Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2018
Ungewollt kann er den Palästinensern in die Hände spielen
von Henry Siegman*

Michelle Goldberg, Kolumnistin der New York Times, warf unlängst mit Nachdruck die Frage auf, ob der «liberale Zionismus» die rechtsextremen Trends überleben kann, die heute das politische Leben in Israel beherrschen. ­Auslöser war Donald Trumps Anerkennung von Jerusalem als Hauptstadt Israels, die Goldberg zu Recht als «einen weiteren Nagel im Sarg des ‹liberalen Zionismus›» beschrieb.

Während die Reaktionen auf Trumps Vorgehen sich noch entfalten, ist dennoch bereits vieles offensichtlich. Zunächst einmal haben sie den unfassbaren Grad von Ignoranz und Fehlinformation deutlich gemacht, der in Bezug auf dieses Thema besteht. Trump hat zwar versucht, die verheerenden Auswirkungen seiner Erklärung abzumildern, indem er darauf bestand, dass damit nichts über den endgültigen Status ausgesagt sei, der Gegenstand von Friedensgesprächen sein würde, die er versuchen wolle wiederzubeleben. Offensichtlich war ihm jedoch nicht klar, dass die Jerusalem-Frage genau das ist – ein endgültiger Status. Sie ist sogar die sensibelste aller Fragen nach dem endgültigen Status. Mahmoud Abbas, der moderateste aller palästinensischen Führer, zog die Konsequenz und brach die Beziehungen zur Trump-Regierung ab.

Trumps Erklärung und viele der zustimmenden Kommentare, die sie provoziert hat, ergingen sich in der Geschichte Jerusalems und der Bindung des jüdischen Volkes an diese Stadt seit biblischen Zeiten. Trump und seine Unterstützer argumentierten überdies, es sei hohe Zeit, endlich die «Realität» anzuerkennen, dass Jerusalem bereits als Israels Hauptstadt fungiere – was beinhaltet, dass Israel, unabhängig von der unerhörten Realität, die es mit seiner Missachtung von Völkerrecht und anerkannten Normen geschaffen hat, sich dadurch auch eine eigene Legitimität geschaffen habe. Trump unterstrich, jedes Land habe das Recht, den Sitz seiner Hauptstadt zu bestimmen.

Gegner von Trumps Erklärung verwiesen auf die Bindung von über einer Milliarde Muslime an Jerusalem und stellten die Frage, warum diese Bindung soviel weniger ins Gewicht falle als die jüdische, insbesondere, da Muslime seit über einem Jahrtausend tatsächlich in Jerusalem gelebt und an ihrer heiligen Stätte gebetet haben. Die meisten Juden hätten hingegen während der vergangenen zwei Jahrtausende nicht in Jerusalem gelebt, selbst in Zeiten, wo sie dazu in der Lage gewesen wären. Stattdessen verschoben sie die ersehnte Rückkehr nach Jerusalem auf die Endzeit.

In Wahrheit bezog sich geschichtlich die jüdische Bindung an Jerusalem nicht auf seinen Status als Hauptstadt, sondern auf den Platz der beiden antiken Tempel (Batei Hamikdash); Jerusalem war nicht als Hauptstadt (Yerushalayim Habira) bekannt. Als der zweite Tempel zerstört wurde und die Weisen seinen Wiederaufbau und die Wiederaufnahme seiner Rituale auf die Endzeit verschoben, gab es keinen zwingenden Grund mehr, in Jerusalem zu leben. Die kleine orthodoxe Gemeinde, die weiterhin in Jerusalem lebte, betrachtet den Zionismus als Ketzerei und erkennt bis heute die religiöse und politische Legitimität des Staates Israel nicht an.

Jerusalem? Am Ende der Zeiten

Für die Gründer der zionistischen Bewegung war der Messias ziemlich uninteressant und Jerusalem fand noch weniger Beachtung. Die Vorstellung eines wiedererrichteten Tempels, in dem der Kult der alten Israeliten mit Tieropfern wiederauflebt, die Priesterschaft neu begründet wird und Davids Königspalast wiederersteht – Ziele, für die in den orthodoxen Synagogen weltweit noch gebetet wird und die von den nationalreligiösen Anhängern des Tempelglaubens, die von der israelischen Regierung Zuschüsse erhalten, fanatisch verfochten werden – wurde von den Gründern des Zionismus als peinlicher Anachronismus betrachtet. Israels erster Premierminister, David Ben Gurion, gewährte der kleinen ultraorthodoxen Gemeinde in Israel gewisse Privilegien wie die Befreiung vom Militärdienst, denn er war überzeugt, dass das religiöse Judentum im neuen säkularen zionistischen Staat nicht überdauern werde.

Aber das glatte Gegenteil trat ein. Es ist nicht nur so, daß die ultraorthodoxen Gruppen gedeihen und es schwierig ist, ohne sie irgendeine Koalitionsregierung zu bilden, sondern die reaktionärsten politischen, kulturellen und religiösen Kräfte beherrschen inzwischen auch das Leben des Landes.

Ironischerweise findet sich die tiefste Feindschaft gegenüber dem Zionismus heute nicht in arabischen Ländern, von denen einige sogar Israel als Verbündeten gegen den Iran ansehen, auch nicht bei gewissen antisemitischen Gruppen, für die jetzt Israels Zionismus und dessen Privilegierung jüdischer Bürger ein Vorbild für ihren weißen und christlichen Suprematismus ist, sondern unter einigen ultraorthodoxen Gruppen in Israel und den USA, weil sie weder die religiöse noch die politische Legitimität des Staates Israel anerkennen und deshalb auch nicht Jerusalem als Hauptstadt von irgendetwas ansehen. Sie warten immer noch auf den Messias.

Kritiker von Trumps Erklärung haben davor gewarnt, sie werde jede Aussicht auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses oder was von ihm übriggeblieben ist, beenden. Offensichtlich hat diese Kritiker die Nachricht, dass der Friedensprozess tot und begraben ist, aber nie erreicht. Die Fiktion seiner Existenz hat keinem anderen Zweck gedient, als Netanyahu ein Deckmäntelchen zu liefern für die Lüge, dass Israel schon allein deshalb noch kein Apartheidstaat sei, weil es immer noch auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit einer entgegenkommenderen palästinensischen Führung warte.

Die Regierenden der westlichen Demokratien haben ihre beschämende Kollaboration mit diesem israelischen Betrug noch immer nicht beendet. Es ist im übrigen nicht so, dass sie jemals daran geglaubt haben – sie mussten vorgeben daran zu glauben, ansonsten hätten sie beispielsweise erklären müssen, warum sie zwar den UN-Sicherheitsrat gedrängt haben, Russland wegen der Landnahme in der Ukraine Sanktionen aufzuerlegen, Sanktionen gegen Israel wegen der Besetzung des Westjordanlands und Jerusalems aber anlehnen.

Deshalb sah sich auch Präsident Obama veranlasst, in einer seiner Reden vor der jährlichen UN-Vollversammlung etwas zu sagen, was empörend unwahr ist: dass nämlich die UN nicht der Ort seien, wo die Palästinenser ihre Forderungen nach Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit vorbringen könnten, da diese Frage nur in direkten Verhandlungen mit Netanyahu geregelt werden könne. Dabei wusste Obama ganz genau, dass die UN gerade zu dem Zweck gegründet wurden, um Bevölkerungen, die früher kolonialer Herrschaft unterworfen waren, bei der Durchsetzung ihres Selbstbestimmungsrechts zu helfen. Ganz gewiss wusste er auch, dass Netanyahu der Allerletzte ist, bei dem die Palästinenser ein faires Gehör finden werden.

Israels Grenzen

Es stimmt, dass Israel, wie Trumps Parteigänger behaupten, jedes Recht hat, den Sitz seiner Hauptstadt ohne auswärtige Einmischung zu bestimmen – vorausgesetzt, dass dieser Sitz sich innerhalb der eigenen international anerkannten Grenzen befindet. Aber kein Staat hat das Recht, sich Land außerhalb seiner eigenen Grenzen anzueignen, weder für seine Hauptstadt noch für einen Parkplatz. Es geht also nicht um den Status von Jerusalem als Hauptstadt, sondern darum, ob sich Jerusalem innerhalb der Grenzen Israels befindet. Und das ist nicht der Fall. Das ist so, weil sowohl der UN-Sicherheitsrat als auch der Internationale Gerichtshof (mit seiner Mauerentscheidung von 2004) einstimmig entschieden haben, dass Gebiete jenseits der Vor-1967er- Waffenstillstandslinie – und dort liegt Jerusalem – nicht zu Israel gehören und dass Änderungen an der Vor-1967er-Waffenstillstandslinie nur im Einvernehmen der beiden Konfliktparteien erfolgen können.

Es gibt noch ein weiteres Problem. Während West-Jerusalem innerhalb der Vor-1967er-Waffenstillstandslinie liegt, nimmt der UNO-Teilungsplan von 1947 (der in Israels Unabhängigkeitserklärung als Quelle von Israels Legitimität zitiert wird) Jerusalem ausdrücklich von den Territorien aus, die den beiden Staaten zugesprochen wurden; die Stadt wurde zum corpus separatum erklärt, zu einer getrennten Einheit, die unter internationales Recht zu stellen sei.

Diese Absicht wurde niemals umgesetzt, aber sie diente sowohl Israelis wie Palästinensern dazu, der jeweils anderen Seite die Souveränität über die Stadt zu verweigern. In dem bilateralen Abkommen von 2003 jedoch – bekannt als Road Map für ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen – verpflichten sich Israel und die Palästinenser dazu, sich über den künftigen Status Jerusalems im Rahmen ihrer Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Friedensregelung zu verständigen. Die Road Map, gebilligt vom Sicherheitsrat und unterzeichnet von den USA und der EU, verbietet einseitige Änderungen an der Vor-1967er-Linie. In seiner Entschließung 2334 von 2016 verurteilte der Sicherheitsrat im übrigen Israels «flagrante Verletzung» dieses Abkommens.

Die eigentliche Frage, die Trump mit seiner Erklärung aufgeworfen hat – der Status von Israels Grenzen und nicht die Lage von Israels Hauptstadt – wird durch das Völkerrecht geregelt und nicht durch Trumps Launen oder Israels einseitigen Handeln. Ganz klar: Ost-Jerusalem liegt auf der palästinensischen Seite der Vor-1967er-Waffenstillstandslinie und darum nicht innerhalb von Israels international anerkannten Grenzen. Was Trump deshalb der Welt zu verstehen gibt, ist, dass er sich, wie Netanyahu, einen Dreck um das Völkerrecht schert.

Es ist diese Verachtung und nichts sonst, die jede Grundlage für eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zertrümmert hat. Abbas wäre wahnsinnig, wenn er Verhandlungen aufnehmen würde, die es nach Auffassung Israels wie auch des selbsternannten Vermittlers Israel gestatten, sich Palästinenser-Land anzueignen. Was bleibt den ohnmächtigen Palästinensern übrig, als sich bei Verhandlungen auf das Völkerrecht zu berufen?

Lockerer Umgang mit ­Nazisymbolen

Israels Missachtung des Völkerrechts findet seine Ergänzung in seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem tiefen demokratischen Ethos seiner eigenen Gründer. Dies war vielleicht unvermeidlich angesichts des immanenten Widerspruchs zwischen diesem demokratischen Ethos und Israels Enteignung der Palästinenser – selbst in dem Teil Palästinas, der ihm vom UN-Teilungsplan als legitimer Besitz zuerkannt worden war. Ja, ich weiß, Palästinenser und arabische Länder begannen Krieg, um die Verwirklichung des Teilungsplans zu verhindern. Das taten sie nicht, weil für Palästinenser Teilungspläne überhaupt nicht infrage kommen, sondern weil sie, wie die meisten Leute, einschließlich Juden, etwas gegen Heimatlosigkeit und Entrechtung haben. Man kann davon ausgehen, dass die Vertreibung der Palästinenser aus den Gebieten, die dem jüdischen Staat zugesprochen wurden, sicher auch ohne den von arabischen Ländern ausgelösten Krieg stattgefunden hätte, denn andernfalls wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich Israels jüdische Bevölkerung als Minderheit in ihrem neuen Staat gesehen hätte.

Trotz all seiner peinlichen und selbstgerechten Ansprüche, das «Licht der Nationen» zu sein, hat sich Israel immer mehr der autoritären Art gewisser zentraleuropäischer Länder angenähert, deren Führungen neofaschistische und antisemitische Neigungen haben. Tom Segev, der prominente israelische Historiker, beschreibt die Lage in seinem Land gegenüber Roger Cohen, dem Kolumnisten der New York Times, folgendermaßen: «Unsere Regierung ist mehr und mehr rechtslastig und araberfeindlich. Wären diese Leute Teil der österreichischen Regierung, würden wir aus Protest unseren Botschafter abziehen.» Mit diesen autoritären Führern fühlt sich Netanyahu besonders verbunden, genau wie Trump. Beide gaben dieser Verwandtschaft mit ihren Besuchen im letzten Jahr demonstrativ Ausdruck, während sie die europäischen Regierungen mieden, die für die Verteidigung der Demokratie eintreten.

Und es gibt noch mehr, traurigerweise noch viel mehr. So sah Netanyahu keine Veranlassung, sich von den Angriffen seines Sohnes auf eine liberale NGO zu distanzieren, bei denen dieser über Twitter antisemitische und Nazisymbole verwendet hatte. (Der Sohn wird erklärtermaßen darauf vorbereitet, in die israelische Politik einzutreten.) Netanyahu fand auch kein Wort der Kritik gegenüber Trumps skandalöser moralischer Gleichsetzung von Neonazis, Rassisten und Antisemiten in Charlottesville mit jenen, die sich aufgemacht hatten, um deren Hass und Gewalt zu verurteilen.

Sperrt sie ins Lager

Ich war gerade in Israel, als das neue Buch des Autors und Historikers Raphael Israel, emeritierter Professor der Hebräischen Universität, vorgestellt wurde. Das Ereignis, das eine große Anzahl von Mitgliedern des Likud, ­Netanyahus Partei, angezogen hatte, inkl. Minister und Knessetabgeordnete, führte mir so klar vor Augen wie nichts anderes während meines über sechzigjährigen beruflichen Engagements in Sachen Israel-Palästina-Konflikt, wie jämmerlich uninformiert nicht nur die US-Öffentlichkeit, sondern auch die Regierungsbeamten und Akademiker hinsichtlich der konkreten Realität in Israel und in den palästinensischen besetzten Gebieten sind.

Das Buch führt den Titel «Die arabische Minderheit in Israel» (es ist nur auf Hebräisch veröffentlicht). Seine zentrale These lautet, dass die israelischen Araber eine Fünfte Kolonne sind, die «an den Brüsten des Staats saugen» und nicht in die israelische Gesellschaft integriert werden können. Der Autor bewundert die US-Amerikaner für ­ihre Internierung der japanischer Bürger während des Zweiten Weltkriegs und befürwortet selbst die Einsperrung der israelischen Araber in Konzentrationslager. Dass Israel es bisher versäumt habe, solche Maßnahmen zu ergreifen, ist nach Ansicht des Autors ein Anzeichen «für ein geschwächtes Israel, das seinen Willen zu existieren verloren hat». Denn «obwohl sich die Araber offen mit unserem Feind identifizieren … hat man sie nicht nur nicht in Lager eingesperrt, man erlaubt ihnen auch noch, auf unseren Rednertribünen zu stehen».

Bei seinen Ausführungen ging es nicht um die palästinensischen Bewohner des Westjordanlands, sondern um die palästinensischen Bürger des Staates Israel. Diese Ansichten werden im übrigen nicht nur von Likud-Mitgliedern geteilt. Schon 2006 hat eine Erhebung des Pew Research Center herausgefunden, dass die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels glaubt, Israels arabische Bürger sollten des Landes verwiesen werden. Wenn das für die Haltung vieler Israelis gegenüber ihren eigenen Mitbürgern zutrifft, kann man sich vorstellen, wie sie die Millionen Palästinenser im Westjordanland behandelt wissen wollen, die sie jetzt unter ständiger militärischer Besatzung halten.

Kampf für einen Staat oder Kampf für Rechte?

Der theoretischen Möglichkeit, dass ein Zwei-Staaten-Abkommen bisher noch nicht vollständig durch Israels Siedlungen untergraben wurde, werden sich sicherlich Trumps Friedensgesandte annehmen, sprich: das Abbruchunternehmen mit seinem Schwiegersohn Jared Kushner an der Spitze und seinem nach Israel entsandten Botschafter David Friedman. Beide sind langjährige Förderer und Finanziers der Siedlungen, und sie werden es mit Sicherheit schaffen, die Tür zu einer palästinensischen Staatlichkeit während der restlichen drei oder vielleicht sieben Präsidentschaftsjahre von Trump fest zuzuschlagen.

Die in Israel vorherrschende politische Kultur spiegelt heute mehr als je zuvor Trumpsche und ähnliche mitteleuropäische autoritäre Werte wider. Sie ist das vorhersagbare Nebenprodukt einer Kultur, wie sie durch die unablässige Unterdrückung und völlige Entrechtung von Millionen Menschen unter Israels Militärherrschaft geformt wurde, die jetzt über 50 Jahre andauert. Buchstäblich jeder junge jüdische Israeli verbringt drei beeindruckende Jahre seines jungen Lebens damit, Palästinenser durch das Zielrohr seines Gewehrs als etwas zu betrachten, das es potenziell zu beseitigen gilt. Umso erstaunlicher, dass einige von ihnen aus dieser entmenschlichenden Erfahrung mit noch soviel Bewusstsein herauskommen, dass sie Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem, Breaking the Silence und Ir Amim unterstützen – Organisationen, die Netanyahu und seine Regierung mit allen Mitteln diskreditieren, dämonisieren und zerstören wollen.

Diesen Ausführungen zum Trotz mag Trumps schlecht durchdachte Jerusalem-Initiative dennoch eine positive Konsequenz haben, wenn auch unbeabsichtigt. Nichts hat sich so schädlich für den Kampf der Palästinenser zur Beendigung der israelischen Besatzung und des anhaltenden Raubs von Land erwiesen wie das Beharren von Abbas auf Erhalt einer Palästinensischen Autonomiebehörde und dem Mythos, diese diene einem «Staat im Entstehen», wo sie doch so eindeutig Israel dabei gewähren lässt, seine Besatzung zu zementieren. Trumps Jerusalem-Zug hat erreicht, was jahrelange israelische Besiedlung nicht geschafft hat: Er hat die Illusion einer Zwei-Staaten-Lösung erschüttert und der palästinensischen Nationalbewegung erlaubt, sich zu einem Kampf für Rechte zu entwickeln, das heißt zu einem Kampf für die Beendigung des israelischen faktischen Apartheidregimes.

Einen solchen Kurs habe ich seit über einem Jahrzehnt befürwortet und er wird heute zunehmend von jungen Palästinensern geteilt. Besonders bedeutsam ist, dass diese jüngere Generation den Kampf um gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat führen will, und zwar nicht, weil sie am Erreichen eines eigenen Staats verzweifelt, sondern weil es ihre favorisierte Lösung ist. Das ist eine richtige Entscheidung, denn den Kampf um einen eigenen Staat können die Palästinenser nicht gewinnen, während Israel den Kampf um die Aufrechterhaltung eines Apartheidregimes nicht gewinnen kann.

Der Exodus ist ­vorhersehbar

Wenn die Palästinenser in einem zweifellos langen und bitteren Antiapartheidkampf die Oberhand gewinnen, werden sie klar in der Mehrheit sein. Da Israel selbst das Prinzip aufgestellt hat, dass die Mehrheit der Minderheit die religiöse und kulturelle Identität des Staates aufzwingen kann, wird es dann nicht mehr am längeren Hebel sitzen, um den Palästinensern das gleiche Recht zu verweigern. Das wird über die Zeit zu einem bedeutsamen Exodus israelischer Juden führen. Wenn die Palästinenser nicht die Oberhand gewinnen, werden der unbestreitbare Apartheidcharakter des Staates und die Kosten eines fortgesetzten Kampfes dasselbe Ergebnis zeitigen – den anhaltenden Exodus von israelischen Juden, was zu einem noch größeren Ungleichgewicht zwischen dem jüdischen und dem arabischen Bevölkerungsteil des Landes führen wird. Die Palästinenser werden nicht wegziehen, weil sie keinen Ort haben, wo sie hin könnten. Das Ergebnis wird aber auch in diesem Fall das Ende Israels als jüdischer Staat sein.

Wenn es so kommt, wird dies nicht der BDS-Bewegung zu verdanken sein, sondern den Israelis selbst, und zwar nicht nur, weil sie die Zwei-Staaten-Lösung verhindert haben, sondern weil sie darauf beharren, Israels nationale Identität und seine Gebietsansprüche in religiösen Begriffen zu definieren. Ein Staat, der – wie heute Israel – die Staatsbürgerschaft im Schnellverfahren durch staatlich geförderte religiöse Konversion zum Judentum vergibt, kann nicht lange verbergen, dass er seine jüdischen Bürger privilegiert – geradeso könnten etwa die USA nicht mehr behaupten, eine Demokratie zu sein, wenn das Bekenntnis zum Christentum eine Voraussetzung für die US-Staatsbürgerschaft wäre. Die von Netanyahu und seinem regierenden Likud geplante neue Gesetzgebung, die dem Gesetzgeber explizit erlaubt, sich über demokratische Prinzipien hinwegzusetzen, wenn sie mit gewissen religiösen Grundsätzen in Konflikt geraten, zeigen im übrigen, dass der Begriff eines jüdischen und demokratischen Staates von Anfang an ein Widerspruch in sich war.

23.Januar 2018

* Henry Siegman, Überlebender des Holocaust und heute Ende 80, war Präsident des Projekts USA–Mittlerer Osten und ehemaliges Mitglied des außenpolitischen Beratergremiums. Er stand einmal an der Spitze des American Jewish Congress und des Synagogen-Rats von Amerika. Er hat sich mit dem US-amerikanischen und jüdischen Establishment, dem er angehört, über die Jahre angelegt, weil er den amerikanischen Juden rät, ihre Bindungen an den Zionismus aufzugeben und sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der Israel als Pariastaat isoliert ist und in der es einen bedeutsamen Exodus von israelischen Juden geben werde. Die «Zwei-Staaten-Lösung» hält er für obsolet.

Der nachstehende Beitrag wurde zuerst auf der Internet-Plattform Mondoweiss veröffentlicht. (Übersetzung: Hermann Dierkes.)

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