von Manuel Kellner
Bücher, Aufsätze und Artikel von Michael Löwy, der am 6.Mai 1938 in São Paulo in Brasilien geboren wurde, gibt es in einer Reihe von Sprachen. Der deutschsprachigen Leserschaft liegen einige seiner Schriften vor1, er hat auch immer wieder für die SoZ2 und die Presse der IV.?Internationale (so für Inprecor und International Viewpoint) geschrieben, deren führendes Mitglied er seit langem ist. Doch allein eine halbwegs vollständige Auflistung seiner Schriften würde den vorliegenden Beitrag sprengen. Hier möchte ich nur einen Aufsatz von ihm besprechen, den er 1983 zusammen mit Robert Sayre in französischer Sprache vorgelegt hat und dessen Titel ins Deutsche übersetzt lautet: Gestalten der antikapitalistischen Romantik.3
Wie bitte? Seit wann ist Romantik «antikapitalistisch»? Ist sie nicht vielmehr eine rückwärtsgewandte und damit reaktionäre Haltung, die letztlich die bestehenden Verhältnisse gegen revolutionäre Veränderungen in Schutz nimmt oder wenigstens vom Kampf für eine bessere Welt ablenkt? Die Autoren des Beitrags wissen das, zeigen aber, dass die Dinge nicht so einfach liegen.
Tatsächlich gibt es viele Strömungen der Romantik, mit Tendenzen, die sehr widersprüchlich sind: revolutionär und konterrevolutionär, kosmopolitisch und nationalistisch, realistisch und fantastisch, reaktionär und utopisch, demokratisch und aristokratisch, republikanisch und monarchistisch, mystisch und sinnlich. Es gibt aber ein tiefer liegendes, einendes Band, das rechtfertigt, von einer weltanschaulichen Strömung oder Haltung zur Welt zu sprechen.
Lukács hat diesen gemeinsamen Nenner tatsächlich «Antikapitalismus» genannt, auch bei Marx und Engels finden wir diese Diagnose, etwa in ihren Arbeiten über Balzac, Carlyle oder Sismondi. Viele Marxisten des 20.Jahrhunderts haben aber nur die reaktionäre Seite der Romantik gesehen. Bei vielen Romantikern ist die Berufung auf eine – vorgestellte, mythische, überhöhte oder idealisierte – Vergangenheit typisch. In den Romanen Balzacs «triumphiert» der «Realismus über seine royalistischen Vorurteile», weil die Genauigkeit der Schilderungen das wirkliche Elend der bestehenden Verhältnisse sichtbar machen. Umgekehrt triumphiert in Fantastik und Surrealismus (wie bei E.Th.A.Hoffmann und André Breton) die Macht der Einbildungskraft über das schlechte Bestehende.
Graue, prosaische, unmenschliche Verhältnisse, in denen nur das Quantitative zählt – Tauschwert, Geld, Preis, Profit –, in denen die Menschen voneinander isoliert und einander gleichgültig sind, sich nur als Konkurrenten gegenseitig bekämpfen, in denen ihr Leben qualitätsfrei wird, salzlos, abgeschmackt und inhaltsleer: solche Verhältnisse rufen das Bedürfnis nach einer anderen Welt hervor, die nicht entzaubert und reizlos ist. Das schafft das Bedürfnis nach Fluchtwelten, deren Elemente einer eingebildeten oder überhöhten Vergangenheit oder auch exotischen fernen Ländern entnommen sein können. Natürlich werden dabei oft Fluchtwelten geschaffen («Eskapismus»), mit denen sich Menschen der Moderne über den grauen Alltag hinwegtrösten. Doch kann die Suche nach der «blauen Blume der Romantik» auch zur Utopie führen (wie bei vielen sogenannten «utopischen Frühsozialisten) und Triebkraft für den Kampf um eine menschlichere Welt werden (wie dies sehr charakteristisch bei Walter Benjamin der Fall war, der den Rückgriff auf den jüdischen Messianismus mit dem historischen Materialismus zu verknüpfen suchte).
Die Aufklärung hat als geistige Geburtshelferin der Moderne religiöse und romantische Ideale zerpflückt, ihr Ton war prosaisch, sie war nüchtern dem vernunftgeleiteten Fortschritt verpflichtet, sie wollte desillusionieren. Der kapitalistische technische und industrielle Fortschritt entsprach mit der Vernichtung der überkommenen «mittelalterlichen» Verhältnisse und der tradierten Illusionen diesem Denken. Doch schon Karl Marx, als er Kommunist geworden war, verwahrte sich in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie dagegen, den «Ketten» die schmückenden «Blumen» zu nehmen, bloß um diese Ketten ungeschmückt illusionslos zu tragen, vielmehr gelte es diese Ketten abzuwerfen und «die lebendige Blume zu brechen» (unser Geschmack heute wäre eher, uns an der nicht gepflückten Blume in Gärten und auf Wiesen zu erfreuen).
Nostalgie und Utopie
Die Kunst und das Denken konservativer wie utopischer Romantiker hat zum Ausgangspunkt, dass Wertvolles verloren gegangen ist: eine menschlichere Art von Gemeinschaft, ein ungebrochenes Verhältnis zur Natur, eine bessere Entfaltungsmöglichkeit der vielfältigen Anlagen der menschlichen Kreativität und des menschlichen Seelenlebens, eine bessere Verbindung der Einzelnen mit dem Ganzen, ein Leben voller begeisternder Erfahrungen mit immer wiederkehrendem Hochgefühl des Bezaubertseins, ohne die auch kein Kind glücklich sein kann. Nostalgie und Utopie liegen hier nahe beieinander.
Löwy und Sayre unternehmen eine äußerst differenzierte «Typologie» der Romantik, die vom reaktionärsten Furor des Faschismus bis zum revolutionären Elan derjenigen reicht, die für menschliche Verhältnisse und die umfassende Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung kämpfen und sich nicht mit der reinen Vorstellung eines utopischen «Nirgendwo» zufriedengeben. Sie diskutieren auch die Frage, welche Klassenbasis die Romantik haben könnte, wobei sie vereinfachte und dogmatische Schemata verwerfen, denen zufolge wahlweise Aristokraten, Bourgeois oder Kleinbürger damit auf die Gefährdung ihrer Privilegien oder Existenzen reagieren – obwohl es diesen Aspekt natürlich gegeben hat und gibt.
Die Autoren betonen aber die Rolle der «freischwebenden Intelligenz» (Karl Mannheim), deren soziale Herkunft verschiedenartig ist und die sich über ihren Beitrag zur «kulturellen Produktion» definieren. Sie stoßen sich weniger an den Klassengegensätzen als vielmehr an dem Druck, der im Kapitalismus auf ihnen lastet, ihre Kreativität und ihre Seelen dem Meistbietenden zu verkaufen. Dagegen lehnen sie sich oft in verschiedener Weise auf. Diese Schicht ist nicht sehr groß, wohl aber ihr Publikum, auf das sie mittels verschiedener Medien einwirken.
Angesichts des Ausmaßes und der Drastik, mit der die kapitalistische Produktionsweise heute menschliche Perspektiven und Natur vernichtet, sind weder Religiosität, noch romantische Weltflucht noch emanzipatorische Utopie passé – im Gegenteil, sie sind charakteristische Erscheinungen unserer Zeit.
1Bei ISP sind von Michael Löwy erschienen: Che Guevara (1987); Internationalismus und Nationalismus. Kritische Essays zu Marxismus und «nationaler Frage» (1999); Marxismus in Lateinamerika (1984); Marxismus und Religion. Die Herausforderung der Theologie der Befreiung (1990); Revolution ohne Grenzen. Die Theorie der permanenten Revolution (1987).
2Siehe z.B.: «Das Reich der Freiheit. Protestantische Arbeitsethik, Verkürzung des Arbeitstags, bedingungsloses Grundeinkommen», SoZ 5/2017.
3Figures du romantisme anti-capitaliste. In: L’homme et la société, 1983 (Themen-Heft zur Aktualität der Philosophen der Frankfurter Schule).
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