von Jürgen Wagner
Vom 16. bis zum 18.Februar 2018 versammelten sich wieder einmal «Entscheidungsträger» aus Politik, Wirtschaft und Militär zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz.
Vor allem drei zentrale Befunde beziehungsweise daraus abgeleitete Forderungen kristallisierten sich heraus, die auf der Konferenz die zentrale Rolle spielten:
–Erstens wurde diagnostiziert, dass sich die weltpolitischen Konflikte bedrohlich zugespitzt hätten.
–Zweitens wurde dies mit einem Plädoyer für eine «beherzte» Aufrüstung der Europäischen Union verknüpft, um sich in den neuen Großkonflikten behaupten zu können – am Rande wurden dabei auch die Rahmenbedingungen des künftigen transatlantischen Verhältnisses mitverhandelt.
–Und schließlich ging es drittens darum, dass hierfür allgemein, aber ganz besonders von Deutschland erheblich mehr Mittel in den Militärbereich investiert werden müssten, als es die happigen Steigerungen im Entwurf eines Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD ohnehin bereits vorsehen.
Am Abgrund harter Geopolitik
Seit einigen Jahren wird unmittelbar vor Beginn der Sicherheitskonferenz der Munich Security Report veröffentlicht, mit dem als «Begleiter und Impulsgeber» bereits zentrale Themen gesetzt werden. Im deutschsprachigen Antext der diesjährigen Ausgabe mit dem Titel «Am Abgrund – und zurück?» heißt es: «Im letzten Jahr ist die Welt näher – viel zu nah – an die Schwelle von extremen Konflikten gerückt, und die internationale Gemeinschaft muss alles tun, um sich von dieser Schwelle wegzubewegen.» Auch Konferenzleiter Wolfgang Ischinger brachte seine Besorgnis mit den Worten zum Ausdruck: «Ich denke, die Lage der globalen Sicherheit ist heute instabiler, als sie es jemals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen ist.»
Vor allem im Verhältnis zu Russland und China bemüht man sich inzwischen nicht einmal mehr, die schweren geopolitischen Konflikte mit Worthülsen zu kaschieren. So heißt es in der «Nationalen Sicherheitsstrategie» der US-Regierung vom Dezember 2017: «China und Russland fordern die amerikanische Macht, ihren Einfluss und ihre Interessen heraus und versuchen, Amerikas Sicherheit und Wohlstand zu untergraben … Unsere Aufgabe ist es sicherzustellen, dass die militärische Überlegenheit der USA weiterbesteht … Wir werden den Frieden durch Stärke wahren, indem wir unser Militär neu aufstellen, damit es vorherrschend bleibt, unsere Feinde abschreckt und, sofern erforderlich, in der Lage ist, zu kämpfen und zu siegen. Wir werden mit allen nationalen Machtmitteln sicherstellen, dass Regionen der Welt nicht von einer Macht dominiert werden.»
Folgerichtig sieht die daraus abgeleitete «Nationale Militärstrategie» vom Januar 2018 eine Schwerpunktverlagerung weg von sog. Anti-Terror-Einsätzen wie im Irak oder in Afghanistan (die aber selbstredend weiter eine wichtige Rolle spielen sollen) hin zur Rüstung für mögliche Großmachtkonflikte vor.
Es war aber ausgerechnet der kommissarische – und künftige? – Außenminister Sigmar Gabriel, der am deutlichsten die Konturen einer neuen «globalen Großkonkurrenz» zeichnete: «Der zunehmende globale Führungsanspruch Chinas, die Machtansprüche Russlands, die Renaissance von Nationalismus und Protektionismus, all diese Phänomene führen zu massiven Verschiebungen in unserer Weltordnung mit unabsehbaren Konsequenzen.»
Explizit griff Gabriel die Neue Seidenstraßen-Initiative heraus, mit der China mit riesigen Investitionen Infrastrukturprojekte in Asien vorantreiben will: «Die Initiative für eine neue Seidenstraße ist ja nicht das, was manche in Deutschland glauben, es ist keine sentimentale Erinnerung an Marco Polo. Sondern sie steht für den Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Wirtschaft: China entwickelt eine umfassende Systemalternative zur westlichen Welt, die nicht wie unser Modell auf Freiheit, Demokratie und individuellen Menschenrechten gründet.»
Dankenswerterweise betonte der SPD-Politiker dann, es sei «das gute Recht Chinas, eine solche Idee zu entwickeln». Andererseits schränkte er im gleichen Atemzug dieses «Recht» insofern wieder ein, als der Westen versuchen müsse, Chinas Ambitionen so weit als möglich zu konterkarieren: «Wo aber die Architektur der liberalen Ordnung bröckelt, werden andere beginnen, ihre Pfeiler in das Gebäude einzuziehen. Auf Dauer wird sich dabei das gesamte Gebäude verändern. Ich bin mir sicher, am Ende fühlen sich weder Amerikaner noch Europäer in diesem Gebäude, das da neu entsteht, noch wohl … In der neuen und gegenüber dem Kalten Krieg heute weitaus komplexeren Welt geht es um die Systemkonkurrenz zwischen entwickelten Demokratien und Autokratien.»
In geradezu schockierender Offenheit bedient sich Gabriel hier der typischen Phrasen des Neuen Kalten Krieges. Die aktuellen Auseinandersetzungen werden dabei nicht als Konflikte unterschiedlicher Machtblöcke oder Kapitalismen beschrieben, sondern als Kampf zwischen «Gut» (Demokratien) und «Böse» (Autokratien). Exakt diese Begrifflichkeiten wurden schon vor Jahren vom Ultrahardliner und Apologeten eines «Neuen Kalten Krieges», Robert Kagan, in die Debatte eingespeist. Für Interessenausgleich, vertrauensbildende Maßnahmen und ähnliches bleibt da wenig Platz.
Hieraus legitimieren sich umfassende Maßnahmen zur militärischen Selbstbehauptung Europas: «Für uns Europäer muss klar sein: Um in der Welt von morgen unsere Werte, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu behaupten, müssen wir zusammenstehen … Aber Europa braucht auch eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt. Die darf sich nie auf das Militärische allein konzentrieren, aber sie darf auch nicht vollständig darauf verzichten. Denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.»
EU-Aufrüstung: Zähne zeigen
Die Tagung wurde von den Verteidigungsministerinnen Frankreichs und Deutschlands eröffnet. Damit sollte wohl dem «deutsch-französischen Motor», der aktuell diverse Initiativen zum Ausbau der EU-Militarisierung anschiebt, symbolhaft der Rücken gestärkt werden. Es war aber dann einmal mehr der Auftritt von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der die deutlichsten Akzente setzte. Da es nicht zuletzt die von ihm geführte Kommission war, die in jüngster Zeit Druck in Sachen EU-Militarisierung gemacht hatte, begann er seinen Beitrag ganz nach dem Motto «Eigenlob stinkt nicht!»: «Wir haben im letzten Jahr mehr Fortschritte in Sachen Europäische Verteidigungspolitik erreichen können als in den letzten 20 Jahren.»
Neben einem Plädoyer, die in Gang gesetzten Maßnahmen zum Aufbau eines EU-Rüstungsmarkts konsequent umzusetzen, hatte Juncker vor allem einen Pfeil im Köcher und der zielte auf das Konsensprinzip in der Außen- und Militärpolitik: «Diese Einstimmigkeit, dieser Einstimmigkeitszwang hält uns davon ab, Weltpolitikfähigkeit zu erreichen. Immer wieder stellen wir fest, dass wir zu konsensuellen einstimmigen Beschlüssen nicht fähig sind.»
Mit der «Ständigen Strukturierteren Zusammenarbeit» (PESCO) wurde unlängst bereits die Möglichkeit geschaffen, Teilbereiche der Militärpolitik auf Kleingruppen auszulagern und so das Konsensprinzip teilweise auszuhebeln. Diese Möglichkeit soll Juncker zufolge nun auch auf die Entscheidung zur Entsendung «ziviler» Operationen und auch auf die Außenpolitik ausgedehnt werden: «Das setzt keine, wie viele meinen, Vertragsänderung voraus, sondern man kann sich berufen auf Art.31 (3) des Europäischen Vertrages von Lissabon, der vorsieht, dass der Europäische Rat einstimmig beschließen kann, in welchen Gebieten zukünftig mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse zu fassen sind. Und wir möchten uns in die Richtung bewegen, vor allem, wenn es um zivile Sicherheits- und Verteidigungsmissionen geht und anderes mehr.»
Die Einführung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse (65 Prozent der EU-Bevölkerung und 55 Prozent der EU-Mitgliedstaaten) bedeutet, dass Deutschland und Frankreich allein fast über eine Sperrminorität verfügen. Generell geht damit eine massive Verschiebung der Einflussmöglichkeiten zugunsten der EU-Großmächte einher – und genau dies ist auch Sinn und Zweck der Übung, wenn Wolfgang Ischinger im Vorfeld der Konferenz angab: «Solange jeder Kleinstaat mit einem Veto eine gemeinsame Außenpolitik verhindern kann, wird die EU bei der Lösung internationaler Krisen … nur eine Nebenrolle spielen.»
Teure «Emanzipation»
Ein letzter Punkt, den Juncker in München ansprach, spielte auch in anderen Reden auf der Sicherheitskonferenz eine wichtige Rolle: Die möglichen Auswirkungen einer Hochrüstung Europas auf das Verhältnis zu den USA. Dort waren in jüngster Zeit kritische Stimmen lauter geworden, was Juncker folgendermaßen quittierte: «Ich lese – nicht ohne Staunen –, dass einige auf der anderen Seite des Atlantiks sich jetzt vorstellen, die Europäische Union würde zu unabhängig werden in Sachen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Ja, wir möchten uns emanzipieren. Aber wir emanzipieren uns nicht gegen die NATO, nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika.» Etwas pikiert fuhr er fort: «Uns erreichte über viele Jahre die Klage aus amerikanischem Munde, wir täten nicht genug für unsere eigene Verteidigung. Jetzt bemühen wir uns, mehr zu tun. Und jetzt ist es auch nicht recht. Entweder war das eine richtig und das andere falsch; oder das andere war falsch und das eine nicht richtig.»
Allerdings hat die «Entfremdung» im amerikanisch-europäischen Verhältnis lange vor der Wahl Donald Trumps eingesetzt. Damals wie heute drehen sich die Auseinandersetzungen um die Frage der transatlantischen Macht- und Arbeitsteilung. Also: Wieviel Geld stecken die Europäer zusätzlich in ihre Rüstungshaushalte, und wieviel Macht sind die USA bereit, hierfür abzugeben? Von der beiderseits befriedigenden Antwort dieser Kernfrage wird die Zukunft der transatlantischen Beziehungen abhängen. In Gabriels Worten: «Niemand sollte versuchen, die EU zu spalten – nicht Russland, nicht China, aber auch nicht die Vereinigten Staaten. Die Europäische Union ist ein durchaus selbstbewusster Partner, der vertrauensvoll und auf Augenhöhe mit den USA kooperieren will, aber eben nicht im Gefolgschaftsverband.»
Im Jahr 2017 beliefen sich die Militärausgaben der NATO-Mitgliedstaaten nach eigenen Angaben auf 945 Mrd. Dollar (2016: 920; 2015: 895). Obwohl die Rüstungsausgaben Chinas (150 Mrd.) und Russlands (61 Mrd. Dollar) im Jahr 2017 weit dahinter zurückbleiben, herrschte unter den westlichen Akteuren auf der Sicherheitskonferenz Einigkeit, dass es weiterer Erhöhungen bedürfe. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich optimistisch: Aktuell würden acht Verbündete mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für ihr Militär ausgeben, man rechne aber damit, dass sich diese Zahl bis 2024 auf 15 Länder erhöhen werde. Kämen alle Staaten dieser – rechtlich keineswegs bindenden – Forderung nach, würden die Ausgaben der EU-28 (plus Norwegen) rasant von 242 Mrd. Dollar (2017) auf 386 Mrd. Dollar (2024) ansteigen, rechneten die Unternehmensberater von McKinsey im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz aus.
Diese Zielgröße wird von US-Präsident Donald Trump als das «absolute Minimum» bezeichnet, wobei er selbst mit «gutem» Beispiel vorangeht. Im kürzlich vorgestellten Entwurf für das Haushaltsjahr 2019 beantragte er 686 Mrd. Dollar für die «Verteidigung» – der letzte von Vorgänger Barack Obama verantwortete Haushalt 2017 umfasste 606 Mrd. Dollar. Allein die Steigerungen des US-Haushalts übertrifft also deutlich das gesamte russische Militärbudget des Jahres 2017!
Nicht weniger ambitioniert geht Frankreich unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron den Rüstungsbereich an. Kürzlich wurde dort der Haushaltsentwurf für die Jahre 2019–2025 verabschiedet. Er sieht eine jährliche Erhöhung der Militärausgaben um 1,7 Mrd. Euro und damit von 32,4 Mrd. Euro (2017) auf 44 Mrd. Euro (2023) vor. Und genau diesen Punkt betonte die französische Verteidigungsministerin Parly auch in ihrem Auftaktbeitrag zur Sicherheitskonferenz: Um dem Militär alle nötigen Mittel an die Hand zu geben, werde Frankreich bis 2025 2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Sie habe gerade ein konkretes Programm ausgearbeitet, bis 2025 rund 300 Milliarden Euro zu investieren. Es geht um eine umfassende Rüstungsmodernisierung, die konventionelle und nukleare Fähigkeiten umfasst. Der Generalstabschef der französischen Marine, Admiral Christophe Pratzuck, darf sich sogar Hoffnungen auf einen neuen Flugzeugträger machen. Kosten allein dafür: mindestens 5 Milliarden Euro.
Rüffel für Deutschland
Mit diesen Dimensionen kann Deutschland aktuell nicht dienen und holte sich deshalb nicht nur von französischer Seite, sondern auch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg einen Rüffel ab: Zwar seien «die Kürzungen gestoppt» worden, Deutschland bleibe aber dennoch weiter deutlich hinter den Erwartungen der Verbündeten zurück. Dass Deutschland die «Kürzungen gestoppt» habe, trifft die Realität nicht einmal annähernd: Die Militärausgaben stiegen zwischen 2000 (rund 24 Mrd. Euro) und 2018 (38,5 Mrd.) kontinuierlich an. Und betrachtet man den Entwurf für einen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, wird sich hieran wohl auch nichts ändern: Ihm zufolge soll der Militärhaushalt bis 2021 weiter auf mindestens 42,4 Mrd. erhöht werden. «Mindestens», da in dem Papier zudem festgehalten wurde, dass etwaige Spielräume «prioritär» dem Rüstungshaushalt (und der Entwicklungshilfe) zugute kommen müssen.
Aktuell gibt Deutschland etwa 1,2 Prozent aus und die Formulierung im Entwurf des Koalitionsvertrages lässt reichlich Spielraum: Man wolle dem «Zielkorridor der Vereinbarungen in der NATO folgen». Was das genau heißen soll, dürfte in der nächsten Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen werden. Ischinger formulierte einen möglichen «Kompromiss»: «Wir brauchen eine intakte Armee, um unseren Beitrag in Europa und der NATO leisten zu können. Dafür sollten wir bis Ende der Legislatur mindestens 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgeben», forderte er.
In Zahlen hätte dieser Vorschlag für das Jahr 2017 einen Militärhaushalt von 49 Mrd. Euro statt der tatsächlich eingestellten 37 Mrd. zur Folge gehabt. Ein solcher «Kompromiss» wäre zwar wohl ganz im Sinne der auf der Sicherheitskonferenz versammelten Vertreter aus Politik, Militär und (Rüstungs-)Wirtschaft, nicht aber in dem der Mehrheit der Bevölkerung. So wurde kurz vor Konferenzbeginn über die neueste repräsentative Allensbach-Umfrage zum Thema berichtet: «Die Bevölkerung ist nicht bereit, mehr Geld für die Soldaten auszugeben: Nur 27 Prozent sprechen sich für mehr Investitionen in Ausstattung und Verteidigung aus.»
Quelle: IMI-Analyse 2018/05.01
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