von Stefan Bekier für Le Monde Diplomatique/Polska
Im März 1968 kam es auch in Polen zu bedeutenden Studentenunruhen. Die Studierenden forderten vor allem mehr Meinungsfreiheit. Der polnische Staat machte Juden als Strippenzieher dafür verantwortlich. Nach unterschiedlichen Quellen wanderten deshalb 13000–20000 Polen jüdischer Abstammung mit ihren Partnern aus Polen aus. Auf ihre polnische Staatsangehörigkeit mussten sie verzichten. Sie bekamen sog Reisepapiere, die nur für eine Ausreise galten. Die Ausreise erfolgte in Warschau vom Danziger Bahnhof (Dworzec Gdanski), der seine berüchtigte Berühmtheit während der Naziokkupation erlangte, als von dort Juden aus dem Warschauer Ghetto deportiert wurden. Die Auswanderung 1968 war nach dem Krieg die letzte große Welle der Emigration von Juden – nach dem Zweiten Weltkrieg waren in verschiedenen Wellen 150000 Juden aus Polen emigriert, das jüdische Leben und die jüdische Kultur kamen zum erliegen.
Stefan Bekier lebt seit 50 Jahren nicht mehr in Polen, sondern in Paris. Er engagiert sich in globalisierungskritischen Bewegungen. Bei Konferenzen ist er als Dolmetscher anzutreffen. Mit seiner Erlaubnis gibt Norbert Kollenda seinen Bericht über die Märzereignisse 1968 in gekürzter Form wieder.
Stefan Bekier studierte 1968 in Warschau an der Internationale Schule für Wirtschaftswissenschaften (SGPiS) im dritten Jahr Außenhandel. Ein Schlüsselerlebnis war, als ein beliebter Professor den Studenten eröffnete, er wolle nach Israel auswandern. Für die Studenten war es ein Schock, denn niemand identifizierte sich mit Israel – der Professor auch nicht, sie unterstützten die Palästinenser, und das was Israel tat, betrachteten sie als Unrecht und Bruch des Völkerrechts.
Um die Diskussionen und Unruhen unter den Studierenden in Griff zu bekommen, wurden 1966 Debattierclubs gegründet, die staatlichen Jugendorganisationen saßen bei ihren Versammlungen nämlich vor leeren Bänken. Stefan Bekier wurde gebeten, einen solchen Club zu leiten, und tat das unter der Bedingung, dass sie ihm freie Hand bei der Themenwahl und Referenten ließen und ihm nicht zusetzten, in die Jugendorganisation oder die Partei einzutreten. Obwohl sie zunächst einverstanden waren, gab es später immer wieder Versuche, Einfluss zu nehmen.
Dieser Club wurde von immer mehr Menschen besucht, auch von Studierenden der Universität Warschau. Es gab viele Themen: die Geschichte der UdSSR, Stalinismus, soziale Bewegungen, die Ereignisse rund um den Oktober 1956 und den Ungarnaufstand, die Arbeiterselbstverwaltung… Es wurde auch darüber diskutiert, ob man in die Partei eintreten solle, um sie von innen zu reformieren. Aber das Studium des berühmten Offenen Briefes von Jacek Kuron und Karol Modzelewski* machte bald allen klar, dass das nichts bringt.
1968 begann im ganzen Land der Kampf der studentischen Jugend um freiheitliche Demokratie. An den Hochschulen und Universitäten entstanden Streikkomitees. Am dritten Tag des Streiks brachten die staatlichen Jugendverbände Erklärungen heraus, in denen sie behaupteten, die Unruhen würden durch Rabbiner aus Israel gesteuert. Das Streikkomitee der Hochschule, zu der auch Stefan Bekier gehörte, beschloss, diese Deklaration allen bekannt zu geben und das Streikkomitee neu wählen zu lassen, damit niemand behaupten konnte, dass die sechs Juden unter den 14 Mitgliedern des Streikkomitees dieses manipulieren würden. Die tausend Versammelten reagierten auf die staatliche Deklaration mit lauten Lachsalven und wählten das Streikkomitee per Akklamation erneut.
Doch bald kam die Bewegung ins Stocken, Verfolgung, Verhaftungen und Prozesse begannen. Viel Professoren wurden der Hochschule rausgeworfen, die Abteilung für sog. Entwicklungsländer wurde liquidiert, weil sie angeblich unter dem Einfluss von Juden stand. Den in aller Welt bekannten Professor Kalecki wagte man nicht zu entlassen, letztlich resignierte er, nachdem seine Proteste ungehört verhallten. Natürlich gab es auch Professoren, denen die Ereignisse zupass kamen, verbesserten sie doch ihre Chancen, sie haben die antisemitische Propaganda für ihr persönliches Fortkommen ausgenutzt.
Es begannen Hausdurchsuchungen, bei denen gut aufgepasst werden musste, dass die Behörden einem nichts unterschieben. Viele Studenten wurden zwangsweise zur Armee geschickt.
Die antisemitische Kampagne hat Stefan zwar empört, ihn aber nicht persönlich betroffen. Er hat ein recht semitisches Aussehen, doch wenn er in der Öffentlichkeit angemacht wurde, fand sich immer jemand, der ihm beisprang. So erfuhr er auch viele Zeichen von Solidarität, Hilfe und Anerkennung, es gab eben nicht nur Antisemiten unter seinen Landsleuten.
In dieser Zeit wurden die Arbeiter in den Betrieben unter Androhungen von Sanktionen zu Versammlungen gezwungen, ihnen wurden Transparente in die Hand gedrückt und dann im Fernsehen gezeigt, wie empört die Arbeiter auf den Einfluss der «Zionisten» reagierten. Oft haben die Leute jedoch einfach nur Vorurteile nachgeplappert, so etwa die Mutter einer Freundin von Stefan: «Nun ja, die Deutschen, die Faschisten, waren noch schlimmer als die Juden.» Später zeigte sich, dass es bei ihr und vielen anderen möglich war, die alten Vorurteile aufzubrechen.
Immer mehr Menschen, die Stefan kannte, auch Professoren, verließen Polen, das tat weh. Seine Mutter, der Vater lebte nicht mehr, wurde auf einer Versammlung im Ministerium für Kultur und Kunst, wo sie beschäftigt war, unter lautem Getöse entlassen und aus der Partei ausgeschlossen, weil sie die Studierenden unterstützte und ihren Sohn angeblich so schlecht erzogen hatte. Dies erging auch anderen so, auch Leuten, die in der Vergangenheit viele Verdienste um Polen errungen hatten.
Stefan Bekier wollte nicht ausreisen, obwohl er nicht studieren durfte und keine Arbeit bekam. Er machte sich ein Ulk daraus und beantragte einen Pass mit der Begründung, in Paris weiter studieren zu wollen. Er wurde vorgeladen und sollte einen Bericht über die damaligen Ereignisse in der Hochschule schreiben. Das war eine Form, Menschen zu zwingen etwas zu unterschreiben, damit er dann als Geheimer Mitarbeiter (TW, bei uns IM) geführt werden konnte. Natürlich sollte er niemanden etwas darüber sagen – wie sich die Methoden doch ähneln –, was er aber natürlich tat und jegliche weitere Kontakte ablehnte.
Schließlich überredeten Freunde ihn zu emigrieren, um den Westen und die dortigen die Parteien, die Arbeiterbewegung und sozialen Bewegungen kennenzulernen. Diese Erfahrungen sollten ihm später für seinen Kampf in der Opposition in Polen nützen. Die Reise nach Paris durch die DDR war für ihn, wie für viele andere Polen, ein schockierendes Erlebnis. Am Berliner Bahnhof Friedrichstraße wurde der Zug von Grenzern mit Hunden umstellt, die DDR- Uniformierten machten immer den Eindruck von Nazis.
Im September 1981 reiste Stefan unter falschem Namen und mit einem spanischen Pass nach Polen. Unter seinem echten Namen nahm er viele Kontakte zu verschiedenen Gruppen und Regionen, auch zur Solidarnosc auf, er war viel in Oberschlesien, wo ihm die Idee, eine neue Arbeiterpartei zu gründen, gefiel. Er wollte seine polnische Staatsbürgerschaft zurückerlangen, aber die Staatssicherheit war schneller. Am 13.November 1981 wurde Stefan in Katowice verhaftet und von verschiedenen Offizieren verhört. Obwohl sie wussten, wer er war, haben sie ihn formell als Spanier behandelt, dessen Visum abgelaufen war, und in Zgorzelec/Görlitz über die Grenze abgeschoben.
Quelle: Le Monde Diplomatique/Polska, März 2018, mit freundlicher Genehmigung von Stefan Bekier.
* Den «Offenen Brief an die Mitglieder der Grundorganisation der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und die Mitglieder der Hochschulorganisation des Verbandes Sozialistischer Jugend an der Warschauer Universität» verbreiteten Jacek Kuron und Karol Modzelewski 1964, er war eine marxistische Kritik am polnischen «Sozialismus».
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