von Klaus Meier
Anfang Februar 2018 überraschten drei Minister der amtierenden schwarz-roten Koalition die Öffentlichkeit mit dem Vorschlag zur Einführung eines Nulltarifs für Busse und Bahnen des Nahverkehrs.
Als Pilotprojekt propagierten sie die Einführung des Nulltarifs in fünf Städten in Westdeutschland, darunter Bonn, Mannheim und Essen. Doch einen Finanzierungsplan hatten sie nicht. Die Stadtverantwortlichen lehnten daraufhin ab und das Projekt wurde kalt beerdigt. Offensichtlich wollten die drei Bundesminister mit ihren Nulltarif-Pilotprojekten nur Zeit für die deutsche Autoindustrie schinden, um mögliche Fahrverbote für Diesel-Pkw und mögliche Strafzahlungen an die EU zu vermeiden.
Ein wirkliches Interesse an der Ausweitung des öffentlichen Personenverkehrs und einen Nulltarif hat die Regierung nie gehabt. Eine zynische Strategie. Aber sie löste trotzdem in nur wenigen Tagen in der Öffentlichkeit eine unerwartet große Debatte aus. Erstaunlicherweise konnten viele Grüne mit dem Thema Nulltarif nichts anfangen. Es passt offensichtlich nicht in ihr Elektroautokonzept. Auf der Linken gab es dagegen zahlreiche positive Reaktionen. So fordert die hessische LINKE in ihrem Landtagswahlprogramm für 2018 die Einführung des Nulltarifs, wobei sie dies bisher nur als Fernziel beschreibt.
Der Vorschlag der Bundesregierung zeigt, wie schnell aus scheinbar fernen Utopien unmittelbare Nahziele werden können. Das Thema ist in jedem Fall als Teil einer ökosozialistischen Strategie sehr bedeutsam. Hintergründe und politische Möglichkeiten werden daher in den folgenden Fragen und Antworten zur Diskussion gestellt.
Wie sehen die bisherigen Erfahrungen mit der Einführung des Nulltarifs im öffentlichen Personenverkehr aus?
Es gibt drei Beispiele, die immer wieder genannt werden: Templin in der Uckermark, das belgische Hasselt und die estnische Hauptstadt Tallinn. Templin ist ein kleiner Kurort von 16000 Einwohnern und liegt 80 km nördlich von Berlin. Von 1997 bis 2003 war der öffentliche Nahverkehr in der Kleinstadt kostenlos. Die Stadt wollte im historischen Kern den Verkehr beruhigen und führte deswegen für den örtlichen Busverkehr den Nulltarif ein. Die Folgen waren erstaunlich: Innerhalb eines Jahres explodierten die Fahrgastzahlen von 41000 auf 350000. Im Jahr 2001 wurden bereits 615000 Fahrgäste gezählt. Der Bürgermeister Schoeneich erzählte den Journalisten der Süddeutschen Zeitung: Der Autoverkehr ging zurück, der Feinstaub war unter Kontrolle. Doch die kleine Stadt konnte die Kosten nicht mehr stemmen und 2003 kam es zu einem vorzeitigen Ende des Experiments.
Das belgische Hasselt, eine Stadt mit 80000 Einwohnern, hielt deutlich länger durch. 16 Jahre waren die Busse des öffentlichen Nahverkehrs für alle Einwohner kostenlos. In der Folge stieg die Zahl der täglichen Busfahrgäste von 1000 auf 12600. Der Autoverkehr ging deutlich zurück, sodass die Stadt auf einen neuen Stadtring für Autos und Lkw verzichten konnte. Trotz des Erfolgs kam 2013 das Aus, weil die Stadt auf sich allein gestellt die Kosten nicht mehr aufbringen konnte. Heute fährt nur noch kostenlos, wer jünger als 19 oder älter als 65 Jahre ist.
In der estnischen Hauptstadt Tallinn gilt seit 2013 der Nulltarif. Das ist aufgrund des estnischen Steuersystems rentabel, denn die Stadt erhält für jeden Einwohner 1000 Euro von der Einkommensteuer zugewiesen. Da sich aufgrund des Nulltarifs 28000 Personen neu nach Tallinn umgemeldet haben, macht die Stadt nun sogar ein Plus.
Es ergibt sich als Schlussfolgerung, dass ein Nulltarifprojekt für arme, kleine Gemeinden ohne zusätzliche staatliche Unterstützung auf Dauer nur schwer zu stemmen ist. Dies ist nur möglich, wenn es zu einer Umwidmung staatlicher Finanzflüsse kommt.
Wie hoch würden die Kosten für die bundesweite Einführung des Nulltarifs im ÖPNV liegen?
Der VDV nennt für seine Mitgliedsverbände (Deutsche Bahn, kommunale und regionale Verkehrsverbände) 12,24 Mrd. Euro Einnahmen aus Fahrkartenerlösen für das Jahr 2016. Hinzu kommen Zuwendungen von Bund, Ländern und Kommunen sowie Einnahmen aus Werbung und Vermietung. Eine steigende Nachfrage würde laut VDV weitere 5 Mrd. Euro an Zuschüssen erfordern. Das wären dann etwa 17 Mrd. Euro, die man den Verkehrsträgern als Ersatzleistung bei der Einführung eines Nulltarifs zukommen lassen müsste. In einer Kleinstadt wie Tübingen könnte alles noch einfacher sein.
Der Transport zu den Arbeitsplätzen verursacht einen wesentlichen Teil des täglichen Verkehrsproblems. Könnte man Unternehmer an der Finanzierung der Nahverkehrskosten beteiligen?
Dafür gibt es tatsächlich mehrere Beispiele, allerdings nicht in Deutschland. So beteiligen sich die Unternehmen in Wien bereits seit 1970 mit einer sog. «Dienstgeberabgabe» an den Kosten des Nahverkehrs. Aktuell beträgt sie wöchentlich 2 Euro je Beschäftigten. Und in der französischen Stadt Aubagne, einem 45000-Einwohner-Ort nahe Marseille, wird der kostenlose ÖPNV seit 2009 komplett über eine Arbeitgeberabgabe von 1,05 Prozent des Bruttolohns finanziert. In deutschen Städten profitieren viele Kaufhäuser und Unternehmen von den öffentlichen Verkehrsmitteln. Da wäre es nur billig, wenn auch sie einen Beitrag dafür leisten würden. Der einfachste Weg dahin wäre es, wenn die betroffenen Kommunen die Mehrwertsteuer um einige Punkte heraufsetzen würden.
Könnte man einen Teil der umweltschädlichen Subventionen zur Finanzierung des Nulltarifs beim öffentlichen Personenverkehr nutzen?
Das Umweltbundesamt gibt seit mehreren Jahren eine Übersicht über die umweltschädlichen Subventionen heraus. Im Verkehrsbereich lagen sie 2012 bei 28,6 Mrd. Euro. Besonders krass ist die Subvention des schmutzigen Dieselverkehrs mit 18,4 Cent pro Liter Sprit. Das summiert sich jedes Jahr auf Vergünstigungen von rund 7,5 Milliarden Euro. Unverständlich ist auch die Steuerbefreiung des Flugbenzins sowie die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge. Damit wird das mit besonderen Treibhausschäden verbundene Fliegen bspw. gegenüber dem Eisenbahnverkehr künstlich bevorteilt. Allein 2012 machten diese Subventionen rund 12 Milliarden Euro aus.
Eine weitere hohe Vergünstigung wird mit der Pendlerpauschale gewährt. Sie liegt pro Jahr bei rund 5 Milliarden Euro und trägt erheblich zur Zersiedelung der Landschaften und zur Ausweitung des Autoverkehrs bei. Sie sollte zukünftig zumindest nicht mehr aus der Gießkanne, sondern sozial gestaffelt nach dem Einkommen gewährt werden.
Eine weitere umweltschädliche Subvention ist das Steuerprivileg für privat genutzte Dienstwagen, meist große Limousinen, was sich der Staat pro Jahr 3,1 Milliarden Euro kosten lässt. Allein eine Umwidmung dieser Beträge könnte ausreichen, um einen bundesweiten Nulltarif problemlos zu ermöglichen.
Würde die flächendeckende Einführung des Nulltarifs ausreichen, um eine Abkehr vom Autoindividualverkehr zu bewirken?
Nein, aber es wäre der Einstieg in eine andere Entwicklung. Der ÖPNV müsste dann unter dem Andrang der wachsenden Nutzerzahlen massiv ausgebaut werden. Die Einführung des Nulltarifs darf aber nicht allein stehen. Es sind zusätzliche flankierende Maßnahmen nötig, um die Autos aus den Städten zu bekommen. Dazu gehören höhere Parkgebühren, was z.B. in Templin nie passierte. Dort war Parken auch in der Zeit des Nulltarifs immer kostenfrei. Es müssten auch Anstrengungen unternommen werden, um autofreie Straßen und Stadtviertel zu erreichen. Die Vision müsste sein, dass Kinder in den Städten wieder auf begrünten Straßen spielen können, ohne dass sie in Lebensgefahr schweben. Die Bewohner würden dies sogar vielfach begrüßen. Aber sie stellen sich die Frage: Wohin dann mit unseren Autos? Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, dass sie auf neuen Parkplätzen abgestellt werden, die auf den völlig überdimensionierten mehrspurigen städtischen Zufahrtsstraßen entwickelt werden könnten. Kostenfreie, eng getaktete Buslinien könnten die Wohngebiete und diese Parkplätze verbinden und so eine politische Akzeptanz schaffen.
Wie stark müsste der ÖPV ausgebaut werden, um den größten Teil des heutigen Autoindividualverkehrs zu ersetzen?
Heute legen die Pkw pro Jahr in Deutschland 947 Mrd. Personenkilometer zurück. Das sind 85 Prozent des gesamten Personenverkehrsaufkommens zu Lande. Wenn man die Pkw-Verkehrsstrecken komplett auf den ÖPV umlegen und dabei eine mittlere Auslastung von 50 Prozent erreichen will, dann müsste das heutige öffentliche Personenverkehrssystems um den Faktor 3,5 ausgebaut werden. Das könnte erreicht werden durch eine höhere Taktrate auf bestehenden ÖPNV-Strecken sowie durch den Aufbau neuer Bahn-, Straßenbahn- und Buslinien. Zusätzlich müsste ein Sammeltaxensystem auf dem Land eingerichtet werden, das dafür sorgt, dass Menschen zu den Einkaufszentren kommen oder Jugendliche am Wochenende in Treffs und Diskotheken gebracht und auch wieder sicher abgeholt werden.
Wie könnte eine ökologische Verkehrswende gestartet werden? Wie hoch wären die Kosten dafür und wie lange würde der Umbau dauern?
Nach dem Krieg wurden in rund 90 deutschen Städten die noch vorhandenen Straßenbahnlinien zerstört, um Platz für den Autoverkehr zu schaffen. Der Einstieg in eine ökologische Verkehrswende sollte zunächst hier ansetzen und diese vergangenen Fehler rückgängig machen. Aber die Ziele sollten weiterreichen. Ein Start könnte der Aufbau von 200 neuen Straßenbahnlinien in Deutschland sein. Dazu könnte man noch einmal 200 neue Seilbahnsysteme in Städten und Ballungsgebieten entwickeln.
Der Kosten- und Zeitplan für ein derartiges Projekt wäre überschaubar. So liegt der Preis für den Aufbau einer komplett neuen Straßenbahnlinie heute bei rund 200 Millionen Euro. Dazu kämen noch die Kosten für rund ein Dutzend Straßenbahnen, die pro Linie erforderlich sind. Sie können mit etwa 40 Millionen Euro angesetzt werden. Die Realisierung von der Planung bis zur Inbetriebnahme bräuchte fünf Jahre. Das sind Preise und Zeiten, die bspw. für die neue Citybahn in Wiesbaden oder die neue Straßenbahnlinie 2 in Ulm anfallen. Eine überschlägige Rechnung ergibt, dass die Kosten für 200 neue Straßenbahnlinien in Deutschland bei etwa 50 Milliarden Euro liegen.
Urbane Seilbahnen wären für Deutschland ein neues Transportmittel. Ihr Einsatz wird aber mittlerweile in vielen Ländern diskutiert. Man sollte sie auch hierzulande einsetzen. Sie können mit großen Kabinen und einer dichten Folge zehntausende Personen pro Tag transportieren und sind sehr geräuscharm. Der Aufbau einer neuen urbanen Seilbahnline erfordert nur 20 Prozent der Kosten einer Straßenbahnlinie. 200 zusätzliche neue Seilbahnen in Deutschland würden damit nur etwa 10 Milliarden Euro kosten.
Zusammengenommen würde das Projekt für den Einstieg in eine ökologische Verkehrswende dann aus 200 Straßenbahn- und 200 Seilbahnlinien bestehen. Die Gesamtkosten lägen bei nur 60 Milliarden Euro. Der Aufbau könnte bei einer ehrgeizigen Herangehensweise in 15 Jahren realisiert werden. Wenn man bedenkt, dass für die Subventionierung des umweltschädlichen Diesel allein in den letzten 11 Jahren 74 Milliarden Euro versenkt wurden, wird klar, welch katastrophal falsche Verkehrspolitik heute in Deutschland betrieben wird.
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