aber im unklaren, wie die rechts Angeköderten nach links gezogen werden können. Andere wittern in einem so verstandenen Linkspopulismus den Ausverkauf an die Rechte und schlagen sich im Namen des Antipopulismus auf die Seite des «Wir schaffen das». Auf beiden Seiten dieser Debatte wird aber das wertschöpfungsgemeinschaftliche «Wir» reproduziert, das es zu überwinden gilt.
Auf Seiten der «Wir schaffen das»-Linken wird zudem übersehen, dass der tatsächlich vorhandene Reichtum, selbst wenn man dessen Verteilung außer acht lässt, unter anderem durch die neokoloniale Ausplünderung geschaffen wird, vor der so viele Menschen fliehen. Deren Überwindung ist seit dem Scheitern der Revolutionen in der damaligen Dritten Welt aber zu einem linken Randthema herabgestuft. Um noch einmal Horkheimer zu variieren: Wer von Klassenpolitik und Neokolonialismus nicht reden will, sollte auch vom Antipopulismus schweigen.
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