von Bernard Schmid
Artikelreihe für Labournet.de, mit regelmäßiger Aktualisierung. Die jüngsten Artikel finden sich immer ganz oben.
Frankreich/Bahnstreik und andere Sozialproteste:
„Tag ohne Eisenbahner“ am Montag war ein Erfolg / Beginn der Urabstimmung unter den Bahnbeschäftigten – inspiriert durch jene unter den Air France-Beschäftigten, welche der dortigen Direktion in schlechter Erinnerung bleibt // An einigen Hochschulen konnten Proteste die Durchführung von Abschlussprüfungen verhindern; doch insgesamt bleibt die universitäre Protestbewegung minoritär / Vorläufige Bilanz einer Periode, die die soziale Protestbewegung zwischen die Klippen von hooligan-anarchistischer Kleingruppengewalt (1. Mai) einerseits und der linkssozialdemokratischen Vereinnahmung (05.05.) andererseits führte / Nächstes wichtiges Datum wird die Mobilisierung am 26. Mai d.J. / Eine der entscheidenden Fragen wird die eventuelle – derzeit noch nicht offiziell beschlossene – Teilnahme, oder Nichtteilnahme, der CGT daran bilden / Aktueller Stand: 78 (gegen zwölf) Mitgliedsverbände der CGT unterstützen eine Beteiligung
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„Was tun?“, sprach Lenin. „Was nun?“ fragt die libertär-kommunistische, antiautoritäre französische Vereinigung Alternative Liberataire – welche insbesondere in der linksalternativen Schienengewerkschaft SUD Rail stark verankert ist – zu Anfang dieser Woche. ( Vgl. : http://leraildechaine.org/post/173902222340/et-maintenant ) Hintergrund dafür ist, dass der Streiktag unter dem Titel „Tag ohne Eisenbahner“ an diesem Montag, den 14. Mai 18 unter dem Strich einen guten Erfolg darstellte; sich nun jedoch die Frage nach dem „Danach“ umso stärker stellt. ( Vgl. etwa https://www.lutte-ouvriere.org/editoriaux/journee-sans-cheminots-un-succes-pour-tous-les-travailleurs-qui-veulent-relever-la-tete-107740.html ) Auch wenn die Direktion der französischen Bahngesellschaft eifrig bemüht ist, das Gegenteil zu behaupten ( vgl. http://www.europe1.fr/economie/sncf-la-journee-de-mobilisation-de-lundi-loin-detre-un-succes-selon-pepy-3652973 ), war doch auch laut ihren Angaben eine Streikbeteiligung von 74,4 % bei den Lokführer/inne/n und 74,3 % bei den Schaffner/inne/n zu verzeichnen. Die Idee hinter dem Aufruf zu einem „Tag ganz ohne Eisenbahner(innen)“ an diesem Montag war es, die Streikenergien an diesem Tag zu bündeln, indem die – ansonsten ungleich befolgte – Arbeitsniederlegung an diesem Tag auch auf die Teilstreikenden und die Zögerlichen ausgedehnt wird.
Es stimmt, dass diese hohe Beteiligung nicht für alle Berufsgruppen zutrifft – manche Beschäftigtengruppen bei der Eisenbahn ruhen sich derzeit ein bisschen auf den, für das Verkehren von Zügen entscheidenden, Kategorien wie Lokführer/inne/n, Schaffner/inne/n bzw. „Bordpersonal“ und Mechaniker/inne/n aus. Es stimmt auch, dass durchaus eine gewisse Anzahl von Zügen verkehrten, wie der Verf. dieser Zielen (aus beruflichen Gründen am Montag zur Nutzung des Nahverkehrs gezwungen) bestätigen kann, denn bei den RER (ungefähr: S-Bahnen) im Raum Paris verkehrten je nach Linie zwischen einem Viertel und einem Drittel. Dennoch war laut einem Teilnehmer, der auch den mittlerweile „historischen“ Bahnstreik von November und Dezember 1995 erlebt hat, die Beteiligung an diesem Montag, den 14.05.2018 stärker als während des Streikherbsts 1995. Allerdings: Verändert hat sich seitdem die Technologie – damals konnte etwa ein Streik von Bahnbeschäftigten im Stellwerk den Verkehr relativ leicht komplett lahmlegen. Aufgrund der Automatisierung genügen jedoch heute zwei Bahnbeschäftigte, um ein Stellwerk am Funktionieren zu halten. Im Raum Paris etwa existiert eine, durch andere Bahnkolleg/inn/en als „Söldnertruppe“ bezeichnete Beschäftigtengruppe unter der Bezeichnung „Pool FAC“, die (in ihrem Falle tatsächlich zutreffend) „fett“ bezahlt wird – Prämien inbegriffen, rund 5.000 Euro monatlich – und jeweils dort als Lückenfüller einspringt, wo beispielsweise streikbedingte Ausfälle auftreten. Zwar hat es in jüngster Zeit einige kaputte Autoreifen und neu gestrichene Spinds in diesem Zusammenhang gegeben, doch funktionieren diese Streikbrechertrupps weiterhin ziemlich gut.
Insgesamt ist der Bahnstreik, wie alle Sozialproteste in diesem Moment, von Ungleichzeitigkeiten geprägt. Da die gewählten Streikmodalitäten (wir berichteten wiederholt: je zwei Tage Arbeitsniederlegung im fünftägigen Zyklus, unterbrochen durch Arbeitstage) die Basisversammlungen ihres Inhalts berauben – der Kalender der Streiktage ist vorab festgelegt, in Fällen früherer Bahnstreiks wurde hingegen vor Ort alle 24 Stunden über die Streikfortsetzung oder den Abbruch entscheiden -, nehmen viele Bahnbeschäftigte an den Versammlungen nicht teil. Nicht wenige wählen sich ihre Streiktage ein bisschen à la carte aus; fällt ein Streiktag etwa auf einen Wochenendtag, wird er genommen, um ihn dann jedoch oft im Kreise der Familie statt auf einer Streikversammlung zu verbringen. An einem anderen Wochentag (Werktag) hingegen wird dann oft trotz Streikkalenders gearbeitet, um die Verdienstausfälle einzudämmen.
Übrigens: Ja, es gibt eine manifeste Solidarität, auch wenn die öffentliche Meinung insgesamt den Bahnstreik laut Umfragen (ja, demoskopische Erhebungen sind prinzipiell manipuliert oder manipulierend, das waren sie jedoch immer schon) nur zu rund 40 Prozent unterstützt, während es etwa im Streikherbst 1995 dagegen rund 70 Prozent waren. Auf Aufruf von prominenten Intellektuellen hin wurde eine Spendensammlung begonnen, um Gelder in spontan eingerichtete Solidaritätskassen einzubezahlen. (In Frankreich gibt es traditionell keine gewerkschaftlichen Streikkassen, dafür hätten die Gewerkschaften wohl auch nicht die finanziellen Mittel. In aller Regel bezahlen Lohnabhängige ihre Verdienstausfälle aus eigener Tasche, können ihr Streikrecht jedoch zugleich unabhängig von Gewerkschaftsvorständen und Apparaten ausüben.) Dabei – das war die Big News aus der ersten Maiwoche 2018 – kamen bereits über eine Million Euro zusammen. ( Vgl. etwa http://www.francesoir.fr/societe-transport/greve-sncf-un-cagnotte-dun-million-deuros-offerte-aux-grevistes und https://www.ledauphine.com/france-monde/2018/05/03/sncf-un-cheque-d-un-million-d-euros-pour-les-cheminots-en-greve oder http://www.revolutionpermanente.fr/Greve-SNCF-une-cagnotte-d-1-million-d-euros-a-ete-remise-aux-grevistes ). Allerdings dämpfe ein Streikteilnehmer aus den Reihen von SUD Rail am gestrigen Dienstag die diesbezügliche, bisherige Euphorie des Verf. dieser Zeilen: Rechne man insgesamt rund 50.000 Bahnbeschäftigten, die sich zumindest in Teilen am Streik beteiligt hätten – die SNCF beschäftigt derzeit rund 150.000 Personen ( vgl. https://ressources.data.sncf.com/explore/dataset/effectifs-disponibles-sncf-depuis-1851/?sort=date ), wobei ein Prozess der Auslagerung von Filialen seit Jahren begonnen hat -, so mache dies zwanzig Euro pro Person aus. Mathematisch unwiderlegbar.
Um die passiven Widerstände und Schwierigkeiten zu überwinden, probieren die Bahngewerkschaften nun ein neues Mittel aus: Seit Montag, den 14.05.18 organisieren sie ein „Referendum“ (eine Urabstimmung) unter den Bahnbeschäftigten, um aufzuzeigen, wie massiv dort die Ablehnung der geplanten Bahn„reform“ ausfällt. Und eben nicht nur unter den, laut Angaben der Direktion rund 25 Prozent direkt am Streik Teilnehmenden. Zwar gibt es daran, dies sei nicht verschwiegen, aus der radikalen Linken auch Kritik: Der Abstimmungsmodus stelle eine Demobilisierung dar, eine Abwendung von der aktiven Streikmobilisierung. ( Vgl. https://npa2009.org/actualite/entreprises/referendum-la-sncf-mais-quallaient-ils-donc-faire-dans-cette-galere ) Andere, ebenso antikapitalistische, Bahnbeschäftigte widersprechen dieser Einschätzung jedoch und sehen beide nicht als Widerspruch zueinander, eher als Ergänzung. (So auch unser Diskussionspartner von SUD Rail am gestrigen Dienstag.)
Die Bahndirektion ihrerseits reagierte darauf, indem sie von vornherein ankündigte, eine solche Abstimmung habe keinerlei Legitimität und werde nichts ändern. ( Vgl. http://www.liberation.fr/direct/element/guillaume-pepy-naccorde-aucune-legitimite-a-la-consultation-des-cheminots_81603/ ) Ihrerseits versucht sie nun, in der öffentlichen Meinung in die Charme-Offensive zu kommen, indem sie – als „Ausgleich“ für die Ungemach des Streiks für die Nutzer/innen – drei Millionen Fahrkarten für die Sommermonate zu sehr vergünstigten Preisen auf den Markt wirft. (Vgl. etwa http://www.leparisien.fr/economie/guillaume-pepy-la-sncf-va-proposer-trois-millions-de-billets-de-tgv-a-moins-de-40-eur-10-05-2018-7709442.php )
Vorbild Air France?
Inspiriert worden ist die Abstimmungsinitiative zweifellos durch jene bei der Luftfahrtgesellschaft Air France. Die dortige Urabstimmung unter den Lohnabhängigen wurde ursprünglich durch die Direktion anberaumt, nachdem deren Verhandlungen mit den Gewerkschaften gescheitert waren. Sie würde dann jedoch im Endeffekt aufzeigen, dass die Ablehnung der Pläne der Direktion – und vor allem ihres Verhaltens während der Verhandlungen zu den Lohnforderungen und zu dem Streik, welcher seit Mitte Februar in mehreren Wellen (von jeweils zwei-drei Tagen) andauert – weite Teile des Personals erfasst. Und eben keineswegs nur „die Piloten“, während die Medienberichterstattung (welche am schlimmsten und einseitigsten in den stärksten Fernsehsendern wie TV1 ausfällt) stets und ständig nur von diesen Piloten und ihren „Gehältern von 12.000 bis 15.000 Euro“ spricht, um beim Publikum den Eindruck zu erwecken, hier streikten eine Handvoll von Privilegierten für Luxusforderungen. Dabei hatten die Pilotengewerkschaften den Streik bereits hinschmeißen wollen, und Stewards und Stewardessen sorgten zu dem Zeitpunkt für dessen Fortsetzung…
Der damalige Generaldirektor von Air France, Jean-Marc Janallaic, verknüpfte seine eigene politische Zukunft mit dem positiven Ausgang des „Referendums“ verknüpft. ( Vgl. https://www.20minutes.fr/societe/2265791-20180504-air-france-sort-pdg-lie-vote-salaries-13e-jour-greve-couteuse ) Zur Abstimmung gestellt wurde ein „Kompromiss“, den die Gewerkschaften zuvor in dieser Form abgelehnt hatten. Er sieht eine über vier Jahre gestreckte Lohnerhöhung um insgesamt sieben Prozent gegenüber heute vor. Die Beschäftigten fordern zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt 6 % mehr Lohn (OK OK, die Pilotengewerkschaften warfen ihrerseits die Zahl von 10,7 % für ihre spezielle Berufsgruppe in den Raum), nachdem die Einkommen jetzt sechs Jahre stagnierten. Und dies, während die Führungskräfte sich selbst 2016/17, mitten in einer Welle von Arbeitsplatz-Streichungen, ihre Gehälter um 18 Prozent erhöht hatten… ( Vgl. https://www.marianne.net/economie/air-france-les-dirigeants-s-augmentent-de-presque-20-en-plein-plan-de-departs )
Am 04. Mai d.J. folgte dann das Ergebnis, und es platzte eine kleine Bombe: Über 55 Prozent der Beschäftigten bei Air France insgesamt lehnten den Vorschlag der Direktion eiskalt ab. ( Vgl. bspw. http://www.lemonde.fr/economie/article/2018/05/05/le-vote-sanction-des-salaries-pousse-le-pdg-d-air-france-klm-a-la-demission_5294658_3234.html ) Der bisherige Generaldirektor fraß, pardon: nahm daraufhin seinen Hut. Seitdem erfolgt allerdings ein wahres mediales Trommelfeuer, mit dem darauf hingewiesen werden soll, die Luftfahrtgesellschaft – 1993 privatisiert, zuvor staatlich – könne „untergehen“, durch die Konkurrenz alle gemacht werden, pleite machen, bankrott gehen, verschwinden. (Vgl. http://www.leparisien.fr/economie/air-france-peut-elle-vraiment-disparaitre-08-05-2018-7704492.php und http://bfmbusiness.bfmtv.com/entreprise/air-france-peut-elle-vraiment-disparaitre-1439565.html und http://video.lefigaro.fr/figaro/video/air-france-peut-elle-disparaitre/5785096385001/ und…) Auch die Regierung bläst eifrig in dieses Horn…
Auch bei der französischen Bahn wird, selbstredend, mit klaren Ergebnissen gegen die geplante Bahn„reform“ gerechnet. Zumal zwar die Regierung stetig beschwört, selbige solle nicht auf eine Privatisierung der französischen Eisenbahn hinauslaufen ( vgl. http://www.lefigaro.fr/social/2018/05/14/20011-20180514ARTFIG00032-sncf-les-cheminots-appeles-aux-urnes.php ) - jedoch durch die Medien durchgesickerte Gesprächsprotokolle ziemlich genau das Gegenteil beweisen. ( Vgl. http://www.leparisien.fr/economie/reforme-de-la-sncf-le-document-qui-seme-le-trouble-13-05-2018-7713093.php und http://www.lemonde.fr/entreprises/article/2018/05/14/sncf-la-polemique-sur-un-projet-cache-de-privatisation-refait-surface_5298391_1656994.html sowie https://francais.rt.com/economie/50629-sncf-note-interne-evoquerait-privatisation-supression-lignes )
Dennoch stellt sich nun die Frage, wie es weitergeht. Denn zwar hält der Bahnstreik insgesamt relativ gut, trotz einer unvermeidlichen Abnutzung, denn dieser Montag (14.05.18) bildete bereits den 18. Streiktag in einem vorab festgelegten, am 03. April d.J. begonnen Streikkalender. (Notwendig Spekulation bleiben muss die Fragestellung, ob der Streik eine andere - möglicherweise erfolgreiche? - Dynamik entwickelt hätte, wäre er ohne Befristung und ohne von vornherein festgelegten Kalender begonnen worden, wie etwa SUD Rail dies wünschte. Oder hätte er bereits eine Niederlage markiert? Diese Frage muss notwendig offen bleiben.) Doch rund um den Bahnstreik darum herum bleibt bislang die allgemeine convergence des luttes oder das „Zusammengehen der sozialen Kämpfe“ in unterschiedlichen Sektoren, das die kämpferischen Kräfte wünschen, in Wirklichkeit weitgehend aus. Zwar gibt es wichtige Teilbereichskämpfe, derzeit etwa im Fastfood-Sektor (ein McDo-Restaurants unweit des Pariser Ostbahnhofs ist seit vergangenem Freitag, den 11. Mai d.J. durch Streikende besetzt, und just am heutigen Mittwoch, den 16.05.18 sind dort heftige Spannungen zu verzeichnen, weil die Direktion eine Wiedereröffnung durchzusetzen versucht). Auch die Studierenden regen sich nach wie vor, mit sehr starken örtlichen Ungleichzeitigkeiten.
Hochschulblockaden
An rund zehn Universitäten (von insgesamt etwa siebzig, mit 100 Standorten, oder mit ausgelagerte Fakultäten usw. mitgezählt bis zu 400) wurden in den letzten Tagen ausgelagerte Prüfungen, mit denen die Streikbewegungen umgangen werden sollten, blockiert. Am spektakulärsten war die Blockade der von der Universität Nanterre ausgelagerten Abschlussprüfungen am „Nationalen Examensstandort“ in Arcueil-Cachan südlich von Paris am Montag. (Vgl. etwa http://www.leparisien.fr/nanterre-92000/arcueil-les-etudiants-de-nanterre-bloquent-la-maison-des-examens-11-05-2018-7710012.php und https://www.francetvinfo.fr/societe/education/parcoursup/universite-de-nanterre-des-examens-suspendus-apres-un-blocage_2747849.html ) Allerdings: Zwar gibt es in Nanterre offensichtlich eine gewisse Massenbasis für die aktuelle Protest- und Blockadebewegung. Insgesamt, und im Kontext verbreiteter beruflicher Zukunftsangst (vulgo: „Zwang zur Konzentration aufs Studium“), ist diese Tendenz jedoch in der Studierendenschaft allem Anschein nach minoritär. (Vgl. eine durch die CFDT-ähnliche, also in bürgerlichem Jargon „moderate“, Studierendengewerkschaft FAGE publizierte Umfrage dazu: http://www.lemonde.fr/campus/article/2018/05/10/universites-que-pensent-les-etudiants-de-la-mobilisation_5297185_4401467.html oder http://etudiant.lefigaro.fr/article/72-des-etudiants-sont-opposes-aux-blocages-selon-un-sondage-de-la-fage_0e52716e-54db-11e8-8b46-974776ed5324/ ) Und die Universitätsleitungen umgehen die Hindernisse, etwa indem nun an der Hochschule v. Nanterre individualisierte Prüfungen im Internet – on-line – abgelegt werden. ( Vgl. http://www.lemonde.fr/campus/article/2018/05/15/l-universite-de-nanterre-fera-passer-des-examens-en-ligne-une-ag-etudiante-s-y-oppose_5299468_4401467.html ) Staatspräsident Emmanuel Macron verkündete bereits vor Wochen, es werde auch in diesem Frühjahr „keine geschenkten Prüfungen“ geben; vgl. https://www.marianne.net/politique/il-n-y-aura-pas-d-examen-en-chocolat-lance-macron-aux-etudiants-grevistes-sur-tf1 Ein Teil der Protestbewegung antwortete darauf bspw. an der Hochschule Paris-VIII in Saint-Denis mit der – laut Auffassung des Autors dieser Zeilen infantilen – Forderung, alle Studierenden sollten automatisch eine Note „von mindestens 15 auf 20“ (entspricht im Deutschen Gut/Vollbefriedigend) erhalten. Dies dürfte jenseits der unmittelbar Betroffenen wohl kaum als legitim erachtet werden. Im Mai 1968 wurden die Abiturprüfungen und andere Examen etwa um mehrere Wochen verschoben (auf Juli 68) und auch erleichtert, aber eben auch nicht vollkommen „geschenkt“.
Zurück zur Bahn: Aufgrund der jedenfalls sehr realen Widersprüche, die mit der offiziellen Streikstrategie der Gewerkschaftsverbände CGT / CFDT / UNSA zusammenhängen, zeigt sich ein Teil der Protestaktiven geneigt, der Versuchung von Kleingruppenaktionen und etwa unangemeldeten Schienenblockaden zu unterliegen. ( Vgl. in der bürgerlichen Presse: http://www.liberation.fr/france/2018/05/06/a-la-gare-du-nord-des-envies-d-actions-musclees_1648230 ) Dies birgt allerdings die Gefahr in sich, relativ schnell unpopulär zu werden und / oder Disziplinarstrafen bis hin zur Kündigung nach sich zu ziehen.
Generell läuft die soziale Protestbewegung derzeit Gefahr, auf zwei Klippen (oder eine von beiden) aufzulaufen, da die Arbeitskampfbewegung als ihr zentraler Bestandteil derzeit nicht so durchschlagende Ergebnisse erzielt, dass das Land oder auch nur der Transportsektor dadurch komplett lahmgelegt würde.
Zwei Klippen: Kleingruppengewalt von politischen Abenteurern oder linkssozialdemokratische Vereinnahmung
Auf der einen Seite steht das Abdriften in eine politisch zunehmend unkontrollierte Kleingruppengewalt, die auch eine Reihe erlebnisdurstiger Heranwachsender, Adrenalinsteigerungen suchender anpolitisierter Protest-Hooligans und politischer Abenteurer vom Schlage „Insurrektionalisten“ anzieht. Am 1. Mai dieses Jahres wurde dies auf der Pariser Demonstration zum internationalen Arbeiter(kampf/feier)tag deutlicher denn je. Zwar hätte man zunächst als Erfolg verbuchen können, dass der sich vor die Gewerkschaftsvorstände und ihren offiziellen Spitzenblock setzende Demo-Teil – seit Frühjahr 2016 offiziell als cortège de tête (Demoblock am Kopf) bezeichnet – größer denn je ausfiel: Die Polizeipräfektur schätzte ihn offiziell auf 14.500 Personen an jenem Tag, und die dahinter laufende Gewerkschaftsdemo auf 20.000. (Die CGT sprach für Letztere von „55.000“, was manifest übertrieben schien.) Das ist zwar insofern grundsätzlich positiv, als viele Menschen, die der Kontrolle durch etablierte politische und gewerkschaftliche Apparate zu entgehen versuchen, unter ihnen auch viele empörte oder sich radikalisierende junge Gewerkschafter/innen, ebenfalls in diesen „Spitzenblöcken“ laufen. Doch die Schattenseite zeigte sich ebenfalls sehr schnell, denn in den Reihen dieser Demo vor der Demo (in welche der gewerkschaftliche Ordnerdienst nicht hinreicht, zum Guten wie zum Schlechten) agierten vermummte und behelmte Kleingruppen, und dies keineswegs nur zum Guten. Deren Anzahl wiederum wurde durch die Polizeipräfektur schnell auf „1.200“ beziffert.
Die weitgehend von politisch definierten Zielsetzungen entkoppelte Gewalt, einmal entfesselt, richtete sich auf Bau- und Personenkraftzeuge, die in Brand gesteckt wurden; aber auch ein McDonalds-Restaurants in der Nähe des Austerlitz-Bahnhofs wurde angezündet. Die Gewalt zeigte dabei ihre, pardon – aber nennen wir die Dinge beim Namen – asoziale Seite, denn darüber liegen Wohnungen, um die die Akteure sich offensichtlich unbekümmert zeigten. Die Gewalt (in ihrer manifesten Form; klar, im Kontext eines bereits strukturell auf Gewalt, d.h. Ausbeutung von Mensch und Umwelt basierenden Gesamtsystems) ging an jenem Tag tatsächlich nicht zuerst von der Polizei aus.
Diese wartete vielmehr zunächst 45 Minuten lang in Ruhe ab, bis die – für gesamtgesellschaftliche Legitimation des Polizeieinsatzes günstigen – Fernsehbilder produziert waren, und griff erst danach ein. Dies sorgte für einige Polemiken und Unterstellungen, wonach etwa Provokateure oder (wie der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon behauptete, bevor er es öffentlich zurücknahm, vgl. etwa http://www.leparisien.fr/faits-divers/violences-du-1er-mai-melenchon-accuse-des-bandes-d-extreme-droite-01-05-2018-7692582.php und die Rücknahme: https://www.francetvinfo.fr/politique/la-france-insoumise/violences-a-la-manifestation-du-1er-mai-melenchon-reconnait-avoir-accuse-l-extreme-droite-a-tort_2733249.html ) „rechtsextreme Banden“ marodiert hätten und nicht Demo-Teilnehmer/innen. Die Wirklichkeit war jedoch eine andere.
Inzwischen gibt es auch aus dem linksradikal-antiautoritären Lager eine dezidierte, scharfe Selbstkritik an dem Vorgehen von Kleingruppen an diesem 1. Mai, das als „autoritär“ gegenüber den übrigen Protestierenden und Demo-Teilnehmer/inne/n charakterisiert wird. (Vgl. https://paris-luttes.info/appel-aux-convaincu-e-s-une-10146 )
Nachdem sie eine Weile lang – von Seiten der politischen Einsatzleitung: taktisch motiviert – abwartete und zusah, griff die Polizei dann doch noch ein, umkesselte rund 200 Menschen und nahm rund 150 fest. Angeblich, so verlautbarte die Polizeipräfektur zunächst, handele es sich dabei um den „harten Kern“. In Wirklichkeit wurden, man ist versucht zu schreiben: „natürlich“, nicht die unmittelbaren Urheber von tatsächlich problematischen Aktionen festgenommen, sondern vielmehr wahllos alle, die sich zur falschen Zeit in der falschen Zone befanden. (Vgl. in der bürgerlichen Presse u.a.: http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2018/05/04/violences-du-1er-mai-amende-et-relaxes-pour-les-premiers-manifestants-juges-a-paris_5294609_1653578.html ) Zu ihnen zählten auch sehr „gewaltferne“ Menschen, die einfach der Demonstration von ihrem Ankunftsort her entgegenlaufen wollten, um sich unterwegs irgendwo einzureihen. Prozesse in diesem Zusammenhang haben bereits begonnen, die ersten drei endeten jedoch mit Freisprüchen respektive einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro. (Vgl. https://www.20minutes.fr/societe/2266483-20180505-violences-1er-mai-amende-relaxes-premiers-manifestants-juges-paris und http://www.leparisien.fr/faits-divers/violences-du-1er-mai-une-premiere-condamnation-a-1-000-eur-d-amende-04-05-2018-7699203.php ) Ende Mai und Anfang Juni dieses Jahres folgt nun die nächste Welle von Prozessen in diesem Zusammenhang.
Die zweite Klippe ist jene der (links)sozialdemokratischen Vereinnahmung. Vor allem, nachdem sich die linkssozialistische und in Teilen linksnationale Wahlplattform La France insoumise (abgekürzt LFI oder FI; ungefähr: „Das aufsässige Frankreich“) von Jean-Luc Mélenchon im Zusammenhang mit der sehr erfolgreichen Demonstration vom Samstag, den 05. Mai 18 auf Profilsuche sehr auf dem Fenster hängte. Diese fête à Macron (doppeldeutig; ungefähr: „eine Party für Macron“, aber eben auch: „Emmanuel Macron kann was erleben!“) war ursprünglich – wir berichteten – durch ein Initiativentreffen am Abend des 04. April d.J. im Pariser Gewerkschaftshaus anberaumt worden. Doch an jenem Samstag war die Wahlpartei LFI äußerst sichtbar präsent und verteilte Pappschilder mit Slogans und Sprüche, die durch Teile des Publikums dankbar aufgegriffen und auf den Weg (die Demoroute) mitgenommen wurden. Dies erweckte den Eindruck, die Wahlplattform LFI sei in der Demonstration omnipräsent, was jedoch so nicht zutraf: Diese war heterogen zusammengesetzt, wobei jedoch die organisierte gewerkschaftliche Komponente relativ schwach ausfiel. Der Protestzug kennzeichnete durchaus einen Erfolg: Ein „Kollektiv“ von Medienunternehmen sprach von 39.500 Teilnehmenden, zählte jedoch laut eigenem Bekunden nur die Menschen auf dem Platz der Auftaktkundgebung (place de l’Opéra) und nicht die unterwegs Hinzukommenden oder die Menschen am Abschlussort (place de la Bastille). LFI ihrerseits sprach von „160.000“. Die zahlenmäßige Wahrheit dürfte laut Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen, an dem die Demonstration ziemlich genau 120 Minuten lang vorbeizog, bei rund 70.000 gelegen haben. Die Mobilisierung war dabei frankreichweiter, nicht nur regionaler, Natur, wie die mitgeführten Schildern mit ihren Ortsbezeichnungen (für die Herkunft der Demonstrierenden) bezeugten. Insgesamt war der Aufzug von guter Stimmung und viel fantasievollen Darbietungen gekennzeichnet.
Doch für böses Blut sorgte, dass die Führungsriege von LFI auf einem Bus neben den laufenden Demonstrationsteilnehmer/innen einherfuhr, und Parteiboss Jean-Luc Mélenchon von dessen Empore herab die Teilnehmer/innen mit Reden zudeckte. Dies sorgte für heftige Kritik – man mache nicht eine „Party“, um einem modernen König einzuheizen, damit sich ein anderer wie ein Monarch aufführe, hieß es etwa. Ein in der Linken zirkulierender Text dazu trug die Überschrift: „Steigt von Eurem Bus herunter!“ (Vgl. zur Diskussion u.a. https://www.anti-k.org/2018/05/06/2-organisateurs-de-la-manif-dhier-prennent-la-plume-pour-exprimer-colere-et-degout-face-a-lattitude-du-groupe-melenchon-et-dautres/ und http://www.regards.fr/IMG/pdf/la_reponse_de_francois_ruffin.pdf ) Auch waren Spannungen zwischen Mélenchon einerseits und François Ruffin andererseits bereits vor Ort zu verzeichnen. Letzterer ist einerseits selbst Abgeordneter für LFI in der Nationalversammlung, zählte andererseits jedoch zu den überwiegend aus Basisbewegungen kommenden Initiator/inn/en der Demonstration. Dies wurde, selbstverständlich, durch bürgerliche Medien begierig aufgegriffen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2018/05/07/25001-20180507ARTFIG00239-fete-a-macron-l-echange-muscle-entre-quatennens-et-ruffin.php und http://www.bfmtv.com/politique/la-tension-monte-entre-francois-ruffin-et-melenchon-1440868.html )
Nun soll am Samstag, den 26. Mai d.J. eine erneute breite Mobilisierung – wiederum an einem Wochenende – erfolgen, zu denen unter anderem auch LFI aufruft, daneben aber auch ein wesentlich breiteres Bündnis. Die wichtige strategische Frage ist nun jene einer Beteiligung oder Nichtbeteiligung des Gewerkschaftsdachverbands CGT. An der fête à Macron vom 05.05.18 hatte dessen Leitung unter CGT-Generalsekretär Philippe Martinez dezidiert nicht teilnehmen wollen, wie er am 11. April 18 in den Spalten der Pariser Abendzeitung Le Monde erklärte. (Martinez kritisiert seit Monaten die Hegemonie- und Profilierungsversuche von Jean-Luc Mélenchon im Kontext der sozialen Protestbewegung; Hegemonieversuche sind dem Dachverband selbst sicherlich auch nicht fremd.)
Nun tauchte die CGT jedoch an Vorbereitungstreffen für die nächste geplante Mobilisierung vom 26.05.2018, welche am 17. April und am 03. Mai dieses Jahres stattfanden, auf (u.a. in Gestalt von Elsa Conseil, so heißt die selbst aus der antikapitalistischen Linken kommende Beraterin von Philippe Martinez). Dennoch blieb die Frage einer Beteiligung der CGT zunächst offen. Vgl. dazu http://www.lemonde.fr/politique/article/2018/05/08/isolee-sur-le-plan-syndical-la-cgt-se-prepare-a-rejoindre-la-maree-populaire-du-26-mai_5295962_823448.html
Nun lautet der neueste Stand dazu jedoch: Bislang wurde offiziell beim Dachverband noch „keinerlei Entscheidung getroffen“. Doch 78 Mitgliedsorganisationen der CGT (Kreisverbände und Branchengewerkschaften) sollen sich bislang für eine Teilnahme an der Mobilisierung ausgesprochen haben, sechs dagegen, sechs enthielten sich einer Pro- oder Kontra-Stellungnahme. (Vgl. http://bellaciao.org/fr/spip.php?article159751 )
Diese Mobilisierung könnte also spannend werden. Ihr offizieller Titel lautet marée populaire (hümm, „Volksflut“? Scheißübersetzung aber auch… naja, der deutsche „Volks“begriff besagt nun eben definitiv etwas Anderes als das französische peuple als Zusammenfassung der Unterklassen) oder auch marée humaine („Menschenmeer“).
Zuvor findet am Dienstag, den 22. Mai 18 ein nächster Streiktag in den öffentlichen Diensten statt, nach jenem – erfolgreichen – am Donnerstag, den 22. März dieses Jahres. Er richtet sich an Krankenhausbedienstete (diese demonstrierten auch am gestrigen Dienstag, den 15.05. und blockierten kurzzeitig die Champs-Elysées), Kommunalbedienstete, Steuerbedienstete… Bislang besteht dazu jedoch noch kein Aufruf zum Streiken an die Eisenbahner/innen, deren Streikkalender bislang den 22.05.18 nicht einschließt. Doch Kräfte wie SUD Rail versuchen, nun doch eine Streik- und Demonstrationsbeteiligung unter den Eisenbahner/inne/n an jenem Tag anzuschieben und dadurch Brücken zu schlagen. In der Hoffnung, dass dies noch zu einer breiteren Dynamik (über die SNCF hinaus) beiträgt…
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Frankreich:
Streikbewegung tritt in eine riskante Phase ein
Bahndirektion kommuniziert massiv über „Abbröckeln“ des Streiks (auch unter Rückgriff auf handelsübliche Manipulationen) – Gewerkschaften kontern mit Ankündigung eines Streiks auch im Hochsommer, SNCF-Direktor koffert zurück: „Es wird keinen Streik im Sommer geben“ – Regierung verweigert die gewerkschaftliche Forderung, direkt auf Chefebene statt mit der diskreditierten Transportministerin zu diskutieren - Räumung mehrerer blockierter Universitäten; in Grenoble und Montpellier war sie am Montag Mittag im Gange, nach jener von Tolbiac und Sciences Po in Paris – Die große strategische Lücke bleiben im Augenblick die Verbindungen zu den Oberschüler/inne/n
Klar ist: An Manipulationen zu diesem Thema hat nie ein Mangel bestanden. Gerne werden Streikbeteiligungsquoten heruntergerechnet oder in Graphiken kleingezeichnet (vgl. dazu anschaulich: https://www.marianne.net/societe/greve-des-cheminots-la-sncf-manipule-les-graphiques-de-mobilisation-comme-ca-l-arrange ), eine „Dynamik zur Wiederaufnahme der Arbeit“ wird herbeizuschreiben versucht usw. Es ist nicht neu, dass bei Transportstreiks in Frankreich weite Teile der bürgerlichen Presse gegen den Arbeitskampf anschreiben. Dem war etwa auch im „historischen“ Streikherbst vom November/Dezember 1995 so. Nur verfing die Propaganda damals kaum oder gar nicht, und die Streikbewegung blieb von Anfang bis Ende populär.
Auch heute wird mit ähnlichen Methoden gegen die Streikbewegung agiert und agitiert. Zusätzlich wird ein Neiddiskurs gegen die vermeintlich „privilegierten“ Bahnbeschäftigten bemüht, den es auch 1995 gegeben hat, welcher jedoch heute stärker verfängt – eine Reihe von Niederlagen sozialer Kämpfe haben die Gesellschaft seitdem (mit)geprägt, die Entsolidarisierung wuchs. Richtiger wird die Medienpropaganda dadurch in der Sache nicht. Argumentiert wird etwa mitunter, die Bahnbeschäftigten seien „privilegiert“, weil sie bereits früh in Rente gehen könnten, angeblich mit fünfzig. Real sind es seit den letzten „Reformen“, je nach Berufsgruppe, 52,5 Jahre (Lokführer/innen, Bordpersonal, Mechaniker/innen) oder 57,5 Jahre (für andere Bahnbeschäftigte wie Schalterbedienstete). Dies ist aber nur das gesetzliche Mindestalter. Wie andere Lohnabhängige auch müssen sie jedoch, nach Jahrgang, 40 bis 41,5 Jahre Beiträge aufweisen, um einen vollen Anspruch auf eine Pension ohne Abschläge zu haben; für jedes fehlende Beitragsjahr gibt es Abzüge. Bei einem Renteneintritt mit 52,5 Jahren wird also real niemand von der Pension leben können oder wollen.
Dennoch, auch wenn der Bahnstreik derzeit ziemlich massiv haben: Es dürfte wohl Konsequenzen haben, wenn man beobachtet, in welchem Ausmaß derzeit auf vielen Kanälen eine „Tendenz zum Abbröckeln“ beschworen wird. An diesem Montag, den 23. April – er zählt zu den insgesamt 36, vorab festgelegten Streiktagen zwischen Anfang April und Ende Juni d.J. – verkehrten laut Angaben der Bahndirektion 35 Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ TGV; in anderen Quellen (in den bürgerlichen Medien) war auch von 40 % die Rede. ( Vgl. http://www.lefigaro.fr/social/2018/04/22/20011-20180422ARTFIG00081-greve-a-la-sncf-le-trafic-sera-en-amelioration-lundi-23-avril.php?utm_source=CRM&utm_medium=email&utm_campaign=[20180423_NL_ACTUALITES]&een=8b71f564b70c18a89449980b4d4e18e6&seen=6&m_i=ApzErYQ9v6FTAyZsvGh7R1KPHqXw05E_hQ59nWldZoM8ICyna%2B4_k4miP6Gyo86vcASMVHfl9jTlua2YR%2BBBs5MPApn9B9L8Ai ) Zu Anfang des Arbeitskampfs am 03./04. April waren es, laut derselben Quelle, circa 12,5 Prozent gewesen. Die Anzahl der Streikenden wurde im Laufe mit „insgesamt 17,45 % des Personals, doch 62 % unter den Lokführer/inne/n“ angegeben. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/sncf-le-nombre-de-grevistes-continue-de-baisser-il-est-de-17-45-au-debut-du-cinquieme-episode_2719472.html#xtor=EPR-51-[sncf-le-nombre-de-grevistes-continue-de-baisser-il-est-de-17-45-au-debut-du-cinquieme-episode_2719472]-20180423-[bouton] )
Insofern, als Gewerkschaftsstrukturen bei der Bahngesellschaft SNCF zugleich in Aussicht stellen, der Streik könne sich über den bisher geplanten Schluss (die beiden Streiktage am 27./28. Juni) hinaus auch auf die Urlaubs- und Sommermonate Juli und August d.J. ausdehnen – vgl. http://www.leparisien.fr/economie/sncf-vers-un-prolongement-de-la-greve-en-juillet-et-aout-21-04-2018-7676778.php sowie http://www.lepoint.fr/societe/sncf-la-greve-partie-pour-durer-tout-l-ete-22-04-2018-2212549_23.php und https://www.20minutes.fr/societe/2259495-20180422-greve-sncf-mouvement-social-cheminots-pourrait-prolonger-juillet-aout -, erscheint diese Tendenz bedenklich. Denn dafür würde man einen langen Atem und viel Ausdauer benötigen. Aber auch einen starken Rückhalt in der öffentlichen Meinung; und (Medienmanipulationen hin oder her, diese hat es auch bereits 1995 in vergleichbarer Weise gegeben) diesbezüglich besteht derzeit zu keinem übertriebenen Optimismus Anlass. (Vgl. zur jüngsten Umfrage: https://www.lejdd.fr/politique/sncf-le-soutien-a-la-greve-seffrite-3632300 oder http://www.europe1.fr/societe/mobilisation-contre-la-reforme-de-la-sncf-la-majorite-des-francais-estime-que-le-mouvement-nest-pas-justifie-3632486 )
Am vorigen Donnerstag, den 19. April hatten die vier als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Branchengewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF ihre „Aussetzung“ der Verhandlungen mit der Transportministerin Elisabeth Borne erklärt und verlangt, gefälligst eine Etage höher empfangen zu werden, also beim Regierungschef Edouard Philippe. (Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/2018/04/19/greve-a-la-sncf-les-syndicats-suspendent-les-discussions-avec-borne-et-demandent-a-etre-recus-par-philippe_a_23415137/ und http://www.europe1.fr/economie/sncf-lintersyndicale-suspend-la-concertation-avec-elisabeth-borne-3630590 oder https://www.challenges.fr/top-news/sncf-les-syndicats-tournent-le-dos-a-borne-reclament-philippe_581897 ) Denn die Transportministerin wiederhole ohnehin nur immer dieselben Leerformeln. Borne war bereits 1997 beim konservativen Premierministerin Alain Juppé – der damals kurz zuvor, Ende 1995, durch einen massiven und populären Bahnstreik „besiegt“ und zu politischen Rückzieher gezwungen worden war – Beraterin für Transportwesen. (Vgl. http://www.bfmtv.com/politique/reforme-sncf-passe-d-armes-a-l-assemblee-entre-francois-ruffin-et-elisabeth-borne-1411354.html ) Man darf sie als unbelehrbar betrachten, auch wenn man der Versuchung widersteht, sie mit einem Wortspiel als borniert zu bezeichnen.. Premierminister Philippe lehnte dieses Ansinnen jedoch rundheraus ab: Die „Konzertierungsgespräche“ fänden auch weiterhin mit Elisabeth Borne statt, punktum. Er lehnte es mit diesen Worten rundheraus ab, Gewerkschaftsvertreter/innen zu empfangen. (Vgl. http://www.lemonde.fr/entreprises/article/2018/04/20/sncf-fin-de-non-recevoir-a-la-demande-de-l-intersyndicale-d-etre-recue-par-le-premier-ministre_5288473_1656994.html ).
Frankreichs „Bahnchef“ Guillaum Pépy seinerseits hat es sich jedenfalls herausgenommen, die Ankündigung der Mehrheitsgewerkschaften, ihren Streik eventuell auch über den Hochsommer hinweg auszudehnen, kurzerhand autoritär vom Tisch zu wischen: „Es wird keinen Zugstreik im Sommer geben.“ (Vgl. http://www.lefigaro.fr/societes/2018/04/22/20005-20180422ARTFIG00169-guillaume-pepy-il-n-y-aura-pas-de-greve-des-trains-cet-ete.php und https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/sncf-la-greve-s-erode-lentement-selon-le-pdg-guillaume-pepy_2718064.html ) Der Herr scheint sich relativ sicher zu sein, dass das KRÄfteverhältnis zu seinen Gunsten arbeitet, oder tut jedenfalls so. Hier rächt sich vielleicht auch, dass die Mehrheitsgewerkschaften – gegen die Auffassung von SUD Rail - den Streik nicht gleich schnell und stark hochfuhren, sondern ihn auf lange Sicht mit einem vermeintlich langen Atem geplant hatten, im Stop-and-Go-Rhythmus mit je zwei Tagen Streik und je fünf Tagen Wiederaufnahme der Arbeit…
Jedenfalls scheint die Streikbewegung offensichtlich in eine gefährliche Phase einzutreten. Helfen könnte ihr hier das Zusammengehen mit Kämpfen in anderen Sektoren, die berühmte und viel beschworene convergence des luttes. An dieser Front jedoch tut sich nicht viel, jedenfalls nicht so viel, wie es erforderlich wäre. Und auch die Beteiligung an der Demonstration am vorigen Donnerstag, den 19. April 18 (wir berichteten) dürfte da erst einmal keine Abhilfe verschafft haben. Vgl. auch https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/greve-a-la-sncf-la-manifestation-de-jeudi-montre-que-la-cgt-est-dans-une-impasse_2713616.html – Gut, als Nächstes kommen noch der 01. Mai und die Mobilisierung gegen Macrons Politik am 05. Mai, danach wird man weitersehen.
An der Protestfront der Studierenden gibt es derzeit ebenfalls eher Schwierigkeiten zu vermelden, da nun eine lange Urlaubsphase begonnen hat. Zwar haben die Studierenden jeder einzelnen Universität nur einen, maximal zwei Wochen Frühjahrsferien; doch aufgrund der unterschiedlichen Urlaubszeiten in den verschiedenen „Akademien“ (in denen mehrere Universitäten regional zusammengefasst sind) sind diese nun über einen Mega-Zeitraum von sechs Wochen gestreckt. Üblich sind in sonstigen Jahren insgesamt vier Wochen Zeitspanne, doch aufgrund der Urlaubstage im Mai – 1. Mai, dann in der zweiten Maiwoche sowohl der 8. Mai (in Frankreich gesetzlicher Feiertag wg. Dem 08. Mai 1945) als auch der 10. Mai – haben mehrere „Akademien“ wie Orléans, Nantes und Rennes in diesem Jahr ausnahmsweise die Frühjahrsferien in den Mai statt in den April gelegt…
Was nun auf dem Spiel steht, ist die Frage, ob die Oberschüler/innen noch vor dem Abitursbeginn am 18. Juni d.J. mobilisiert werden können. Bislang sind die Oberschüler/innen – als die Hauptbetroffenen, da für den diesjährigen Abiturs-Jahrgang mit dem Gesetz Loi ORE erstmals die Einschränkungen beim Hochschulzugang greifen werden – deutlich unterdurchschnittlich in dieser Protestbewegung vertreten. Diese wird weitaus eher von hochschulpolitisch engagierten, oppositionellen Teilen der Studierendenschaft getragen. Die Oberschüler/innen fürchten zum Gutteil, sich eventuell die Abiturprüfungen zu vergeigen – vor allem aber, durch eine negative Beurteilung an der Schule, just aufgrund ihrer Beteiligung am Protest, bei den zukünftigen Zugangsmodalitäten zur Universität benachteiligt zu werden und durch den Rost zu fallen. (Vgl. dazu auch http://lirelactu.fr/source/le-monde/27b43adc-d25e-4c81-b7eb-1cb17895ec44 )
Und auch innerhalb der Studierendenschaft handelt es sich um eine, wenngleich vergleichsweise große und aktive, Minderheit. An mehreren Hochschulen fanden so studentische „Vollversammlungen“ (Assemblée générales oder AGs) mit vierstelliger Teilnehmer/innen/zahl statt. Andererseits fand, anders als etwa beim „historischen“ Studierendenprotest im Spätherbst 1986 – der die damalige Regierung zum Aufgeben des bisher letzten Versuchs einer Einschränkung des Universitätszugangs zwinge, konnte – oder auch bei der Bewegung gegen den CPE (Contrat première embauche, d.h. die Einschränkung des Kündigungsschutzes für unter 30jährige) -, bislang keine Massendemonstration von Studierenden mit Hunderttausenden von Teilnehmer/inne/n statt. Aktuell findet der Protest innerhalb der Hochschulen mit AGs, zum Teil mit Blockaden vor der erzwungenen Verschiebung mancher Prüfungen (wie vorige Woche in Nanterre) statt; jedoch mit eher geringer Präsenz auf den Straßen.
Am Montag um die Mittagszeit waren in Grenoble (vgl. AFP-Meldung dazu: http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/23/97001-20180423FILWWW00088-grenobleuniversite-evacuation-par-la-police.php ) und in Montpellier (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/23/97001-20180423FILWWW00067-montpellier-intervention-policiere-en-cours-a-l-universite-paul-valery.php ) polizeiliche Räumungsaktionen an den dortigen Universitäten im Gange.
In Paris wurde Ende vergangener Woche, neben der sozialwissenschaftlichen Fakultät von Tolbiac (wir berichteten am Freitag, den 20. April 18 ausführlich), auch die Elitehochschule Sciences Po Paris polizeilich geräumt; vgl. https://www.lci.fr/societe/reforme-universite-parcoursup-la-faculte-de-tolbiac-evacuee-sciences-po-paris-debloque-blocage-nanterre-lille-et-rennes-montpellier-metz-strasbourg-2084783.html . Diese war kurzzeitig ebenfalls in den Hochschulprotest einbezogen gewesen. (Vgl. http://etudiant.lefigaro.fr/article/sciences-po-paris-est-de-nouveau-bloque-par-des-etudiants_a51b851a-4471-11e8-ad7a-1b7da48f683b/ )
In der Öffentlichkeit propagandistisch ausgeschlachtet wird nachträglich nun vor allem die Räumung von Tolbiac. Der dort zuständige Hochschulpräsident Georges Haddad hatte zuvor mittels willfähriger Medien und in apokalyptischen Farben das dort herrschende Sodom und Gomorrha ausgemalt: „Gewalt, Drogen, ja sogar Sex“ seien in den besetzten Hochschulräumen anzutreffen. (Vgl. bspw. http://lirelactu.fr/source/le-monde/27b43adc-d25e-4c81-b7eb-1cb17895ec44 ) Im Nachhinein behauptet derselbe nun, die insgesamt rund vierwöchige Besetzung von TEILEN der Universitätsgebäude habe angeblich „mehrere Hunderttausend Euro“ Sachschäden hinterlassen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/20/97001-20180420FILWWW00114-tolbiac-des-centaines-de-milliers-de-degats.php ) Die behaupteten, weitaus übertriebenen Folgekosten resultieren vor allem aus Graffitys – respektive dem Wunsch, diese unbedingt zu überpinseln, ja die Wände vollständig neu zu streichen – sowie von Sachschäden bei der brutalen polizeilichen Räumung. Um dem Publikum nun richtig den Schauer über den Rücken zu jagen, gibt die Hochschulleitung an, Tolbiac werde für den Lehrbetriebe „nicht vor September“ wieder eröffnet… (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/20/97001-20180420FILWWW00245-tolbiac-pas-de-reprise-des-cours-avant-septembre.php und http://www.europe1.fr/societe/tolbiac-pas-de-reprise-des-cours-avant-septembre-selon-son-directeur-3631742 )
Noch jagen sich die Bourgeois etwas Angst mit der aktuellen Protestbewegung ein. Allerdings wird es für diese erforderlich sei, aus ihren aktuellen strategischen Schwierigkeiten herauszuwachsen. Und dies wäre bald, bald nötig…
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Frankreich:
Teilnahme am ersten berufsgruppenübergreifenden Protesttag (19. April): durchwachsen – Die CGT-Eisenbahner überlegt, nun andere Saiten aufzuziehen und das bisherige Korsett des Streikkalenders zu durchbrechen – Bahngewerkschaften brechen Gespräche mit der Transportministerin ab und verlangen, eine Etage höher empfangen zu werden - Die CGT im Energiesektor droht mit gezielten Stromsperren – Mobilisierungsversuch auch in den Pariser Nahverkehrsbetrieben (RATP); doch am gestrigen Tag ohne spürbare Auswirkungen auf den Verkehr - Studierendenprotest: Examina in Nanterre mussten verschoben werden, Fakultät von Tolbiac wurde am Freitag früh geräumt – Nächste berufsgruppenübergreifende Termine: 1. Mai und Samstag, der 05. Mai – Unterdessen sorgt die CFDT sich vor allem um Eines: dass der Transportstreik nur ja nicht ihren anstehenden Gewerkschaftstag beeinträchtigt…
Es war eine gute Sache an und für sich, doch der Erfolg ist im Augenblick durchwachsen. Am gestrigen 19. April fand der erste berufsgruppenübergreifende gewerkschaftliche „Aktionstag“ (journée d’action interprofessionnelle) statt, der die derzeit laufenden Arbeitskämpfe – seit dem 03. April bei der Bahngesellschaft SNCF, seit mehreren Wochen im Rythmus von je zwei aufeinanderfolgenden Streiktagen bei Air France – sowie die Proteste in den öffentlichen Diensten (nächster Streiktag: 22.05.18) und an den Universitäten überwölben und bündeln soll.
Zu ihm hatte die Spitze des Dachverbands im März d.J. die Initiative ergriffen. Nachdem Letztere einseitig zu dem Datum aufrief, ohne vorherige Gespräche mit anderen Organisationen, nutzten die rechts von der CGT stehenden Dachverbände (CFDT und FO u.a.) dies als Argument, um sich fein herauszuhalten. Seinerseits protestierte der linksalternative Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires (oder Union syndicale Solidaires) gegen das Vorgehen des Dachverbands CGT, schloss sich jedoch dann dem Aufruf zur Mobilisierung am gestrigen Donnerstag an.
Und so fanden in 130 französische Städten Versammlungen und Demonstrationen statt, allerdings jedoch i.d.R. ohne Aufrufe zum Streik außerhalb der Teilnahme an den Straßendemonstrationen. Als Veranstalter/innen traten auf frankreichweiter Ebene die CGT und Solidaires auf; in der Hauptstadt Paris schlossen sich auch kleinere Abordnungen aus den Reihen des – politisch heterogenen – Dachverbands FO sowie die Eisenbahnersektion des Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA (vordergründig „unpolitisch“, durch die bürgerlichen Medien als „moderat“ gehandelt) zusätzlich an. Voraus gingen Abordnungen von Studierenden aus den derzeit im Protest gegen die künftige Einschränkung des Hochschulzugangs befindlichen Universitäten.
Auf frankreichreichweiter Ebene betrug die Spannbreite der Teilnehmer/innen/zahlen, je nach Angaben (CGT oder Innenministerium usw. lieferten sich die üblichen Zahlenklaubereien), zwischen 119.000 und 300.000; vgl. etwa: https://actu.orange.fr/france/diaporamas/en-images-mobilisation-nationale-entre-119-000-et-300-000-manifestants-heurts-a-paris-CNT0000011CUjl/photos/plusieurs-secteurs-affectes-452d08da5cdd72baf01e61f9b0f01ab1.html
In der Hauptstadt Paris, wo die Demonstration um 14 Uhr am Montparnasse-Bahnhof losging, zählte die Polizei 11.500 Teilnehmer/innen, und ein unabhängiges Medienkollektiv – das die Zahlenangaben gegen den Behauptungen beider Seiten (Staatsmacht und Gewerkschaftsführungen), die i.d.R. unter- respektive übertrieben sind, zu objektivieren versucht, gab ihre Zahl mit 15.300 an. (Vgl. dazu eine AFP-Meldung: http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/19/97001-20180419FILWWW00231-paris-15300-manifestants-selon-le-collectif-de-medias-11500-selon-la-police.php ) Zur Teilnahme speziell in Paris hatte die CGT-Führung am frühen Donnerstag Abend zunächst keine eigenen Zahlen publiziert. Inzwischen wurde seitens der CGT die, übertriebene, Anzahl von 50.000 bezogen auf Paris genannt.
Diese Zahlen sind für berufsgruppenübergreifende soziale Protestmobilisierungen in Frankreich eher unterdurchschnittlich. Ähnlich wie bereits im Frühjahr und Frühsommer 2016 im Protest gegen das damals geplante „Arbeitsgesetz“ (in Kraft getreten am 08.08.2016) ist zu beobachten, dass die aktive Teilnahme am Protest gegen frühere soziale Bewegungen der Jahre 1995, 2003, 2006, 2010 zahlenmäßig zurückbleibt – dass es jedoch einen größeren „radikalen Kern“ gibt. Ähnlich wie im Frühjahr und Frühsommer 2016 formierte sich auch am gestrigen Tag in Paris ein mehrhundertköpfiger „Kopfblock“ (cortège de tête), welcher der offiziellen Demonstrationsspitze vorausging. In ihm befanden sich – oft mit Atemschutzmasken oder Schutzbrillen gegen Tränengas ausgestattet – auch viele zornige jüngere Gewerkschafter/innen, etwa aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. Unter den Anwesenden befanden sich auch mehrere Hundert Vermummte.
Diese sind sicherlich nicht alle über einen Kamm zu scheren, was ihre Motivation und ihre Aktionsformen betrifft. Ein Teil von ihnen (Agents provocateurs?, adrenalinbesoffene Jungerwachsene?, Hooligans?) legt auch ausgesprochen problematische Aktionsweisen an den Tag, die wiederum für ein mitunter hochaggressives Agieren der Polizei den Anlass, Grund oder auch Vorwand liefern. Dazu zählte am gestrigen Nachmittag auch das Entglasen (unter den Augen des Autors dieser Zeilen) eines kleineren Restaurants und einer Bushaltestelle, neben Zeitarbeits-Agenturen und Werbetafeln. Ein Versuch von Vermummten, ein Luxushotel (Marriott) in Mitleidenschaft zu ziehen – vgl. in der bürgerlichen Presse dazu u.a. https://www.huffingtonpost.fr/2018/04/19/manifestation-du-19-avril-a-paris-le-cortege-interrompu-par-des-heurts-entre-militants-et-forces-de-lordre_a_23415353/ - führte zu einem ausgesprochen rabiaten Polizeieinsatz, wobei die Gewalt anfänglich nicht immer und allein von deren Einsatzkräften ausging, wie der Verf. als Augenzeuge mitteilen kann. Bei dem daraus resultierenden Prügel- und Granateneinsatz wurden auch sechs Studierende von der Pariser Hochschule Jussieu (Universität Paris-6 und 7) im universitären Protestzug durch Granateneinsatz verletzt.
Die o.g. angegebenen Zahlenangaben erscheinen insgesamt realistisch. Das Vorbeiziehen des Protestzugs an einem festen Punkt (Einbiegung vom boulevard Saint-Jacques in die rue de la Tombe-Issoire) dauerte eine starke halbe Stunde, wobei der Boulevard ziemlich breit ausfiel. Gut 75 Prozent des Pariser Demonstrationszugs bestand aus den traditionell mobilisierbaren Kerntruppen der CGT, nach Bezirksverbänden aufgereiht, darunter viele öffentlich Bedienstete, aber auch „harte Kerne“ aus der Privatindustrie, insbesondere Renault aus dem nördlichen Pariser Umland. Daneben konnte etwa auch das bei der CGT organisierte Personal in Banken und Versicherungen mobilisiert werden. (Vgl. auch http://natixis.reference-syndicale.fr/2018/04/faites-greve-et-participez-aux-manifestations-le-19-avril/ ) Eine optische und akustische Attraktion (aber auch eine Belastung für das Trommelfell mit Zughupen und Megaböllern…) bildeten die Eisenbahner, die zahlreicher aus den Reihen der Solidaires-Mitgliedsgewerkschaft SUD Rail als aus denen der CGT erschienen waren. In den anderen Städten müsste man jeweils die genauere Zusammensetzung der Protestzüge analysieren.
Noch weiter klaffen die Zahlenangaben beider Seiten für Marseille auseinander, was in der Mittelmeermetropole allerdings bereits Tradition hat. Hier spricht die CGT von „65.000“ und die Polizei von „5.700“ Demonstrierenden, die Zahlenangaben klaffen also um mehr als einen Faktor Eins zu Zehn auseinander (grrr)… - Vgl. http://www.linternaute.com/actualite/politique/1400354-manifestation-du-19-avril-tensions-a-paris-grand-ecart-a-marseille/
Bislang stellt sich die Streikstrategie bei der französischen Eisenbahn aus Sicht jedenfalls mancher Kräfte, unter ihnen SUD Rail, eher als Hemmschuh heraus. Zwischen dem 03. und 04. April und dem 27.-28. Juni wurden insgesamt 36 Streiktage vorab festgelegt, wobei jeweils auf zwei bestreikte Tage eine Wiederaufnahme der Arbeit/des Verkehrs für je fünf Tage folgt. Radikalere Kräfte betrachten dies als Hindernis für eine Dynamik, die sich aus einer unbefristeten Streikdynamik heraus entwickeln könnte. Über ein wirkliches Patentrezept verfügt jedoch niemand, da das Risiko, dass die öffentliche Meinung im negativen Sinne kippt und dass der Arbeitskampf unpopulär wird, wesentlich höher erscheint als etwa beim mittlerweile „historischen“ Bahnstreik von November und Dezember 1995 (als die Streiks stets durch eine deutliche Mehrheit der französischen Bevölkerung unterstützt wurden). Bislang gaben die Mehrheitsgewerkschaften CGT / CFDT / UNSA bei der Bahngesellschaft SNCF an, mit ihrer Streikstrategie die Hoffnung zu verknüpfen, die öffentliche Meinung zu schonen – und eventuell parallel eine berufsgruppenübergreifende Protestdynamik Raum greifen zu lassen.
Die speziellen Sorgen der CFDT-führung
Allerdings scheint der Dachverband CFDT (an der Spitze rechtssozialdemokratisch) sich längst auf ein „Herunterkommen“ vom Streik vorzubereiten. Ein tief blicken lassender Artikel zum Verhalten von dessen Generalsekretär Laurent Berger erschien dazu am vorgestrigen Mittwoch, den 18. April 18 in der Wochenzeitung Le Canard enchaîné (nicht online) auf Seite Drei. Demnach wollte Laurent Berger bereits zur Beendigung des Streiks pfeifen, doch innerhalb der CFDT signalisierte ihm die Eisenbahnersektion, dass noch ein paar Zugeständnisse der Regierung über die bisherigen hinaus leicht zu erzielen seien, wenn man noch ein bisschen den Druck aufrecht erhalte. Das bisherige Zugeständnis der Regierung an die CFDT lautet, dass bei der Öffnung des Schienenverkehrs (Güter plus Personentransport) für private Anbieter – diese soll vollständig bis 2023 erfolgen – Letztere einen Kollektivvertrag aufweisen (also nach deutscher Terminologie „tarifgebunden“ sein) müssen. Nur dann, so die Regierungsposition, sei ein Betriebsübergang mit eventueller Übernahme bisherigen SNCF-Personals durch private Transportfirmen denkbar. Anscheinend wollte CFDT-Generalsekretär Berger es dabei bewenden lassen, die Eisenbahner-Branchengewerkschaft der CFDT jedoch noch etwas mehr herausholen.
Laurent Berger seinerseits macht sich demselben Artikel zufolge allerdings vor allem mit anderen Sorgen einen Kopf/ Am 04. Juni dieses Jahres wird in Rennes der nächste Kongress (dt. „Gewerkschaftstag“) des Dachverbands CFDT eröffnet. Es wäre peinlich, meint Generalsekretär Berger demnach, falls die Anreise der geladenen – auch internationalen – Gäste dann durch den Transportstreik beeinträchtigt oder verzögert würde. Sprich, bis dahin soll dann vielleicht Schluss mit lustig sein..
CGT bei der Eisenbahn und im Transportsektor
Umgekehrt drohte die Eisenbahnersektion der CGT inzwischen – bisher zumindest verbal – damit, sie könnte auch über den bisherigen Streikkalender mit seinen 36, vorher einzeln angemeldeten Streiktagen hinaus denken. Auch ein Aufruf zum Eintritt in einen, dieses Mal nicht von vornherein befristeten Arbeitskampf sei demnach denkbar. Vgl. http://www.linternaute.com/sortir/magazine/1400252-greve-sncf-des-perturbations-ce-20-avril-et-ensuite-dates-calendrier/ ( Eintrag vom 17. April d.J.) Bislang blieb es allerdings bei der Ankündigung.
Im Energiesektor droht die CGT, die dort vom gestrigen 19. April bis Ende Juni Arbeitsniederlegungen – zu spezifischen Forderungen in ihrem Sektor, wie die Einrichtung eines öffentlichen Diensts für Energie – angekündigt hat, damit, gezielte Stromsperren an. Solche trafen bei Arbeitskämpfen in der Vergangenheit etwa politische Institutionen, jedenfalls kurzfristig; dieses Mal steht auch im Raum, Unternehmen, die Massenkündigungen aussprechen wie derzeit die Supermarktkette Carrefour (2.600 Arbeitsplätze sollen dort futsch gehen), zeitweilig den Saft abzudrehen. Auch an die Belieferung von Haushalten zum günstigeren Nachtarif, wie dies bei vorangegangenen Arbeitskämpfen (2004 gegen die Privatisierung des Stromversorgers EDF, 2010 gegen die „Rentenreform“ unter Nicolas Sarkozy..) der Fall war, wird gedacht. Vgl. dazu als Widerhall in bürgerlichen Medien bspw. http://rmc.bfmtv.com/mediaplayer/video/greve-edf-on-va-faire-les-robinson-des-bois-et-remettre-l-energie-aux-plus-precaires-1061273.html oder http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/17/97001-20180417FILWWW00323-la-cgt-energies-prevoit-des-coupures-d-electricite-ciblees.php sowie in Interviewform: https://www.sudradio.fr/societe/julien-lambert-cgt-il-y-aura-des-coupures-delectricite-ciblees-sur-des-industriels
Beim Pariser Buslinien-, Métro- und RER- (dt. ungefähr S-Bahn-)Betreiber RATP wurde am gestrigen Donnerstag, den 19. April ebenfalls zu einer Personalversammlung im Rahmen des berufsgruppenübergreifenden Aktionstags aufgerufen. Auch zum Streik wurde, durch die CGT bei der RATP, seit dem Vorabend aufgerufen. (Vgl. etwa https://paris.demosphere.eu/rv/61031 ) Allerdings blieb der Verkehr innerstädtisch in Paris am Donnerstag weitestgehend normal, jedenfalls auf den Métro-Linien. Auf einigen Buslinien scheint er leicht beeinträchtigt gewesen zu sein. Die RER-Linien, die PARis durchqueren (entspricht im Deutschen ungefähr S-Bahn-Linien) und zum Teil durch die RATP und jenseits der Stadtgrenzen zum Teil durch die Eisenbahngesellschaft SNCF betrieben werden, sind ohnehin durch den Streik beim Bahnunternehmen berührt.
Studierende
Der Studierendenprotest gegen die drohenden Einschränkungen beim Hochschulzugang ab 2018/19 mit dem Gesetz ORE (vgl. zuletzt unseren Bericht bei Labournet vom Montag, den 16.04.18) bleibt ebenfalls dynamisch, jedoch von starken örtlichen Ungleichzeitigkeiten geprägt. Zusätzlich fingen nun seit dem vergangenen Wochenende des 14./15. April in einem Teil des Pariser Raums vierzehntägige Hochschulferien an, während umgekehrt etwa in Nanterre – westlich von Paris – just diese Woche bereits die Examensphase beginnen sollte. In den letzten Jahren hat sich die Tendenz, dass die Universitäten (seit einem Gesetz Nicolas Sarkozys aus dem Jahr 2007 verwaltungsrechtlich „autonom“ gestellt) ihren je eigenen Studienjahres- und Prüfungskalender festlegen und eine starke Uneinheitlichkeit herrscht, verstärkt.
In Nanterre mussten jedoch infolge von Protesten und Blockaden seit Montag, dem 16. April die für diese Woche geplanten Jahresabschlussprüfung – zunächst auf unbestimmte Zeit – verschoben werden. (Vgl. auch etwa die AFP-Meldung dazu: http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/16/97001-20180416FILWWW00070-universite-de-nanterre-bloquee-en-ce-jour-d-examen.php ) Am gestrigen Donnerstag beschloss eine studentische Vollversammlung mit rund 1.500 Teilnehmenden eine Fortführung der Hochschulblockade bis zum 02. Mai dieses Jahres. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/19/97001-20180419FILWWW00170-nanterre-les-etudiants-votent-le-blocage-jusqu-au-2-mai.php )
Hingegen wurde die sozialwissenschaftliche Fakultät von Tolbiac im südlich gelegenen 13. Pariser Bezirk – eine Dependance der Sorbonne, ihr Hauptgebäude liegt im historischen Zentrum von Paris – an diesem Freitag Vormittag, 20. April nun doch polizeilich geräumt. Ein vorheriger Räumungsversuch hatte zwar dem Hauptgebäude der Sorbonne gegolten, war in Tolbiac jedoch gescheitert (vgl. unseren Beitrag im Labournet vom Montag, den 16. April 18)/ Dieses Mal hat die Räumung jedoch stattgefunden und war mit erheblicher Gewalt verbunden. Vier Studierende mussten mit ihren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. (Vgl. https://npa2009.org/communique/violences-policieres-inacceptables-la-manifestation-du-19-avril-et-lors-de-levacuation-de ; und in bürgerlichen Medien zur Räumung: https://www.francebleu.fr/infos/education/paris-evacuation-de-l-universite-de-tolbiac-ce-vendredi-1524203870 )
Am Freitag um 12 Uhr wurde jedoch auf breiten Kanälen über die „sozialen Medien“ zu einer Protestversammlung rund um die geräumten Gebäude aufgerufen. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses war dazu leider noch nichts Näheres auszusagen. Wir werden unsere Leser/innen/schaft jedoch in nächster Bälde dazu unterrichtet halten.
Ansonsten zeichnet sich ab, dass neben den diesjährigen 1. Mai-Demonstrationen vor allem der Sonnabend, 05. Mai von entscheidender Bedeutung für den Fortgang der Protestdynamik haben wird. Zu diesem Datum wird seit einem Treffen im Pariser Gewerkschaftshaus am Abend des 04. April d.J. (wir berichteten mehrfach) zu einer berufsgruppenübergreifenden Mobilisierung aufgerufen. Diese steht unter dem Namen Une fête pour Macron! Dies bedeutet zwar wörtlich so viel wie „Eine Party pour Emmanuel Macron“, doch lebt von der sprachlichen Doppeldeutigkeit: Ce sera la fête à xy… bedeutet nämlich vom Sinn her auch: „Na, XY wird was erleben!“ Es lässt sich also auch, vergröbernd, mit „Ein blaues Wunder für Macron“ übersetzen. Oder vielleicht ein rotes, wenigstens ein rötliches Wunder…? Warten wir es vorläufig noch ab!
Nummer 2 :: Manuskript für Wochenzeitung "Jungle World" / Antift-Seite zu: Reaktionen der extremen Rechten auf Sozialproteste in Frankreich : a. Universitäten ; b. : FN zum Bahnstreik
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Frankreichs Studierende begehren derzeit auf. Ihr Protest gilt unmittelbar einem Gesetz, das am 8. März dieses Jahres durch Präsident Emmanuel Macron unterzeichnet wurde und ab dem kommenden Studienjahr 2018/19 Anwendung finden soll. Mit ihm würde der Hochschulzugang beschränkt. Als vorgeschalteter Filter vor der Einschreibung dienen soll dabei eine Internetplattform, Parcourssup, die mit diversen Algorithmen arbeitet und die Entscheidungen von Fakultätsleitern und Institutsdirektoren vorbereitet. Angeblich ist das Auswahlverfahren objektiv, in Wirklichkeit jedoch hochgradig intransparent und führt mutmaßlich zum Teil zu willkürlichen Entscheidungen.
Neben Regierung, Universitätsleitungen und Polizei haben die protestierenden Studierenden jedoch vielerorts einen zusätzlichen, entschlossenen Feind gefunden. Am 22. März fand eine gewalttätige Attacke auf einen besetzten Hörsaal in Montpellier statt. Am 24. März wiederholten sich vergleichbare Ereignissen in Lille, am 28. März im ostfranzösischen Strasbourg. In der Nacht vom 5. zum 6. April wurde ein Angriff auf die besetzte Fakultät von Tolbiac in Paris – einen ausgelagerten sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Sorbonne – versucht, jedoch erfolgreich abgewehrt. Am 12. April wurde ein weiterer Versuch an einer ausgelagerten Fachschaft der Universität Paris-IV an der porte de Clignancourt verzeichnet. Das Vorgehen besteht meist darin, dass zehn bis zwanzig teilweise vermummte, mit Knüppeln oder Baseballschlägern, mitunter auch mit Elektroschockern ausgestattete Angreifer gegen einige Dutzend, von ihnen als „Linke“ identifizierte Besetzerinnen oder streikende Studierende losgehen.
Als Urheber konnten mehrere, oft gemeinschaftlich agierende Kräfte identifiziert werden. Zu ihnen zählen Gruppierungen aus der „identitären“ Bewegung, die sich in Frankreich auf unterschiedliche Fraktionen aufgefächert hat: Manche von ihnen sind dem außerparlamentarischen Aktivismus verpflichtet, andere betreiben – vor allem in Südostfrankreich – Parteipolitik über den Front National, wieder andere reine Theoriearbeit. In Lille wurden Aktivisten der Jugendorganisation Génération identitaire unter den Angreifern identifiziert. In Montpellier wurde ein Hochschullehrer unter den gewalttätigen Jungmännern ausgemacht. Es handelt sich um den Rechtshistoriker Jean-Luc Coronel de Boissezon. Letzterer verkehrte in rechtskonservativen Kreisen, taucht jedoch auch auf einem Foto von einer Demonstration der Ligue du Midi („Liga des Südens“) von vor zwei Jahren auf. Diese Gruppierung zählt zu den Identitären.
Auch die aus dem monarchistischen Nationalismus kommenden, den antisemitisch-royalistischen Schriftsteller Charles Maurras (verstorben 1952) verehrende Action française oder AF zählt zu dem militanten Bündnis. Ihr Sprecher Antoine Berth bekennt sich in Le Monde vom 10. April lautstark zur Beteiligung seiner Organisation an universitären „Anti-Blockade-Aktionen“ gegen linke Versuche, den Lehrbetrieb zu bestreiken. Nicht zuletzt sind auch die Reste oder Nachfolger der 1969 gegründeten, seit Ende der neunziger Jahre jedoch marginalisierten, gewalttätigen Studierendenorganisation GUD (Groupe Union Défense) an den Attacken beteiligt. Dem GUD gelang es in den letzten anderthalb Jahren, dadurch von sich reden zu machen, dass er in mehreren Städten – vom ostfranzösischen Chambéry bis zuletzt, im März, in Marseille – als Bastion social bezeichnete soziale Zentren nach dem Vorbild der italienischen CasaPound einrichtete. Deren Bedeutung wird zwar auf quantitativer Ebene oft überbewertet, verlieh der militanten außerparlamentarischen Faschistenszene jedoch eine neue Sichtbarkeit.
Warum schaffen diese Strömungen es, ihre Kräfte im jetzigen Kontext zu bündeln und gewalttätig gegen die Protestbewegung vorzugehen? Auf inhaltlicher Ebene ist klar, dass mehr Auswahl beim Zutritt zu Hochschulen und weniger „Vermassung der Universitätsbildung“ grundsätzlich im Sinne ihres Weltbilds ist. In der Sache können sie deswegen nur strikt gegen die Anliegen der Streikbewegung sein. Zugleich hat die seit Monaten schwelende strategische Krise der Wahlpartei Front National (FN), deren Niederlage 2017 in den Augen eines Teils der extremen Rechten nochmals unterstrich, dass es keinen „institutionellen, demokratischen Weg zur Macht“ gebe, auf ihrer rechten Flanke einige Kräfte freigesetzt. Die Kontrolle, die die Wahlpartei FN unter Rücksichtnahme auf ihre strategischen Interesse über die Aktivisten der extremen Rechten ausübte, hat dadurch abgenommen. Eine Reihe von kleineren Gruppen sehen deswegen ihre Stunde gekommen, um sich als „Alternative“ zu bürgerlichen Kräften und zur Linken zu profilieren, ohne dieselben politischen Vorsichtsmaßnahmen walten zu lassen wie der parlamentarisch ausgerichtete FN.
Auch der FN selbst muss sich im aktuellen, sozial polarisierten gesellschaftlichen Klima positionieren, was ihm nicht immer leicht fällt, da er weder die Regierung noch protestierende Linke zu unterstützen vermag.
Neben dem Studierendenprotest findet derzeit auch der Streik der französischen Eisenbahner statt. Diesbezüglich präsentierte dabei die Chefin des Front National am 10. April beim Sender RTL einen reichlich demagogischen Vorschlag. In breiten Teilen der Öffentlichkeit dürfte er jedoch entweder als ulkige Idee oder gar als guter Einfall – warum ist denn sonst noch niemand darauf gekommen? – durchgegangen sein. Bei ihrem Auftritt am Mikrophon des Senders regte Marine Le Pen an, die Eisenbahner könnten es sich doch sparen, das reisewillige oder beruflich auf Pendlerfahrten angewiesene Publikum zu schädigen, indem sie auf ein anderes Aktionsmittel zurückgriffen. Es würde doch genügen, führte die rechtsextreme Politiker ihre scheinbar geniale Idee aus, wenn die Bahnbeschäftigten „den Personentransport für alle Nutzer kostenlos machen würden“. Auch dies, fügte sie hinzu, könnte doch Druck auf die Bahngesellschaft SNCF ausüben und käme gleichzeitig den fahrwilligen Franzosen entgegen.
Auf diese Idee waren freilich schon Andere vor ihr gekommen, und die Bahnbeschäftigten mussten dafür nicht auf den Geniestreich der früheren Präsidentschaftskandidatin warten. Allerdings hat sie nur einen Haken. Bei früher durchgeführten „Kneifzangenstreiks“ – so bezeichnete man eine Arbeitskampfstrategie, bei der man die Fahrkarten nicht kontrollierte und dadurch die Züge faktisch kostenlos verkehren ließ, in der jüngeren Vergangenheit, als Tickets und Lesegeräte noch nicht elektronisch waren - wurden die daran beteiligten Bahnmitarbeiter mit Disziplinarstrafen belegt.
Der Arbeitgeber berief sich dabei darauf, das Streikrecht sei zwar in Frankreich sowohl gesetzlich als auch verfassungsrechtlich geschützt; eine bewusste Schlechterfüllung der Arbeitsleistung - statt vollständiger Niederlegung der Arbeit – bilde jedoch keine korrekte Ausübung dieses Rechts. Die Sache ging vor den Obersten Gerichtshof, welcher im Sommer 1989 urteilte, der „Kneifzangenstreik“ sei tatsächlich rechtswidrig: Auf das Streikrecht dürfe sich nur berufen, wer die Arbeit vollständig einstelle und dadurch auch jeglichen Lohnanspruch für den fraglichen Zeitraum verliere. Seitdem steht rechtlich fest, dass die Bahn als Arbeitgeber solche Mitarbeiter disziplinarrechtlich belangen kann, die im Kontext eines Arbeitskampfs auf ihren Posten bleiben, jedoch die Züge für die Fahrgaste kostenlos werden lassen. Dies kann bis zur Kündigung gehen. Ob dies im Einzelfall tatsächlich passiert, ist sicherlich eine Frage des konkreten Kräfteverhältnisses, denn je breiter eine Streikbewegung ausfällt, desto schwerer fällt dem Arbeitgeber das Durchgreifen auch bei als „illegal“ eingestuften Handlungen. Nur wäre den Beteiligten zu raten, im Vorfeld zu wissen, womit sie konfrontiert werden könnten.
Den unverantwortlichen Charakter ihrer Empfehlung, die zu befolgen also für die Bahnbeschäftigten gefährlich werden könnte, dürften viele Zuhörer Marine Le Pens – ohne Kenntnis der Vorgeschichte - nicht spontan erkennt haben. Sie hörte sich vielmehr in manchen Ohren an wie eine salomonische Lösung, die auf einfache Weise die Interessen von Fahrgästen und Bahnpersonal miteinander versöhnt. Zugleich verdeckt dieser verbale Vorstoß Marine Le Pens die offen und prinzipiell streikfeindliche Haltung, die in ihrer Partei aus Anlass des derzeitigen Arbeitskampfs mehr oder weniger offen zu Tage tritt. So urteilte ihr Lebensgefährte, FN-Vizevorsitzender Louis Aliot, in altbekannter Wortwahl, Streik sei ein „archaisches Mittel“, um Konflikte zu lösen.
Bei RTL gab Marine Le Pen sich jedoch Mühe, verbal zu unterstreichen, sie „teile die Vision der Eisenbahner, die einen öffentlichen Dienst im Transportwesen verteidigen“. Das Herausstreichen der Interessen der gar leidgeprüften Fahrgäste hat ihre Partei allerdings dabei nicht vergessen. So veröffentlichte sie in der Pariser Region Pressemitteilungen, in denen sie forderte, Abokunden ihr Monatsabonnement für die Streikperiode zurückzuzahlen. Dies tat das Bahnunternehmen SNCF in jüngerer Vergangenheit, in vergleichbaren Situationen, allerdings ohnehin von alleine.
Doch die rechtsextreme Spitzenfrau selbst hatte noch kurze Zeit zuvor anders geklungen als zuletzt. Am 14. März hatte sie sich gegenüber Parlamentskorrespondenten der französischen Presse spöttisch über jene Gewerkschaften gezeigt, die sich anschickten, wenige Tage später erstmals „auf die Straße zu gehen, um herumzuflennen“. Marine Le Pen sagte damals voraus, die Gewerkschaften würden „schwerlich viele Leute mobilisieren“, und kritisierte die „Kompromisslosigkeit“ insbesondere der CGT. Seitdem hat sie ihr Wetterfähnchen in eine andere Richtung gehängt. Sollte der Streik mit einer Niederlage für die Gewerkschaften enden, könnte sich ihr Tonfall erneut ändern: Aus der vermeintlich besten Freundin mit den ach so guten Ratschlägen könnte leicht auch wieder eine erbitterte Feindin werden.
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Frankreich / Eisenbahnerstreik und andere soziale Proteste
Die CGT-Eisenbahner spricht von der Perspektive eines „Streiks über Juni d.J. hinaus“ – Solidaritätskassen mit Geldsammlungen für die Streikenden werden gefüllt – Eisenbahner besetzen kurzfristig den Lügensender BFM TV – Studierendenprotest flammt hier und da auf; militante Faschisten attackierten auch an der Universität Tolbiac (Paris) – CFDT entsolidarisiert sich vom Arbeitskampf bei der Fluggesellschaft Air France
Man müsse sich darauf gefasst machen: Der Streik bei der französischen Bahngesellschaft SNCF könne auch über den bisherigen – bis zum 27./28. Juni dieses Jahres gehenden – Streikkalender hinausgehen. Dies erklärte die CGT-Cheminots (CGT Eisenbahner), stärkste Einzelgewerkschaft bei der SNCF und eine von vier dort als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Branchenverbänden, am Wochenende. // Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/la-cgt-estime-que-la-greve-a-la-sncf-pourrait-aller-au-dela-de-juin_2693272.html und http://www.europe1.fr/societe/sncf-la-greve-pourrait-aller-au-dela-de-juin-previent-la-cgt-3620060 // Dadurch reagierte diese Gewerkschaft auf das Verhalten der Regierung, die am vorigen Donnerstag, den 05. April laut Aussagen der beteiligten Gewerkschaften eine „Verhandlungsparodie“ hinlegte und sich zu keinerlei Zugeständnissen in der Sache bereit zeigte. (Vgl. unseren Bericht vom Freitag, den 06. April)
Unterdessen werden mehrere Initiativen für sektorenübergreifende Protestmobilisierungen vorbereitet: Die CGT ruft zu einem Aktionstag am 19. April dieses Jahres auf (wir berichteten am Dienstag, den 03. April), und ein gut besuchtes Treffen von Basisinitiativen im Pariser Gewerkschaftshaus am 04. April ergriff die Initiative für einen Berufsgruppen übergreifenden Aktionstag am 05. Mai d.J. (vgl. auch Labournet, Beitrag vom Freitag, den 06.04.18).
Eine gewisse Hoffnung könnte darauf begründet werden, dass das Zusammenführen von Protest verschiedener Sektoren die nötige Dynamik schafft, die einen Sieg gegen die Regierung unter Emmanuel Macron und seinem Premierminister Edouard Philippe möglich macht. Warnende Stimmen weisen bereits darauf hin, blieben etwa die Eisenbahner/innen isoliert – kämpften sie in den Augen von weiten Teilen der Öffentlichkeit nur für „ihre eigene Sache“ -, drohe eine Niederlage. // Vgl. ausführlich etwa: https://blog.mondediplo.net/2018-03-20-Ordonnances-SNCF-l-occasion // Zumal die öffentliche Meinung derzeit Anzeichen macht, in negativer Weise zu kippen, was ihre Haltung zum Bahnstreik betrifft; vgl. dazu eine Umfrage für die gestrige Sonntagszeitung JDD: // vgl. http://www.lejdd.fr/politique/sncf-le-soutien-a-la-greve-baisse-et-reste-minoritaire-3620831 // Zwar hat es in der Vergangenheit Eisenbahn- und Transportstreiks gegeben, welche trotz Unannehmlichkeiten für die Nutzer/innen ausgesprochen populär waren, wie im Dezember 1986 sowie insbesondere im November und Dezember 1995. Allerdings gab es damals z.T. andere Voraussetzungen: Im Jahr 1995 war Präsidentschaftskandidat Jacques Chirac am 07. Mai j.J. mit einem ausgesprochen „sozial“ orientierten Wahlkampfdiskurs zum Staatsoberhaupt gewählt worden – kurz nach der Sommerpause hielt er dann allerdings (am 26. September 1995) eine TV-Ansprache, in welcher er in der Quintessenz verkündete: „Tut mir leid, Leutchen, ich hatte die Haushaltsprobleme ein bisschen unterschätzt – ein Studium der Haushaltslage (und der europäischen Verpflichtungen Frankreichs) zeigt mir nun, dass es leider leider nichts wird aus den ganzen sozialen Versprechungen.“ Das Publikum führte sich hinters Licht geführt, daraus resultierte ein erheblicher Legitimitätsverlust für alle nun durch die Regierung verkündeten Maßnahmen. Bei Emmanuel Macron tut sich kein vergleichbarer schreiender Widerspruch zwischen Reden im Wahlkampf und Handeln danach auf, denn er trat von vorherein als wirtschaftsliberaler „Reformer“ auf den Plan. Allerdings: Den Inhalt der nun geplanten „Reform“ der Bahngesellschaft SNCF (wir berichteten darüber) hat auch er vor seiner Wahl am 07. Mai 2017 eben nicht angekündigt.
Um gesellschaftliche Solidarität rund um den derzeitigen Arbeitskampf bei der SNCF zu mobilisieren, regten zunächst dreißig mehr oder minder prominente Intellektuell an, eine „Solidaritätskasse“ zur finanziellen Unterstützung ihres Streiks einzurichten. Innerhalb von achtzehn Tagen kam dabei bereits eine halbe Million Euro herein, gegen Ende vergangener Woche wurde ein Zufluss in der Größenordnung von 70.000 Euro täglich erreicht. // Vgl. http://www.lemonde.fr/entreprises/article/2018/04/04/sncf-une-cagnotte-de-soutien-aux-grevistes-depasse-190-000-euros_5280597_1656994.html u.a. und https://www.huffingtonpost.fr/2018/04/03/greve-de-la-sncf-le-succes-de-cette-cagnotte-pour-les-cheminots-grevistes-montre-quil-ne-sont-pas-si-incompris-que-ca_a_23401698/ // Dadurch wird nicht nur Solidarität sichtbar und eine Debatte über eine Positionierung gegenüber diesem Streik möglich, sondern auch den Teilnehmer/inne/n das Durchhalten materiell ermöglicht respektive erleichtert. In der Vergangenheit gab es in Frankreich keinerlei Streikkassen, vielmehr erachteten die Lohnabhängigen, dass sie ja „nicht nur für sich selbst, sondern auch für Andere“ streikten und deswegen den Preis der Solidarität gerne bezahlten. In Zeiten gesunkener Kaufkraft wird dies allerdings immer schwieriger. Ferner gab es früher nach jedem größeren Streik auch eine Art „Nachstreik“, bei dem eine finanzielle Beteiligung des Arbeitgebers am Ausgleich der Lohnverluste hinterher erzwungen wurde. Auch dies ist durch veränderte Kräfteverhältnisse heutzutage weitaus schwerer geworden. Erstmals hat die Mediengewerkschaft CGT Info’Com mit ihrer Berufsgruppen (und Gewerkschaftsgrenzen) übergreifenden Sammelaktion im Frühjahr 2016, während der Bewegung gegen das „Arbeitsgesetz“ (Letzteres wurde am 08.08.2016 trotz fünfmonatiger heftiger Widerstände in Kraft gesetzt), bisherige Traditionen durchbrochen und auch materielle Solidarität organisiert. Seitdem gerieten die Dinge allgemein in Fluss.
Ende voriger Woche besetzten streikende Eisenbahner/innen kurzzeitig den Privatfernsehsender BFM TV, welcher aufgrund seiner Rund-um-die-Uhr-Bildberieselung ziemlich populär ist, jedoch auch durch besonders schroffe und grelle neoliberale Propaganda hervorsticht. // Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=avej1naDM18 // Das Ereignis, das auch im Internet dokumentiert wurde, erlaubte es u.a., einige besonders verbreitete Propagandalügen – nicht nur dieses Senders – zu korrigieren. So wird dort und anderswo regelmäßig behauptet, der „Durchschnittslohn“ von Bahnbeschäftigten liege bei monatlich 3.000 Euro. Dabei handelt es sich jedoch nur um ein mathematisches Mittel zwischen (verbreiteten) tiefen Löhnen und (einigen relativ wenigen) hohen Gehältern, französisch salaire moyen - und nicht um einen Durchschnittswert, welcher unter Gewichtung der jeweiligen zahlenmäßigen Bedeutung jeder Lohngruppe errechnet würde (französisch: salaire médian). Konkretes Beispiel: Verdienen neun von zehn Personen je 1.000 Euro und verdient eine von den zehn hingegen 2.000 Euro, dann liegt der erstgenannte Mittelwert bei 1.500 Euro. Nicht jedoch der reale Durchschnitt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Häufung hoher und tiefer Löhne/Gehälter. Real verdienen rund 60 Prozent der Beschäftigten unter 1.600 Euro monatlich.
Parallel zum Eisenbahnerstreik wächst auch, zumindest örtlich, der Studierendenprotest gegen das Gesetz Loi ORE, das erstmals (seit einem abgebrochenen Versuch der damaligen konservativen Regierung im Herbst 1986) Zugangsbeschränkungen zum Hochschulstudium einführt. Beispielsweise erging an der Universität Lille ein Streikaufruf für Anfang dieser Woche // vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/08/97001-20180408FILWWW00089-appel-a-la-greve-lundi-a-l-universite-de-lille.php //. An der sozialwissenschaftlichen Fakultät von Tolbiac im 13. Pariser Bezirk – diese zählt als ausgelagerte Fachschaft zur Universität Paris-1 (Sorbonne) – wurde vergangene Woche ebenfalls ein Streik beschlossen, und Hochschulgebäude wurde besetzt. //Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/03/97001-20180403FILWWW00153-paris-i-la-fac-de-tolbiac-vote-le-blocage-illimite.php //
In der Nacht vom vorigen Donnerstag zum Freitag (05/06. April d.J.) attackierten auch dort, wie zuvor in Montpellier, Lille und Strasbourg, wiederum militante Rechtsextreme die Besetzer/innen. // Vgl. u.a. https://www.politis.fr/articles/2018/04/une-attaque-fasciste-sur-tolbiac-tourne-court-38650/ und http://www.europe1.fr/faits-divers/tolbiac-attaquee-par-un-groupuscule-masque-les-etudiants-accusent-lextreme-droite-3620363 oder https://www.huffingtonpost.fr/2018/04/07/universite-bloquee-a-tolbiac-une-milice-dextreme-droite-attaque-des-grevistes-en-pleine-nuit_a_23405310/ // Verletzt wurde dort allerdings in diesem Falle, anders als besonders in Montpellier, glücklicherweise niemand. Im Nachhinein kam es im Zusammenhang mit dem Angriff zu sechs Festnahmen. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/07/97001-20180407FILWWW00042-tolbiac-6-arrestations-apres-des-echauffourres.php // Die bürgerlichen Medien stürzen sich nun kurz darauf allerdings auf die Nachrichten, wonach im Inneren Molotow Cocktails (fünf) aufgefunden worden seien // vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/09/97001-20180409FILWWW00046-fac-de-tolbiac-une-enquete-ouverte-apres-la-decouverte-de-cocktails-molotov.php //… Die Justiz lehnte allerdings eine Räumungsverfügung, welche die Verwaltung beantragt hatte, ab. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/08/97001-20180408FILWWW00068-tolbiac-la-justice-rejette-la-demande-de-levee-du-blocage.php //
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Frankreich / Eisenbahnerstreik
Gewerkschaften zeigen sich empört über Regierungshaltung am Donnerstag, 05. April – Streik wird fortgesetzt – Vier weitere Streiktage wurden bei Air France angesetzt – Linksautoritärer Politiker Jean-Luc Mélenchon wurde aus einer Pariser Streikdemonstration hinausgeworfen - Initiative für eine Zentraldemo der Sozialproteste am 05. Mai 18 macht auf sich aufmerksam.
Ohne Einigung, ja ohne jeglichen Kompromissvorschlag seitens der Regierung trennten sich die Verhandlungsparteien (Regierung und Gewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF) an diesem Donnerstag, den 05. April 18. Die Gewerkschaften zeigten sich empört über eine „Verhandlungsparodie“ ( vgl. https://actu.orange.fr/france/sncf-les-syndicats-denoncent-une-mascarade-de-concertation-CNT000001162Z6/photos/un-cheminot-greviste-mercredi-4-avril-2018-a-marseille-8c75e2099b9db0bdb01dd70fe728a7cd.html ), bei welcher die Regierung nicht einmal in Ansätzen verhandlungsfähige Vorschläge auf den Tisch gelegt habe.
Die Regierung setzt darauf, die öffentliche Meinung werde sich gegen die Streikenden kehren. In bürgerlichen Medien werden ständig die immerselben Begriffe wie journée noire dans les transports („Schwarzer Tag in den Verkehrsmitteln“), pagaille („Saustall, Chaos“) oder auch colère des usages („Wut der Nutzer/innen“) wiedergekäut – Googeln genügt, um sich über das Ausmaß dieser Propaganda ein Bild zu machen. Einige besonders spektakuläre Beispiele von Nutzerverhalten in – aufgrund des Streiks erwartungsgemäß mit wartenden Passagieren überfüllten – Bahnhöfen wurden besonders durch die Medien respektive Nachrichtenportale gehyped. Dazu zählt der unglückliche Zwischenfall, bei dem eine Frau an der Gare de Lyon (einem der Pariser Bahnhöfe) auf die Geleise fiel – vgl. https://actu.orange.fr/france/greve-a-la-sncf-et-cohue-bousculee-une-femme-tombe-sur-les-rails-magic-CNT000001143V5.html oder http://www.sudouest.fr/2018/04/03/greve-a-la-sncf-pagaille-sur-les-quais-une-femme-tombe-sur-la-voie-4339676-5458.php - sowie jene Szene, in deren Verlauf Passagiere über die Fenster statt durch die überlaufenen Türen in einen Pariser RER (in Deutschland wäre es eine S-Bahn) einstiegen. (Vgl. http://www.bfmtv.com/mediaplayer/video/greve-sncf-ces-usagers-passent-par-les-fenetres-pour-entrer-dans-le-rer-1055073.html und https://www.challenges.fr/videos/des-passagers-entrent-dans-le-rer-par-la-fenetre_vp8fzr ) Neben dem in Ansätzen begreiflichen Unmut von Nutzer/inne/n öffentlicher Verkehrsmittel kommt in konkreten Einzelfällen hinzu, dass sich manche Individuen wie Tiere benehmen und schlicht nicht versuchen, für die Beweggründe der Streikenden ihrerseits Verständnis aufzubringen.
Im Internet wurde inzwischen ein Video zum Hit, in welchem eine junge US-Amerikanerin ihr (vermutlich ehrliches) Unverständnis für die Transportstreiks in Frankreich zum Ausdruck bringt. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/video-greve-a-la-sncf-moi-je-comprends-pas-ca-chante-sur-youtube-une-jeune-americaine-depuis-la-gare-de-toulouse_2687992.html )
Prompt werden auch erste Umfragen veröffentlicht, denen zufolge eine Mehrheit der befragten Französinnen und Franzosen den Arbeitskampf bei der SNCF für „ungerechtfertigt“ erklärt; vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/greve-a-la-sncf-57-des-francais-estiment-que-le-mouvement-n-est-pas-justifie-selon-un-sondage_2691576.html In der soeben zitierten Umfrage sind es laut dem durchführenden demoskopischen Institut 57 Prozent der Befragten, welche dem Streik ablehnend gegenüberstünden. Allerdings ist bereits die Fragestellung unehrlich: So, wie die Frage an die Teilnehmer/innen gestellt wurde, hat sie eine grève reconductible – einen unbefristeten Streik, über dessen Fortsetzung alle 24 Stunden entschieden wird, mit unvorhersehbarer Dauer zum Gegenstand. Ein solcher Streik findet allerdings derzeit gar nicht statt.
Vielmehr wird derzeit stets für eine 48stündige Periode gestreikt, und an deren Ausgang hinterlegen die stärksten Gewerkschaften jeweils eine Streikvorwarnung für den nächsten Streik, also für fünf Tage später – in Frankreich ist in den öffentlichen Diensten eine Voranmeldung von Streiks fünf Tage vor ihrem Beginn gesetzlich vorgeschrieben. Es wird also je zwei Tage gestreikt und danach je fünf Tage gearbeitet, nach einem vorhersehbaren Kalender, welcher bis zum 27./28. Juni d.J. läuft. Darauf einigten sich die vier als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Gewerkschaften bei der SNCF am zurückliegenden 15. März; mit Ausnahme der linken Basisgewerkschaft SUD Rail, welche einen unbefristeten Streik vom Typus grève reconductible befürwortet. Die anderen beteiligten Gewerkschaften vertreten die Auffassung, durch den gewählten Streikmodus werde auf die öffentliche Meinung besser Rücksicht genommen – stärker als bei einem von vorherein unbefristet Streik -, die Taschen der beteiligten Streikenden würden stärker geschont (in Frankreich bezahlen streikende Beschäftigte den Lohnverlust i.d.R. aus eigener Tasche), und die Wirkung werde stärker gestreckt. Ob dieses Kalkül aufgeht, ist zwar in jeglicher Hinsicht ungewiss, es wird jedoch seitens der etablierten Gewerkschaften vermutet, die periodische Wiederaufnahme der Arbeit zwischen zwei 48stündigen Streikperiode schone die Geduld des Publikums. Allerdings kann es in Wirklichkeit nach hinten los gehen, weil diese Streiktaktik weniger unmittelbar durchschaubar ist als ein gleich zu 100 % durchgeführter Streik, und weil die angekündigte Streikperiode – vom 03. April bis zum 28. Juni, im Rhythmus „Streik an je zwei Tagen von sieben“ – umgekehrt besonders langwierig aussieht.
Die Verfasserin oder der Verfassers oben zitierte Artikel von der Webseite des französischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen (vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/greve-a-la-sncf/greve-a-la-sncf-57-des-francais-estiment-que-le-mouvement-n-est-pas-justifie-selon-un-sondage_2691576.html ) gibt sich immerhin die Mühe, zu betonen, das Meinungsbild in den sozialen Netzwerken sehe anders und eher gegenläufig aus als in der hier wiedergegebenen Umfrage. Sicherlich stellt sich in jedem Einzelfall die Frage, wie aussagekräftig eine Umfrage jeweils ausfällt. Der Artikel betont ebenfalls, die Anhänger/innen der Regierungspartei La République en marche (LREM) sowie der Rechtsparteien Les Républicains – LR, ungefähr mit der CDU/CSU in Deutschland vergleichbar – und Front National seien massiv gegen den Streik. Die übrigen Teile der Gesellschaft sind demzufolge eher (zumindest) neutral bis dafür.
An einer Streikdemonstration am Dienstag, den 03. April – dem ersten Tag des Arbeitskampfs – in Paris nahmen laut polizeilichen Angaben 2.700 Menschen teil. Unter ihnen waren Eisenbahner/innen, überwiegend von SUD Rail sowie Force Ouvrière (FO) – wo war eigentlich die CGT-Eisenbahner als stärkste Einzelgewerkschaft? -, aber auch Krankenhaus- und Pflegebeschäftigte sowie Mitarbeiter/innen von Air France. (Bei der Fluggesellschaft wurden nun zusätzliche neue Streiktage angemeldet: am 10. und 11. April, sodann am 17./18. April und am 23./24. April. Im letzteren Falle werden die beiden Streiktage dann mit denen bei der SNCF koinzidieren, also zusammenfallen. Bei Air France geht es um einen Lohnstreik, da Löhne und Gehälter bei der Fluggesellschaft seit nunmehr sechs Jahren eingefroren blieben, also aufgrund der – obwohl schwachen – Inflation real eine Negativentwicklung aufwiesen. Laut der Wirtschaftsbeilage in der Freitags-Ausgabe der Pariser Abendzeitung Le Monde könnte der Streik, bei Durchführung der jetzt angemeldeten Streiktage, das Unternehmen insgesamt 240 Millionen Euro kosten. Dieser Verlust wäre genau identisch mit der Höhe der Kosten für die geforderte sechsprozentige Lohnerhöhung, für ein ganzes Jahr. Das Unternehmen bleibt jedoch extrem stur gegenüber der Verhandlungsposition der Gewerkschaften.)
Ein bemerkenswerter Ereignis bei der Pariser Streikdemonstration war der Hinauswurf des Linksnationalisten und linkssozialdemokratischen Ex-Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Ihm hallten Rufe wie charognard! („Aasfresser“) entgegen, was sinngemäß bedeutete, dass ihm eine parteipolitische Vereinnahmung des Protestthemas vorgeworfen wurde. – Vgl. dazu (in Text und Bildern:) https://actu.orange.fr/france/manifestation-des-cheminots-jean-luc-melenchon-insulte-dans-le-cortege-parisien-CNT00000110ZbZ.html und https://actu.orange.fr/france/videos/dehors-on-vous-deteste-charognard-jean-luc-melenchon-insulte-lors-de-la-manifestation-en-soutien-aux-cheminots-a-paris-VID0000002A9iX.html
Einer der – selbst parteilosen – Abgeordneten in der 17köpfigen Parlamentsfraktion von Mélenchons Wahlplattform La France insoumise („Das unbeugsameFrankreich“), François Ruffin, kommt unterdessen selbst ungleich besser weg. Er ergriff eine Initiative, welche derzeit viel von sich reden macht, und regte eine Zentraldemonstration der unterschiedlichen sozialen Protestbewegungen am Samstag, den 05.05.18 an. An einem Vorbereitungstreffen im Pariser Gewerkschaftshaus am Abend des Mittwoch, 04. April d.J. nahmen rund 600 Menschen teil, die in den Saal passten, doch 1.200 weitere Personen fanden aus Platzgründen keinen Einlass und blieben vor der Tür. (Vgl. dazu auch https://reporterre.net/Lancement-dans-l-enthousiasme-du-Grand-debordement-du-5-mai )
Ruffin, der im Februar/März 2016 die Initiative zu der Platzbesetzerbewegung Nuit debout anregte (diese allerdings in einem Interview mit Libération vom 07. Juni 16 für mittlerweile gescheitert erklärte), wird weitaus weniger als autoritärer Apparatschik wahrgenommen denn Mélenchon. Auch Jean-Luc Mélenchon hatte in seinem Video bei Youtube, welches wir in unserem Artikel vom Dienstag, den 03. April 18 dokumentiert hatten, eine Zentraldemonstration an einem Samstag gefordert. Allerdings verbunden mit einem autoritären Gestus – in dem Video sagt er dazu u.a.: „Ich habe diesen Vorschlag schon vor anderthalb Monaten unterbreitet, ich hoffe, mein Botschaft ist jetzt verstanden worden, hein?“ -, ebenfalls verbunden mit einer Abqualifizierung der übrigen beteiligten Linkskräfte. Und ferner im Namen der Idee, er vertrete „das Volk“, während die Gewerkschaften nur „konföderierte Berufsgruppen“ verträten.
Bei François Ruffin, welcher zuerst durch seinen Dokumentarfilm Merci, patron! Bekannt wurde, kommt der Vorschlag wesentlich weniger „von oben herab“ daher, und findet weitaus stärkere Basisunterstützung.
Seit dem Treffen am Abend des 03. April im Pariser Gewerkschaftshaus scheint diese Idee – für eine Zentraldemonstration der unterschiedlichen Sozialprotestbewegungen - sich nun ihren Weg zu bahnen. Mit weiteren Ereignissen an dieser Front ist also zu rechnen!
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Frankreich: Eisenbahnerstreik beginnt stark
Auch die Müllversorgung fängt an zu streiken, Air France bereitet sich auf einen neuen Streik am 10. und 11. April vor. Eine Studierendenbewegung scheint in die Gänge zu kommen.
Am Dienstag, den 03. April 18 begann der Streik der französischen Eisenbahner/innen mit einem außerordentlich starken Auftakt. Laut offiziellen Angaben (wie sie durch die Direktion bekannt gegeben wurden) traten 48 Prozent des Gesamtpersonals der Bahngesellschaft SNCF, jedoch 77 Prozent der Lokomotivführer/innen in den Streik. ( Vgl. bspw. https://www.challenges.fr/entreprise/transports/48-de-grevistes-a-la-sncf-mardi-77-chez-les-conducteurs_577890 ) Nur circa 12 Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge (TGV) und 28 Prozent der Regionalzüge TER konnten verkehren. (Vgl. http://www.bfmtv.com/societe/greve-sncf-trafic-tres-perturbe-des-mardi-avec-seulement-12percent-de-tgv-maintenus-1409859.html ) Im Raum Paris bildeten sich am Dienstag früh rund 400 Kilometer Stau (vgl. http://www.leparisien.fr/info-paris-ile-de-france-oise/transports/greves-jusqu-a-400-km-de-bouchons-ce-matin-en-ile-de-france-03-04-2018-7643259.php ) – dies mag vielleicht eine ökologische Kehrseite darstellen, doch in Wirklichkeit wird natürlich umgekehrt ein Schuh draus: Nur wenn es gelingt, den öffentlichen Dienst des Schienenverkehrs in dieser Auseinandersetzung zu verteidigen (oder perspektivisch zu verbessern), wird es auch möglich werden, den motorisierten Individualverkehr richtigerweise einzudämmen.
Die Direktion der Bahngesellschaft setzt als Abwehrstrategien gegen den Streik darauf, eine Streikbruchprämie in Höhe v. 150 Euro dafür zu zahlen, dass Bedienstete – i.d.R. Führungskräfte, die ansonsten ihre Arbeitszeit im Büro und nicht hinter dem Steuer verbringen – ausnahmsweise als Zugfahrer/innen einspringen. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/transports/sncf/info-franceinfo-la-sncf-verse-une-prime-a-des-cadres-pour-les-inciter-a-conduire-des-trains-les-syndicats-denoncent-une-manoeuvre_2684600.html und http://www.europe1.fr/societe/greve-a-la-sncf-une-prime-pour-inciter-des-cadres-a-conduire-des-trains-3614903 ) Nun können wir nur hoffen, dass dies zu keinen Unfällen beitragen wird… Dem Vernehmen nach sollen ferner Streikbrecher aus dem Vereinigten Königreich – britisches Bahnpersonal - herübergeholt werden; vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/04/02/97002-20180402FILWWW00158-sncf-la-cgt-accuse-la-direction-de-vouloir-pousser-a-la-faute.php Auf einer der Pariser Vorstadtlinien (ungefähr mit deutschen S-Bahnen vergleichbar), dem RER D, ist demzufolge sogar an zwangsweise Dienstverpflichtungen gedacht, was im Prinzip nur in dezidierten Notsituationen/Notstandsfällen rechtlich zulässig ist (vgl. dieselbe AFP-Meldung wie zuvor zitiert).
Auch die Müllentsorgung streikte am Dienstag besonders im Raum Paris, in Nord- und Westfrankreich (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/04/03/97002-20180403FILWWW00056-gestion-des-dechets-debut-d-une-greve-de-la-cgt.php ). Dort wird unter anderem die Umwandlung der Abfallentsorgung in einen landesweiten öffentlichen Dienst gefordert. Bei der Luftfahrtgesellschaft Air France, wo Lohnverhandlungen bislang scheiterten, rufen mehrere Gewerkschaften nun für den 10. und 11. April zu einem erneuten Arbeitskampf (nach den Streiktagen im März dieses Jahres) auf. Und, vgl. unten, eine Studierendenbewegung scheint ganz allmählich in die Gänge zu kommen.
Kampf um die Bahn; erster kleiner Teilrückzieher der Regierung
In Frankreich geht es derzeit für die Eisenbahner/innen um viel. Eine im Januar d.J. angekündigte, am 20. Februar 18 im Kabinett beschlossene so genannte Reform soll die bisherige öffentlich-rechtliche Bahngesellschaft SNCF in eine Aktiengesellschaft umwandeln. Das Personalstatut der Eisenbahner/innen, das bislang Laufbahn- und Gehaltsgarantien enthält, soll jedenfalls für alle neueingestellten Beschäftigten durch privatrechtliche Arbeitsverträge mit mehr oder minder frei verhandelbarem Inhalt ersetzt werden. Daneben planen die Regierung sowie die SNCF-Direktion, 9.000 Streckenkilometer Bahn als „wirtschaftlich unrentabel“ wegzusparen. (Auch wenn die Regierung es derzeit offiziell dementiert, und die Verantwortung dafür aller Voraussicht nach an die französischen Regionen weiterreichen wird, so ist der Fall inhaltlich dennoch sonnenklar. Vgl. dazu bspw. http://www.lavoixdunord.fr/337126/article/2018-03-16/petites-lignes-sncf-et-ouverture-la-concurrence-quoi-s-attendre#utm_source=push-web&utm_medium=redaction&utm_campaign=push-web-une )
Der damalige Premierminister Alain Juppé scheiterte mit vergleichbaren Vorhaben im Herbst 1995 an einer Streikfront, er wollte damals 11.000 Kilometer Schienen wegsparen. In beiden Fällen würden dabei halbe Regionen vollständig vom Bahnnetz abgeschnitten. Offiziell dementiert die Regierung derzeit, dass auch dieses Vorhaben – das im Januar 18 explizit angekündigt worden war – Teil der jetzigen Reform sei, denn um diese nicht scheitern zu lassen, sollen die Pläne stückweise umgesetzt zu werden.
Ähnlich wie bei der zweiten Stufe der Arbeitsrechtsreform im Herbst 2017 sollte zunächst auch dieses Mal mit ordonnances, also Regierungsvorhaben mit Gesetzeskraft, statt auf gesetzgeberischem Wege operiert werden. Also erneut ohne Aussprache im Parlament. Die französische Verfassung erlaubt ein solches Eilverfahren bei dringenden und nicht aufschiebbaren Beschlüssen, doch auch viele bürgerliche Demokraten sind der Auffassung, ihre Verwendung bei längerfristig geplanten, wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen diene allein der Knebelung der Opposition. Inzwischen hat die Regierung bei dieser Verfahrensfrage jedenfalls einen Teilrückzieher übernommen: Jedenfalls das Thema „Öffnung des Schienenverkehrs für private Konkurrenz“ soll nun doch nicht auf dem ordonnance-Weg geregelt werden. ( Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/2018/03/31/avant-la-greve-a-la-sncf-le-gouvernement-renonce-aux-ordonnances-pour-louverture-a-la-concurrence_a_23399779/ )
Und wie steht die öffentliche Meinung dazu? Bislang zeigt sie sich durchwachsen. Und es kommt auch jeweils darauf an, wie die konkrete Fragestellung lautet, welche an die Öffentlichkeit gerichtet wird. Ende Februar dieses Jahres – kurz nach Bekanntgabe der Regierungspläne am 20. Februar 18 – antworteten etwa 69 Prozent bei einer Umfrage // vgl. AFP-Meldung zu selbiger: http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/02/27/97002-20180227FILWWW00016-sncf-69-des-francais-pour-la-fin-du-statut-de-cheminot-sondage.php // mit „Ja“ auf die Frage, ob die Regierung (wie geplant) den „Eisenbahnerstatus“ abschaffen und durch privatrechtliche Arbeitsverträge ersetzen solle. An dieser Stelle schlägt der öffentliche Neiddiskurs in vielen Medien, der die Laufbahn- und Mindestgehalts-Garantien im Bahndienst (wo die Gehälter keineswegs, keineswegs üppig ausfallen!) als unverdiente „Privilegien“ darstellt, voll durch. Hätte das Umfrageinstitut nachgefragt, ob die Menschen für die Stilllegung von 9.000 Kilometern Schienenstrecken sind, wäre das Ergebnis noch erheblich klarer mit „Nein“ ausgefallen.. Gleichzeitig, in derselben Umfrage, erntete die Unterstützung für die sich damals anbahnende Streikbewegung (mit 43 Prozent „dafür“, 38 Prozent „dagegen“ und 19 Prozent unentschiedenen Befragten) jedoch eine relative Mehrheit; vgl. ebenfalls unter http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/02/27/97002-20180227FILWWW00016-sncf-69-des-francais-pour-la-fin-du-statut-de-cheminot-sondage.php
Derzeit scheint die Unterstützung leicht anzuwachsen. In einer Befragung am 30./31. März d.J. erklärten, dem demoskopischen Institut Ifop zufolge, 46 Prozent der Umfrageteilnehmer/innen die sich abzeichnenden Streiks bei der Bahngesellschaft SNCF für „berechtigt“. Demnach waren es bei vergleichbaren Umfragen zuvor 42 Prozent (am 14./15. März) und dann 44 Prozent (am 20./21. März) gewesen; vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/04/01/97002-20180401FILWWW00017-greve-sncf-46-de-francais-qui-trouvent-le-mouvement-justifie.php
Sicherlich fällt die Unterstützung derzeit nicht derart durchschlagend aus wie im berühmten Streikherbst vom November und Dezember 1995 (damals äußerten jeweils stabile Mehrheiten zwischen 60 und 70 Prozent, den ganzen über dreiwöchigen Arbeitskampf hindurch, permanent ihre Unterstützung in Umfragen). Die öffentliche Meinung zeigt sich gespalten und beeinflussbar. Die Frage wird nur sein, in welche Richtung der Zeiger in Kürze ausschlagen wird. Dies wird sicherlich auch von der Durchschaubarkeit der Streik-Strategie und den erkennbaren Chancen, gegen die Regierung zu gewinnen, abhängen. Denn merke, die Faustregel lautet: Je unverständlicher eine Kampfstrategie wirkt, je geringer die Durchsetzungschancen gegen eine (durchaus viele soziale Frustrationen in unterschiedlichen Bereichen verkörpernde) Regierung erscheinen, desto schneller droht eine Bewegung unpopulär zu werden…
Im Spätherbst 1995 blieb die Streikbewegung ohne Unterbrechung populär, obwohl diese damals für das Publikum doch mit relativ starken Beeinträchtigungen verbunden war – über drei Wochen lang verkehrte etwa im Raum Paris buchstäblich kein Zug und kein Bus, fast keine Briefe wurden verteilt. Doch die Bewegung zeigte sich in den Augen der Öffentlichkeit in der Lage, eine auf manifeste Weise zum brachialen Durchregieren entschlossene, konservativ-wirtschaftsliberale Regierung mehr und mehr in die Enge zu treiben, und zog dadurch Sympathien auf sich. Die Herzen flogen ihr vielleicht nicht dafür entgegen, dass keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, doch die Menschen ertrugen es mit manifester Leichtmut und erwiesen sich zugleich kreativ: In jenen Tagen kamen Skateboard-Fahren (auf dem täglichen Weg zur Arbeit), Tretroller, Car-sharing respektive Mitfahrdienste unter Nachbar/inne/n und andere Fortbewegungsmethoden in Mode.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die derzeitige Streikbewegung ebenfalls in der Lage sein wird, in die Gesellschaft hinein auszustrahlen.
Studierendenprotest
Neben den übrigen öffentlichen Diensten, die sich unter anderem gegen die Einführung eines „Karenztags“ – unbezahlten Krankheitstags – und gegen Personalmängel in Krankenhäusern und Pflege sowie den geplanten Abbau von 120.000 Arbeitsstellen wehren, geraten derzeit auch Teile der Studierendenschaft in Bewegung. Dort geht es um die Neueinführung von Aufnahmehürden für Universitäten, die bislang mit dem Abitur jedenfalls im ersten Studienjahr für Alle zugänglich waren. Ein Gesetzentwurf im Spätherbst 1986, welcher dem ein Ende setzen wollte, die Loi Devaquet - der gleichnamige Minister verstarb kürzlich // vgl. https://www.francetvinfo.fr/politique/l-ancien-ministre-alain-devaquet-pere-d-une-reforme-de-luniversite-abandonnee-apres-une-forte-contestation-en-1986-est-mort_2572911.html // - musste im Dezember jenes Jahres infolge aufflammender Proteste und nach dem spektakulären Tod des Demonstranten Malik Oussekine ersatzlos zurückgenommen werden.
Dies ändert sich nun durch die Einführung des neuen Einschreibportals „Parcourssup" und den Gesetzentwurf unter dem Titel ORE // vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/15/projets/pl0391.asp // , wobei - je nach Studiengang - neben dem Abitur zusätzliche Anforderungen eingeführt werden. Auf nationaler Ebene, wo es erstmals im Januar dieses Jahres Demonstrationen dazu gab, die jedoch zunächst relativ schwach besucht waren (knapp 2.000 Teilnehmer/innen in Paris), kommt eine Bewegung dazu bislang nur schleppend in Gang. Bei der gemeinsamen Demo von Eisenbahner/inne/n und öffentlichen Diensten am vorigen Donnerstag, den 22. März 18 war jedoch die studentische Komponente etwa in Paris deutlich sichtbar vertreten.
Örtlich hat die Streikbewegung der Studierenden jedoch begonnen, Fuß zu fassen. In Reaktion darauf kam es mehrfach dazu, dass neofaschistische Aktivistengrüppchen – wie insbesondere der GUD (Groupe Union Défense) und Untergruppen der „identitären Bewegung“ – Teilnehmer/innen des Studierendenprotests körperlich attackieren. Solche, im Wortsinne faschistischen Gewalttaten ereigneten sich in Montpellier am 22. März (wir berichteten ausführlich bei Labournet), im nordfranzösischen Lille am 26. März sowie im ostfranzösischen Strasbourg am 28. März dieses Jahres. In Montpellier wurden deswegen (also wg. aktiver Teilnahme an einem solchen Angriff) mittlerweile immerhin ein Dekan der juristischen Fakultät – er musste deswegen von diesem Amt zurücktreten – sowie ein Hochschullehrer in Polizeigewahrsam genommen, unter Anklage gestellt sowie vom Dienst suspendiert… ( Vgl. u.a, unter vielen Artikeln, zusammenfassend: http://www.lejdd.fr/societe/education/violences-a-la-fac-de-montpellier-la-chute-du-doyen-petel-3614819 )
Eine frankreichweite Studierendenmobilisierung soll nun genau deswegen, in Antwort darauf, mit einer Zentraldemonstration am 14. April in Montpellier stattfinden. ( Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/04/01/97001-20180401FILWWW00182-montpellier-manifestation-nationale-des-etudiants-le-14-avril.php ) Dazu ruft eine mittlerweile gegründete, frankreichweite studentische Koordination auf.
Sektorenübergreifende Sozialprotestdemo(s) ?
Ferner plant die CGT zu einer gemeinsamen Demonstration aller laufenden sozialen Protestbewegungen am 19. April d.J. aufzurufen. Am Montag, den 26. März erklärte jedoch Force Ouvrière (FO) – der drittstärkte, politisch schillernde gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich, der seit 1995 an der Mehrzahl der Streikbewegungen teilnahm, jedoch aufgrund wechselnder Interessenlagen seines Apparats oft unberechenbar auftritt -, es sei nicht einzusehen, warum man daran teilnehmen soll. Auch die CFDT als stärkster oder zweitstärkster Dachverband – ungefähr gleichauf mit der CGT - sieht „keinerlei Grund“, daran teilzunehmen.
Neben den eher regierungsfreundlichen Positionen dieser beiden Dachverbände bzw. ihrer Spitzen in den jetzigen Auseinandersetzungen (sowie, was FO betrifft, ihrem kurz bevorstehenden Kongress) kommt hinzu, dass die Leitung der CGT bei der Ankündigung des Mobilisierungstermins offensichtlich auf Bündnisgespräche keinerlei Rücksicht genommen hat – und dadurch selbst den grundsätzlich teilnahmewilligen, linken Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires vor den Kopf stieß. Allem Anschein nach handelt die CGT-Führung derzeit eher, um interne Gleichgewichte auszutarieren, als um handlungsfähige Bündnisse nach außen hin zu bilden. (Vgl. in der bürgerlichen Presse dazu auch, allerdings in der ohnehin CGT-feindlichen und eher CFDT-freundlich gesonnenen, keinesfalls neutralen Pariser Abendzeitung Le Monde: http://www.lemonde.fr/politique/article/2018/03/26/fo-ne-veut-pas-participer-a-la-mobilisation-du-19-avril-a-laquelle-appelle-la-cgt_5276457_823448.html )
Die gewerkschaftliche Spaltung vertieft sich derzeit gegenüber den Vorjahren tendenziell. Zwar könnte es zu einigen nötigen inhaltlichen Klärungen in der Gewerkschaftslandschaft sein, gleichzeitig ist dieser Zustand dennoch ein Hemmfaktor für die Ausweitung der Mobilisierung.
Hinzu kommt nun noch der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon: Letzter insistiert darauf, nun in naher Zukunft für einen Samstag zum Sozialprotesttag aufzurufen – mit dem Argument, die Gewerkschaften wie die CGT verträten jeweils Beschäftigtenkategorien, an die sich ihre Streikaufrufe richteten. Er (Mélenchon) und die Seinen verträten jedoch „das Volk“, das eine übergreifendere Kategorie darstelle und deswegen auch nicht lohnabhängig arbeitende Sektoren umfasse, so dass es eher an einem Wochenende zu mobilisieren sei. (Vgl. dazu Mélenchon glasklar in dieser Ausgabe seines wöchentlichen Videos, ab circa 9 Minuten und 35 Sekunden: https://melenchon.fr/2018/03/28/rdls59-arnaud-beltrame-social-extreme-droite-oiseaux-eau/ )
Rund um den ersten gewerkschaftlichen Aktionstag vom 22. März d.J (öffentliche Dienste und Eisenbahn, plus die sich dranhängende Studierendenbewegung) hatte es bereits einen Aufruf der politischen Linkskräfte zur Aktionseinheit in der Unterstützung für den Sozialprotest gegeben. Ursprünglich hatte dazu Olivier Besancenot von der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), Mitglied der Postgewerkschaft SUD-PTT, Anfang März 18 aufgerufen. ( Vgl. http://www.bfmtv.com/politique/reforme-de-la-sncf-besancenot-appelle-a-un-front-commun-de-hamon-a-melenchon-1391962.html und http://www.liberation.fr/france/2018/03/09/mobilisation-du-22-mars-besancenot-appelle-a-un-front-commun-avec-melenchon-et-hamon_1634918 ) Schlussendlich kam dabei ein beinahe erstaunlicher Bogen der unterstützenden Kräfte – von Benoît Hamon, im Frühjahr 2017 (gescheiterter) Präsidentschaftskandidat der Regierungssozialdemokratie und Mitglied ihres linken Flügels und inzwischen Chef einer eigenen Kleinpartei unter dem Namen Génération.s, bis zu Teilen der antikapitalischen radikalen Linken – zustande. ( Vgl. http://www.europe1.fr/politique/mobilisation-du-22-mars-a-gauche-une-union-de-circonstance-3605717 )
Doch Jean-Luc Mélenchon, in dessen Augen seine eigene Partei/Wahlplattform La France insoumise („Das unbeugsame Frankreich“) im Zentrum zu stehen hat und „das rebellische Volk“ als solches verkörpert, mochte von dieser Aktionseinheit noch nie viel wissen, obwohl er sich ihr im Vorfeld des 22. März noch unterordnen musste. ( Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2018/03/20/manifestation-du-22-mars-melenchon-soumis-a-l-unite-des-gauches_5273524_823448.html und https://www.challenges.fr/politique/melenchon-hamon-unite-de-facade-a-gauche-pour-la-manifestation-du-22-mars_575467 sowie https://www.marianne.net/politique/qui-signe-la-france-insoumise-benoit-hamon-s-echarpent-sur-appel-unitaire-22-mars ) In seinem oben zitierten Interview tut der linksautoritäre Ex-Präsidentschaftskandidat (2012, 2017) diese bisherige Aktionseinheit zur Unterstützung der Sozialproteste als bedeutungslose Allianz von „drei Grüppchen“ ab: Auf die Bewegung „des Volkes“ komme es an; und diese(s) verkörpert nun mal er.
Auch auf politischer Ebene dürfte es also in naher Zukunft noch so manchen Hader rund um die Sozialproteste und ihre tatsächliche und/oder vermeintliche Unterstützung geben…
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