von Manuel Kellner
Wahlumfragen sind Momentaufnahmen mit Fehlertoleranzen von bis zu 3 Prozentpunkten. Immerhin spiegeln sie Trends. So ist die Talfahrt der SPD spektakulär. In der Umfrage vom 19.?Februar wird sie bereits von der AfD überholt (16 Prozent) und kommt nur noch auf 15,5 Prozent. Gibt es eine Grenze für den Fall?
In derselben INSA-Umfrage kommen die Unionsparteien auf 32 Prozent, die FDP auf 9 Prozent (beide liegen also etwas schlechter als bei den Bundestagswahlen im September 2017), die Grünen verbessern sich auf 13 Prozent (gegenüber 8,9 Prozent bei den Bundestagswahlen). DIE LINKE steht mit 11 Prozent ebenfalls etwas besser da (9,2 Prozent bei den Bundestagswahlen).
Hier drängen sich eine Schlussfolgerung und eine Frage auf. Erstens: Auch mathematisch Minderbegabte wie ich erkennen, dass die sogenannte Große Koalition bei Wahlen heute gar keine Mehrheit mehr hätte – Unionsparteien und SPD zusammen kämen im Bundestag nur noch auf 47,5 Prozent der Abgeordneten! Zweitens: Wieso profitiert DIE LINKE so wenig vom wahlpolitischen Sinkflug der SPD?
Die Antworten darauf von Linken innerhalb und außerhalb der Partei sind Legion. Ich habe rumgefragt. Hier eine Blütenlese in beliebiger Reihenfolge, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Wertung: weil sie die «neoliberalen» offenen Grenzen propagiert; weil sie sich von den Sorgen und Nöten der kleinen Leute entfernt hat; weil sie nicht genug «populistisch» ist; weil sie nicht das bedingungslose Grundeinkommen fordert; weil ihre Mitglieder zu sehr auf Mandate und Ämter schielen; weil sie außerparlamentarische Aktion vernachlässigt; weil sie sich nicht in Betrieben und Stadtteilen verankert; weil ihre Antworten nicht greifbar und konkret genug sind; weil ihre Vorschläge unrealistisch sind; weil sie selber zu den Etablierten gehört, auf Landesebene mitregiert und auf das Mitregieren auf Bundesebene scharf ist; weil sie nicht klar genug antikapitalistisch ist.
Manche sagen auch, Wahlen wären bürgerlich, sonst wären sie verboten, und es sei schon sehr bedenklich, dass ich überhaupt Wahlergebnisse und Wahlumfragen zum Ausgangspunkt für politisches Nachdenken nehme. Mit Verlaub, bevor es bei uns in Deutschland wieder wie vor hundert Jahren flächendeckend Räte gibt, ist dieser Einwand ein wenig unpolitisch.
Natürlich sollte linke Politik nicht mögliche Wahlergebnisse in den Vordergrund stellen. Auf die Inhalte kommt es an und auf die Verbreitung linker Vorstellungen. Die dürfen nicht pragmatischen Erwägungen geopfert werden. Ohne einen massiven Aufschwung des Protests und des Klassenkampfs von unten für solidarische Lösungen können die Kräfteverhältnisse nicht nachhaltig geändert, kann auch den Rechten nicht das Wasser abgegraben werden. Solche Massenaktivitäten also muss linke Politik befördern, auch mit Vorschlägen zu breiter gemeinsamer Aktion.
Um populär zu werden, muss man nicht populistisch sein und den rechten Demagogen in der Flüchtlingsfrage nachgeben. Corbyn in England hat das gezeigt. Zum Rückzug auf widersinnig national definierte Klasseninteressen (oder Interessen nur der deutschen «kleinen Leute») gibt es eine internationalistische Alternative: den grenzüberschreitenden Kampf für internationale soziale Mindeststandards, existenzsichernde Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. In Europa und weltweit. In den Industriebranchen. In der Containerschifffahrt. In internationalen Bewegungen für die Interessen der Kriegsopfer, der Hungernden, Armen und Unterdrückten.
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