von Manuel Kellner
Am 1.Mai des Jahres 1890 kommen 300000 Arbeiterinnen und Arbeiter in London zur Kundgebung. Eleanor Marx, mit familiärem Spitznamen Tussy, führt sie vom Themse-Ufer in den Hyde Park und spricht zu ihnen: «Wir sind nicht hergekommen, um die Arbeit der politischen Parteien zu tun, sondern für die Arbeiter, um sie zu verteidigen und ihre legitimen Rechte zu fordern … Wir sind entschlossen, den Achtstundentag durch gesetzlichen Erlass durchzusetzen … Wir sollten nicht wie einige Christen sechs Tage sündigen und am siebten in die Kirche gehen, sondern wir müssen täglich für unsere Sache sprechen. Und wir müssen all die Männer und besonders die Frauen, die um uns sind, in die Lage bringen, dass sie uns helfen können.» Friedrich Engels kommentiert, er habe «zum ersten Mal seit vierzig Jahren wieder die unmissverständliche Stimme des Proletariats gehört».
Diese «Stimme des Proletariats» ist nicht einfach bloß die jüngste der Marx-Töchter. Sicher, sie hat viel zur Bearbeitung des literarischen Nachlasses ihres Vaters beigetragen und z.B. mit Friedrich Engels zusammen den zweiten Band des Kapitals veröffentlichungsreif gemacht. Sie hat auch, wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters, die erste kompakte und objektiv gehaltene Biografie von Karl Marx geschrieben. In den USA, wo sie die sozialistischen Ideen mit Vorträgen popularisierte, erhielt sie den Rufnamen «Lady Liberty». 1890 ist sie in London eine bereits etablierte und beliebte Agitatorin und Organisatorin der Arbeiterbewegung, heimisch in den ärmsten Vierteln, bei den diskriminierten jüdischen Handwerkern; sie hilft beim Massenstreik der Docker, bei einem Streik der Arbeiterinnen einer Gummifabrik in Silvertown, deren Arbeits- und Lebensbedingungen fürchterlich sind. Gegen ihre Neigung – eigentlich ist sie für die Einheit der Arbeiterinnen und Arbeiter – setzt sie sich nach einigen Erfahrungen für den Aufbau einer Frauensektion in der Gewerkschaft ein.
Eleanor Marx wird am 15.Januar 1855 geboren. Karl Marx schreibt an seinen Freund Friedrich Engels: «Wäre es ein männliches Wesen, so ginge die Sache schon eher.» Die Biografin schimpft darüber nicht. Sie reagiert einfühlend mit Blick auf die damals so düsteren Aussichten der Frauen: «Das klingt nicht gerade freundlich. Aber vielleicht doch realistisch? Denn die Chancen für Mädchen stehen um diese Zeit denkbar schlecht, ob in England oder in Deutschland. Sie können weder Ärzte noch Rechtsanwälte noch Politiker werden. Der Zutritt zu Universitäten ist ihnen versagt. Töchter der unteren Klassen können wenigstens noch in Fabriken arbeiten. Für eine junge Frau der Gesellschaft ist das unmöglich. Für sie gibt es eigentlich nur zwei Perspektiven: die Ehe oder die Arbeit als Gouvernante.»
Daran gemessen hat Eleanor Marx, die nur 43 Jahre alt wurde, in ihrem tragisch kurzen Leben viel erreicht, jedenfalls viel geleistet. Bereits gefeierte Rezitatorin, bricht sie ihre Ausbildung zur Schauspielerin ab, weil sie sich um ein Kind ihrer schwer kranken älteren Schwester Jenny kümmern muss. Sie war als politische Publizistin auf hohem Niveau tätig, und auch als Übersetzerin von politischen Texten und Romanen, so der 500 Seiten starken Geschichte der Kommune von Prosper Lissagaray ins Englische. In der II.Internationale war sie Dolmetscherin und Verfechterin der Frauenrechte. Oft ist sie vor Wände gelaufen, weil sie als Frau auf Missgunst traf. Zu depressiven Stimmungen neigend, hat sie sich am 31.März 1898 selbst das Leben genommen – wenn man liest, wie übel ihr Lebensgefährte Edward Aveling, den sie bis zuletzt aufopfernd unterstützte, sie hintergangen und ausgenutzt hat, ist der aufsteigende Zorn schwer zu bändigen.
Viel muss hier aus Platzgründen ungesagt bleiben. Es bleibt nur übrig, die aufwühlende, viele Informationen verarbeitende und von Eva Weissweiler mitreißend geschriebene Biografie zur Lektüre zu empfehlen. Aber wenigstens ein Aspekt der vielfältigen politischen Persönlichkeit von Eleanor Marx sei hier noch angeschnitten:
Im Gegensatz zu ihrem Vater verschwieg sie ihre jüdische Abstammung nicht, sondern behandelte sie als Teil der eigenen Identität und kämpfte bewusst gegen den Antisemitismus an. Ihrer «unablässigen Überzeugungsarbeit» verdanken wir laut Eva Weissweiler die klare Stellungnahme von Engels gegen den Antisemitismus nach den antisemitischen Ausschreitungen in Russland und den Judenvertreibungen aus Moskau im Herbst 1890.
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