von Werner Seppmann*
Marx ist wieder in aller Munde, aber die wenigsten wollen an ihm anknüpfen.
Die Feststellungen über den «Tod des Marxismus» nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks waren etwas verfrüht. Dafür hat schon der vermeintliche «Sieger» in der Systemkonfrontation gesorgt: Sowohl die Hoffnung auf eine «Friedensepoche» wurde enttäuscht – durch einen neuen Schub militärischer Interventionen – wie auch der Traum einer grenzenlosen ökonomischen Prosperität durch die große Krise zerstört. Die globale Katastrophenentwicklung auf sozialem, ökologischem und zivilisatorischem Gebiet eskalierte weiter, dennoch blieb die Macht der Kapital-Agenten nicht nur unangetastet, sondern ist in einem historisch beispiellosen Maße weiter gewachsen, nicht zuletzt aufgrund veränderter Verwertungsformen des Kapitals, die ihren unmittelbaren Ausdruck in der Internationalisierung der Finanzströme und auch der Arbeitsmärkte gefunden hat, wodurch die Arbeitskraftverkäufer nun weltweit gegeneinander ausgespielt werden können. Durch die Digitalisierung können diese Vorgänge nun auf einer historisch beispiellosen Stufe der Intensität organisiert werden.
Mit zunehmender Dominanz der hässlichen Seiten des Kapitalismus hat sich auch der vor einem Vierteljahrhundert schon totgesagte Marxismus wieder belebt. Viele Menschen, die wissen wollen, warum die eklatanten sozialen Widersprüche nicht nur an den «Rändern» des imperialistischen Weltsystems, sondern zunehmend auch wieder in den Metropolen zu den Begleiterscheinungen des Kapitalismus gehören, haben schnell gemerkt, dass sie an Marx und seinen Analysen der destruktiven Entwicklungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften nicht vorbeikommen, wenn sie wissen wollen, was mit ihnen selbst geschieht.
Theoretischer Reduktionismus
Besonders auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurde der Bezug auf «Marx» fast so etwas wie ein Modetrend. Vieles war Rhetorik, aber es gab auch die Renaissance einer Kapital-Lektürebewegung – und keineswegs nur an den Hochschulen. Was sich entwickelte, war mehr als nur ein Strohfeuer, und dennoch blieb die Breitenwirkung gering. Nicht zuletzt deshalb, weil die Marxismusbeschäftigung mit ihren vielen Auffächerungen zu einem Jahrmarkt der Beliebigkeit degeneriert war und nur wenig verlässliche Orientierungsmöglichkeiten bot. Der Marxismus war von Interpretationsvarianten umstellt, die ihn intellektuell und politisch neutralisierten.
So verbreitet ein einflussreicher Strang ökonomischer Marxismusbeschäftigung die Auffassung, zwischen einer vorgeblichen «wissenschaftlichen» und einer praxis- und gegenwartsorientierten Vorgehensweise müsse strikt getrennt werden. «Erfolgreich» war bei diesem Bemühen besonders die sogenannte Neue Marx-Lektüre-Bewegung, deren ausdrückliches Ziel darin besteht, die Marxsche Ökonomiekritik ohne Realitätsbezug zu interpretieren.
Diese Rezeptionsbewegung rennt offene Türen ein, weil sie das verbreitete Bedürfnis nach einem «alternativen Denken» bedient, ohne auf den Veränderungsimperativ des Marxschen Denkens zu verpflichten und ohne auf die konkreten gesellschaftlichen Konfliktlinien Bezug zu nehmen. Es komme darauf an, so sagt es einer ihrer Wortführer, Marx von «der Revolutionsperspektive» zu trennen. Folglich begnügt man sich mit einer abstrakten Infragestellung des Bestehenden, die keine Frage nach den Klassenkampfperspektiven mehr zulässt.
Aufbauen konnte diese Bewegung auf dem intensiven Bemühen um die Entsorgung des Marxismus durch die strukturmarxistische Denkschule des ehemaligen PCF-Theoretikers Louis Althusser, vor allem durch ihre Negierung der Grundprinzipien des Historischen Materialismus und der materialistischen Dialektik. Althusser stellt die Kerngedanken der Marxschen Gesellschaftstheorie in Frage und propagiert das Zerrbild des Sozialen als eines bloßen Funktionszusammenhangs: Die Menschen könnten ausschließlich als «Gefangene von Texten und Rollen, deren Autoren sie nicht sein können» (Althusser), begriffen werden.
Der Gegensatz zu Marx könnte größer nicht sein, denn dieser analysiert das gesellschaftliche Geschehen als Beziehungsverhältnis, in dem die subjektive Tätigkeit ebenso Bedingung für das Entstehen der objektiv-gesetzlichen Entwicklungen ist, wie umgekehrt die objektiven Verhältnisse der unüberschreitbare Rahmen für die subjektive Tätigkeit sind: So «wie die Gesellschaft den Menschen als Menschen produziert … [ist] sie durch ihn produziert» (Marx). Da dieser Bedingungszusammenhang durch die Althussersche Konstruktion von vornherein ausgeschlossen und das Subjekt zum bloß Unterworfenen stilisiert wird – da «die Produktionsverhältnisse (und die politischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft) … die wahren Subjekte» seien –, «leistet» Althusser genau das, was es nach der begründeten Marxschen Auffassung für den Vertreter einer historisch-dialektischen Sozialauffassung «vor allem zu vermeiden [gilt, nämlich] die ‹Gesellschaft› wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren». Sein ehemaliger Mitarbeiter J.Rancière trifft den Kern der Sache, wenn er sagt, dass Althusser «die Vorstellung einer großen despotischen Maschine [propagiert], die jedes Individuum ihrem Funktionieren unterwirft».
Weil die strukturmarxistische «Interpretationsvariante» faktisch die Restauration eines überkommenen Ökonomismus und Dogmatismus bedeutet, mit deutlichen Spuren bis hin zu den stalinistischen «Interpretationsvorgaben» (vor allem die Negation der Dialektik und die Diskriminierung der Entfremdungstheorie), ist es geradezu absurd, wenn Wolfgang Fritz Haug, Herausgeber eines sogenannten «Kritischen Wörterbuchs des Marxismus», aber auch viele der darin vertretenen Autorinnen und Autoren, darin eine «Neufundierung des Marxismus» sehen wollen.
Entsorgungen des Marxismus
Doch auch die intellektuellen Konkursverwalter der sozialtheoretischen «Frankfurter Schule», die sich hochstaplerisch «Neuere kritische Theorie» nennen (mit den Galionsfiguren Habermas und Honneth), waren nach der Weltwirtschaftskrise zur Stelle, um dem sich aufkeimenden antikapitalistischen Orientierungen den kritischen Stachel zu nehmen. Sie bewegten sich damit im Windschatten der Schulgründer Horkheimer und Adorno, die ebenfalls immer peinlichst darum bemüht waren, dass aus ihren durchaus radikalen Erkenntnissen (die immer noch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis spätimperialistischer Verhältnisse leisten können), keine praktischen Schlussfolgerungen gezogen wurden! Eine Tendenz zum Opportunismus gehört also auch in die Traditionslinie von «68».
Während vor allem Honneth noch vor zwei Jahrzehnten bereitwillig in den Chor des Hinscheidens des Marxismus einstimmte, war er bei der sich aufbauenden Welle der Marx-Beschäftigung nach 2008 prompt zur Stelle – jedoch, um diesem «Aufbruch» den kritischen Stachel zu nehmen. Zu diesem Zweck organisierte er im Frühjahr 2011 mit bereitwilliger staatlicher und medialer Unterstützung in der Berliner Humboldt-Universität einen «Marx-Kongress». Um glaubwürdig zu bleiben, ging man dort demonstrativ auf die krisengeprägten Gegenwartszustände ein: «Die Menschen werden obdachlos, weil zu viele Wohnungen gebaut wurden, sie hungern, weil zu viele Lebensmittel produziert wurden. Selten in der jüngeren Geschichte ist das Vertrauen in die Rationalität des kapitalistischen Wirtschaftssystems so schwer erschüttert worden wie im Zuge der Finanzkrise der letzten Jahre … Marx ist also aktuell», formulierte die Mitorganisatorin Rahel Jaeggi – fügte aber mit warnendem Unterton sogleich hinzu: «Mit dieser Aktualität sollte man es sich jedoch nicht zu leicht machen.» Vor allem wäre es «falsch, eine Wiederbelebung der Utopie» zu versuchen und Marx für Perspektiven der Gesellschaftsveränderung und die Vorstellung von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer anderen Welt in Anspruch zu nehmen!
Auf der Grundlage des von Jürgen Habermas geprägtem theoretischen Reduktionismus, seiner strikten Trennung von Ökonomie und den «lebensweltlichen» Kommunikationsebenen, also durch die Leugnung der Tatsache, dass in der bürgerlichen Gesellschaft «das Kapital … die alles beherrschende ökonomische Macht» ist (Marx), die allen anderen gesellschaftlichen Sektoren den Rang zuweist, hat Honneth dem Kongresspublikum sein drängendstes Anliegen nahezubringen versucht, nämlich – koste es intellektuell auch, was es wolle – jede Perspektive einer konsequenten Gesellschaftsveränderung und die zu ihr vermittelten Fragen nach den Macht- und Klassenverhältnissen zu vermeiden. Um das sicherzustellen, sei eine «Korrektur der Marxschen Ökonomiekritik» (Honneth) vorzunehmen, auch wenn es bei diesem Manöver unverzichtbar ist, sich regelrecht dumm zu stellen. Ein solcher Akt intellektueller Selbstverleugnung kulminierte beim seinem Kongressreferat in der Formulierung, «dass uns» viele Dinge erspart geblieben wären, wenn Marx die sozialen Konflikte nicht als ökonomische, sondern als moralische interpretiert hätte, also die «wirtschaftlichen Agenten als moralische Akteure hätte auftreten» lassen.
Die vielfältigen Desorientierungsdiskurse konnten bisher nicht aufgebrochen werden, weil es keine Verankerung marxistischer Orientierung in den Massenorganisationen mehr gibt: Selbst nur an den realen gesellschaftlichen Konfliktlinien orientierte Gewerkschafter stellen eine Minderheit dar, und auch für die Kapitalismusskeptiker (von Kapitalismuskritikern gar nicht zu reden) in der LINKEN stellt der Marxismus kaum mehr als einen «Erinnerungsposten» dar.
Die neuen Opportunisten
Die Dominanz intellektueller Unterwerfungsgesten und des politischen Opportunismus hat objektive Ursachen, die sie nicht rechtfertigen, aber erklären. Beispielsweise provoziert Widerspruchserfahrung (Nach-)Denken, fördert jedoch nicht unbedingt ein kritisches Bewusstsein. Im Gegenteil, es gehört zum Herrschaftsgeheimnis der bürgerlichen Verhältnisse, dass sie zusammen mit ihren Antagonismen und Krisenbedrängnissen auch desorganisierte Denkmuster und soziale Entsolidarisierung produziert. Soll das überwunden werden, braucht es Prozesse organisierter Aufklärung und kollektiven Lernens auf der Grundlage der gesellschaftlichen Konfrontationserfahrungen.
Die Entfaltung und Verbreitung kritischen Denkens hatte es in den letzten Jahren besonders schwer, weil sich die Organisationen der Lohnabhängigen in keiner guten Verfassung zeigen. Destruktiv wirkt auch, dass die Intelligenz ihren Kritikanspruch weitgehend aufgegeben hat und sich den Irrationalismen eines sogenannten «postmodernen Denkens» unterwirft, für das die Maxime, dass jeder objektivierende Erkenntnisanspruch eine intellektuelle «Gewalttat» und jeder Versuch, den Dingen auf ihren (klassengesellschaftlichen) Grund zu gehen, eine «totalitäre» Anmaßung sei, zur Weisheit letztem Schluss geworden ist.
Dies sind jedoch nur die offensichtlichen Resultate eines verallgemeinerten, neuen Konformismus, der aus der zunehmenden Unsicherheit der Lebensverhältnisse gerade jener Mittelschichten entspringt, denen die Intellektuellen in der Regel entstammen. Cornelia Koppetsch spricht in einer bemerkenswerten Studie von der Wiederkehr der Konformität, einer neuen Phase der Anpassungsbereitschaft, vorrangig bei den Angehörigen der «Mitte», die zwar in veränderten Formen auftritt und sich nicht selten als «kritisch» und «abgeklärt» stilisiert, sich jedoch von der Anpassungs- und Unterordnungshaltung des traditionellen Kleinbürgertums nur dadurch unterscheidet, dass der neue Konformismus sogar nachdrückliche Bereitschaft zur Identitätsrevision einschließt.
Dieser Konformismus ist inhaltlich durchaus «traditionell», maskiert sich aber durch neue Präsentationsformen: Er hat sein traditionelles Gewand abgestreift und stilisiert sich modern, individualistisch und flexibel. Dabei wird das beflissene Mitspielen beim «laufenden Geschäft» als eine «höhere» Form der Subversivität verkauft. Das geschieht bspw. mit Bezug auf Denkmuster, die von Michel Foucault in den sogenannten «Gouvermentalitätstudien» geprägt wurden.
Diese neuen Opportunisten haben sich ein strategisches Verhalten angeeignet, das mit einer fundamentalen Prinzipienlosigkeit korrespondiert, die sich in den Praxis- und Lebensverhältnissen verallgemeinert hat. Im Sinne der Einsicht Kants, dass «im Reich der Zwecke … alles entweder einen Preis oder ein Würde» hat, ist die Bereitschaft gestiegen, den Preis der Würdelosigkeit und letztlich auch des intellektuellen Obskurantismus zu zahlen – der sich übrigens auch in einer weitgehenden intellektuellen und politischen Orientierungslosigkeit gegenüber dem Rechtsextremismus zeigt.
* Werner Seppmann ist im Vorstand der Marx-Engels-Stiftung und hat zusammen mit Ekkehard Lieberam das Projekt «Klassenanalys@BRD» geleitet.
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