von Leo Gabriel
Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, dass innerhalb eines Jahres in der Mehrzahl der Länder auf dem lateinamerikanischen Kontinent die Parlamente neu gewählt wurden.
Ein paar Jahre nach der sog. «Wende» in Europa, wurde der Aufstieg der Rechten durch die Abwahl der Sandinisten eingeleitet – er fiel in die Amtszeit von George Bush Sr. Heute, da sich in Mexiko, El Salvador, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela, Brasilien und Paraguay linksliberale und rechtsextreme Kandidaten auf Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen (meist sogar beides) vorbereiten, scheint die Lage ähnlich zu sein.
Der kometenhafte Aufstieg der Phalanx linker Präsidenten in der letzten Dekade – von Hugo Chávez (Venezuela), Daniel Ortega (Nicaragua), Salvador Sánchez Cerén (El Salvador), Rafael Correa (Ecuador), Evo Morales (Bolivien), Ricardo Lugo (Paraguay), Pepe Mujica (Uruguay) bis Cristina Kirchner (Argentinien) – wurde in den vergangenen zwei Jahren bereits durchbrochen: in Argentinien mit Mauricio Macri, in Chile mit Sebastián Piñera, in Peru mit Pedro Pablo Kuczynski, in Guatemala mit Jimmy Morales und in Honduras mit Juan Orlando Hernández.
Ist damit das Ende der roten Fahnenstange erreicht, von der Fidel Castro einmal behauptet hat, sie stelle die «zweite Unabhängigkeit» (la segunda independencia) dar?
Mexiko
Diese Frage ist so leicht nicht zu beantworten. Denn die beiden Giganten auf dem lateinamerikanischen Kontinent, Mexiko und Brasilien, befinden sich gerade jetzt in einem Wahlkampf, der kontroverser nicht geführt werden könnte. In Mexiko liegt bei den für den 6.?Juni anberaumten Wahlen der Kandidat der linken MORENA-Partei, Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der bereits zum dritten Mal antritt, den Meinungsumfragen zufolge um mehr als 15 Prozentpunkte an der Spitze, gefolgt von Ricardo Anaya, der gleichzeitig für die rechtskonservative PAN als auch für die ehemals sozialdemokratisch orientierte PRD kandidierte. Weit abgeschlagen ist den Umfragen zufolge José Antonio Meade, der Kandidat der historischen PRI, aus der der völlig diskreditierte derzeitige Präsident Enrique Peña Nieto hervorgegangen ist.
«Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, müsste AMLO gewinnen», sagen die allermeisten Mexikaner. Doch das ist gerade das Problem in einem Land, dem nicht zu Unrecht die Weltmeisterschaft in der Kunst des Wahlbetrugs nachgesagt wird. So weckte die Wahl von Juan Orlando Hernández in Honduras im November vergangenen Jahres, bei der nach der Auszählung von über 50 Prozent der Stimmen plötzlich die Computer ausgefallen waren, Erinnerungen an das Jahr 1988 in Mexiko, bei der dem Kandidaten der PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, der Sieg auf die gleiche Weise aberkannt wurde. Aber auch der Mord an dem linksliberalen Luis Donaldo Colosio im Jahr 1994, der bis heute noch nicht aufgeklärt ist, hat tiefe Spuren im Bewusstsein der mexikanischen Wähler hinterlassen.
Brasilien u.a.
Ein Konflikt ganz anderer Art zeichnet sich bei den für Oktober anberaumten Wahlen in Brasilien ab, wo es der politischen Rechten im Mai 2016 gelungen ist, die amtierende Präsidentin Dilma Roussef in einem staatsstreichähnlichen Impeachmentverfahren abzusetzen und den der Korruption verdächtigen Michel Temer von der Regierungspartei PMDB an ihre Stelle zu setzen. Nachdem bekannt wurde, dass der Vorgänger Roussefs, der allseits beliebte Gewerkschaftler Luiz Inácio Lula da Silva, mit ebenso hohen Werten an der Spitze der Meinungsumfragen steht wie López Obrador in Mexiko, wurde er von einem Gericht in zweiter Instanz wegen eines unbewiesenen Hauskaufs, den ihm angeblich der Baulöwe Odebrecht zugeschanzt habe, zu zwölf Jahren Haft verurteilt.
Das ist einer der Gründe, warum der Wahlkampf zur Zeit nahtlos in einen Straßenkampf überzugehen scheint. So hat der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro dafür gesorgt, dass der Gouverneur von Rio de Janeiro nach einem sehr regierungskritischen Pro-Lula-Karneval über diese Weltstadt den Ausnahmezustand verhängt.* Aber auch die ehemalige Umweltministerin Marina da Silva, die sich schon vor Jahren von Lula getrennt hat, kann sich Chancen ausrechnen, das höchste Amt im Staat zu erlangen.
Ähnliche Spannungen zeichnen sich auch in Kolumbien ab, wo Iván Duque, ein enger Vertrauter des Rechtspopulisten und Kriegshetzers und ehemaligen Langzeitpräsidenten Álvaro Uribe, auf die linksliberale Koalition unter Führung von Gustavo Petro stößt, auf den Anfang März ein Anschlag verübt wurde.
Die Liste der konfrontativen Wahlkämpfe könnte beliebig fortgesetzt werden, etwa mit Costa Rica, wo sich der bis vor kurzem unbekannte Fabricio Alvarado Múñoz in die erste Reihe katapultiert hat. Vier Jahre lang vertrat der evangelikale Prediger als einziger Abgeordneter die rechtsevangelikale Splitterpartei Restauración Nacional im Parlament, wo er gegen Homosexuellenrechte, Abtreibung und die vermeintliche «Genderideologie» in den Bildungsplänen agitierte. Als Präsidentschaftskandidat gewann er am 4.Februar nun mit 24,9 Prozent der Stimmen den ersten Wahlgang und wird im April in die Stichwahl gegen den Kandidaten der sozialdemokratischen Regierungspartei PAC, Carlos Alvarado Quesada gehen, der mit 21,6 Prozent den zweiten Platz belegte.
Es ist aber auch ein Comeback der Linksliberalen möglich, wenn sie aufhören, sich untereinander zu streiten. Das zeigen die Wahlprognosen in Paraguay, wo eine breite Allianz zwischen den Liberalen und zwei linken Gruppierungen, zu denen auch der ehemalige Präsident und Bischof Fernando Lugo gehört, die alteingesessene rechtsextreme Colorado-Partei wahrscheinlich besiegen wird, die Lugo vor einigen Jahren abgesetzt hatte.
Dafür haben im zentralamerikanischen El Salvador die seit 2015 im Amt befindlichen Ex-Guerrilleros von der Frente Farabundo Martí de Liberación Nacional (FMLN) bei den letzten Parlamentswahlen gegenüber der rechtsextremen ARENA-Partei am 4.März eine empfindliche Niederlage erlitten – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich allzu sehr auf ihren Propagandaapparat verlassen haben und wenige Erfolge auf dem Gebiet der Wirtschaft (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des Bandenunwesens) nachweisen konnten.
Das gleiche Schicksal könnte auch den venezolanischen Staatspräsidenten Nicolás Maduro treffen, der im Unterschied zu seinem berühmten Vorgänger Hugo Chávez die seit zwei Jahren überhand nehmende Wirtschaftskrise nicht in den Griff bekommt. Bloß dass sich die rechtsextreme Opposition insoweit verschätzt haben dürfte, als sie sich mit ihrem Wirtschaftsboykott und einer ausufernden Gewaltwelle gegen Maduro auch selbst ins Fleisch geschnitten hat und gerade jetzt, wo es darum ginge, vor den Wahlen am 20.Mai der notleidenden Bevölkerung ein Bild der Einheit zu zeigen, heillos zerstritten ist.
Das wiederum befeuert die Gerüchteküche, der zufolge es Donald Trump darauf abgesehen habe, eine direkte militärische Intervention zu wagen, die jedoch angesichts der Unterstützung der venezolanischen Armee für den Nachfolger von Hugo Chávez wenig aussichtsreich wäre.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es je nach Land durchaus unterschiedliche Szenarien gibt und eine Einschätzung des Gesamtergebnisses noch nicht möglich ist. Der Teufel liegt im Detail – oder am Ende doch, wie schon so oft in der Geschichte Lateinamerikas, im Weißen Haus in Washington?
* Kurz vor Redaktionsschluss gab das Presseportal amerika21 bekannt, dass in der Nacht vom 14. auf den 15.März in Rio de Janeiro die lokale Abgeordnete der Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL), Marielle Franco, und ihr Fahrer im Dienstwagen erschossen wurden. Franco befand sich nach einer Veranstaltung für die Rechte schwarzer Frauen auf dem Heimweg, als an einer Kreuzung aus einem Nachbarwagen das Feuer eröffnet wurde. Die Ermittler gehen von einer Hinrichtung aus.
Medienberichten zufolge erinnert die Art des Verbrechens an die Ermordung der Richterin Patrícia Acioli aus dem Jahr 2011, die gegen sog. Milizen ermittelte und, wie sich herausstellte, von diesen ermordet wurde. Die Bedrohung durch Milizen ist auch heute aktuell. Allein im Wahlkampf 2016 sind laut amerika21 in der Metropolregion Rio de Janeiro neun Kandidaten und Politiker im Amt durch gezielte Schüsse in der Öffentlichkeit ermordet worden.
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