von Diego Giachetti
Die Gesellschaftskrise, die in Italien 1968 offenbar wurde, war Teil eines umfassenderen, gleichzeitigen Prozesses, der die industrialisierten Gesellschaften des Westens, aber auch einige Länder des Ostblocks wie Polen und die CSSR erfasste. Der außerparlamentarische Protest der Jugend traf auf ein neues Selbstbewusstsein der einfachen Arbeiter in den gewerkschaftlichen und betrieblichen Kämpfen, auf eine neue Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistungen in den Städten, auf die Einforderung neuer Bürgerrechte. Sie stürzte das Monopol der Parteien auf die Vermittlerrolle zwischen Gesellschaft und Staat in die Krise.
Das Jahr 1968 steht für einen überschüssigen Zuwachs an gesellschaftlichem Bewusstsein und ein Selbstbewusstsein der Akteure, das sich nicht unmittelbar deckte mit dem, was man gemeinhin unter Klassenbewusstsein verstand. Dieses Bewusstsein entfaltete sich weniger im Zeichen der Einheit und des Zusammenhalts, als in dem der Verschiedenheit, dies kam vor allem in den sozialen Bewegungen zum Ausdruck, die 68 hervorbrachte.
Wer waren sie und wieviele?
Anders als in anderen westlichen Ländern bildete und hielt sich in Italien eine extreme Linke, die sich aus einer ganzen Galaxie von Gruppen und Grüppchen zusammensetzte, die jedem Versuch, sie zusammenzuführen, ja selbst ihrer Zusammenarbeit in der Aktion absolut abgeneigt waren und dennoch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine keineswegs marginale Rolle spielten.
Die Studentenbewegung der 60er Jahre hat gesellschaftliche Schichten aktiviert, die zuvor nicht das Bedürfnis verspürt hatten, direkt am politischen Leben teilzunehmen. Jugendliche, die in den traditionellen Organisationen der Linken sozialisiert worden waren, verließen diese im Gefolge der Studentenbewegung und schlossen sich denen der neuen Linken an. Die kritische und dissidente Linke hat vorher und nachher nicht mehr über eine so große Masse an Menschen verfügt, die bereit waren, einen guten Teil ihrer freien Zeit der politischen Arbeit und der Propaganda zu opfern.
Allein der Ordnerdienst dieser Gruppen an der Staatlichen Universität von Mailand zählte 2000 organisierte und trainierte Personen. Zählt man diejenigen zusammen, die über einen längeren Zeitraum in einem organisierten Rahmen aktiv waren, kommt man für die maoistische PCdI-ML auf 5000–10000, die Union der italienischen Kommunisten ebenso, Potere Operaio 2000–2500, Lotta Continua etwa 20000, Il Manifesto 5000–6000, Avanguardia Operaia 15000–18000, die PdUP 17500 – in der Summe 70000–84000 Aktive. Hinzu kamen einige tausend Mitglieder anderer Gruppen wie den Anarchisten, den Trotzkisten, der Mailänder Studentenbewegung u.a., sodass man insgesamt auf 100000 Aktive kommt. Im Vergleich dazu zählte die Italienische Kommunistische Partei (PCI) zwar 1,5 Millionen Mitglieder, von denen aber nur 130000 aktiv waren.
Und sie waren gebildet, meist Gymnasiasten oder Studierende, bewandert in den neuen Wissensdisziplinen, marxistisch angehaucht und von daher mit einem gewissen Grundverständnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge ausgerüstet. Auf der anderen Seite fehlte ihnen vielfach die Praxis, ideologische Fragen wurden überbetont, Analysen blieben abstrakt, das philosophisch geschulte Denken formallogisch.
Die Mehrzahl war zwischen 17 und 23 Jahre alt, 59 Prozent Studierende, 31 Prozent erwerbstätig, knapp 63 Prozent davon Angestellte im öffentlichen Dienst, bei Banken und Versicherungen oder in der Privatwirtschaft, nur knapp 33 Prozent Arbeiter. Ihr soziale Verankerung unterschied sich von der der PCI: Deren soziale Basis war homogener und verfügte nicht über die Fähigkeit, in Sektoren der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Elite vorzudringen, wie sie die neue Linke hatte, gerade weil sie sehr disparate familiäre Hintergründe hatte und deshalb breit streute. Viele kamen auch aus Kreisen der Elite, waren Söhne und Töchter von Ministern, Zeitungsdirektoren, Managern, hohen Justizbeamten, Universitätsprofessoren etc., was ihnen privilegierten Zugang zu Informationen verschaffte. Gleichzeitig schafften sie es, Beziehungen zu subalternen sozialen Sektoren aufzubauen – in den Fabriken, Stadtteilen, unter den Soldaten, in den Gefängnissen etc.
Die Wende zur Politik
Nach dem Mord am Mailänder Polizeichef Luigi Calabresi im Jahr 1972, dem die radikale Linke u.a. Mitverantwortung für den «Fenstersturz» des jungen Anarchisten Giuseppe Pinelli während eines Verhörs vorwarf, und der Mitgliedern von Lotta Continua angelastet wurde, ging das politische Engagement stark zurück. In großen Organisationen wie Lotta Continua und Potere Operaio setzte ein Umorientierungsprozess ein, der sie stärker in die Nähe der Politik führt – mit Versuchen, eine Beziehung zur organisierten Arbeiterbewegung aufzubauen, taktische Zwischenziele zu definieren, die inneren Organisationsstrukturen transparenter zu machen und geregelte Mitgliedskriterien einzuführen. Gerade bei Lotta Continua war dies mit einer gründlichen Selbstkritik und einer Absage an den Aufbau einer bewaffneten Organisation im Untergrund sowie an eine Aufstandsperspektive verbunden.
Nun wurde auch die Frage der Wahlen und der Parteibildung interessant. Nach den ersten Rückschlägen für die Studentenbewegung 68 und die Arbeiterbewegung 69 begannen links von der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei Versuche der Formierung einer parteipolitischen Alternative. In diesem Strudel ging zunächst die PSIUP unter, eine Abspaltung von der sozialdemokratischen PSI in den 60er Jahren, die sich stark nach links entwickelt hatte und bei den Wahlen 1968 noch 1,5 Millionen Stimmen holte. Vier Jahre später traten zu den Wahlen zunächst maoistische Parteien sowie die Gruppe Il Manifesto an, die aus der PCI ausgeschlossen worden war. Lotta Continua, Avanguardia Operaia und Potere Operaio riefen zu diesem Zeitpunkt noch zur Wahl von PSI oder PCI oder zur Wahlenthaltung auf.
Das Ergebnis war ernüchternd, zusammen kamen die kandidierenden Listen auf 450000 Stimmen bzw. 1,4 Prozent, während die PSIUP über die Häflte ihrer vormaligen Wählerschaft verlor (760000 Stimmen). Die große Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler blieb den traditionelle Parteien treu. Deren Stärke war, trotz der Massenbewegung, die sich links von ihnen gebildet hatte, ungebrochen. Zum Teil lag dies daran, dass die neuen Organisationen der großen Mehrheit der Bevölkerung unbekannt geblieben war, diese kannten sie höchstens aus der Hetze der Massenmedien. Einen eigenen Zugang zu Kanälen der Massenkommunikation hatten die neuen Organisationen nicht, und sie waren auch von den Fernsehdebatten ausgeschlossen. Hinzu kam, dass sie im Unterschied zu den traditionellen Parteien nicht über gesellschaftlich verankerte Organisationsstrukturen verfügten und erst frisch im politischen Geschäft im engeren Sinne waren.
Dennoch gingen bei den Wahlen 1972 1,1 Millionen Stimmen nicht mehr an die PCI, die kandidierenden Organisationen waren aber auch nicht im Parlament vertreten. Nach diesem Debakel löste sich die PSIUP auf, ein Teil ihrer Mitglieder ging zu den alten Parteien zurück, ein kleiner Teil fusionierte mit Il Manifesto zur PdUP.
Getrennt marschieren
Bei den Kommunalwahlen 1975 traten erstmals auch Lotta Continua und Avanguardia Operaia wahlpolitisch in Erscheinung. Lotta Continua gab eine Wahlempfehlung für die PCI, Avanguardia Operaia ging unter dem Namen Democrazia Proletaria eine Listenverbindung mit der PdUP ein. Doch die Ergebnisse waren diesmal nicht besser: Zusammen erhielten die Listen der radikalen Linken 417000 Stimmen (=1,3 Prozent), knapp soviel wie bei den Parlamentswahlen 1972, womit sie ihr Wählerpotenzial konsolidieren, aber das (bereits um mehr als die Hälfte reduzierte) der PSIUP nicht aufsaugen konnten. Letzteres ging hingegen fast vollständig an die PCI, die in diesen Jahren wahlpolitisch einen großen Sprung nach vorn machte.*
Die extreme Linke musste der PCI also Stimmen abjagen. Bei den Parlamentswahlen 1976 trat sie deshalb mit einer gemeinsamen Liste an, die den Namen Democrazia Proletaria trug und in allen Wahlkreisen Kandidaten aufstellte. Sie erhielt nur wenig mehr Stimmen als vorher, nämlich 550000 Stimmen (1,5 Prozent), bekam damit aber erstmals sechs Sitze im Parlament. Über die eigene Anhängerschaft war die Liste nicht hinausgekommen. Die Linke insgesamt wurde stärker, aber davon profitierte nur die PCI, die 1976 das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte einfuhr: 12,6 Millionen Stimmen (gegenüber 1972 ein Zuwachs von 3,6 Millionen), bei einer Mitgliederzahl von 1,8 Millionen.
Die Unterstützer von Democrazia Proletaria zählten noch 50000 Aktive. 1979 gab es wieder zwei getrennte Listen der extremen Linken, sie erhielten zusammen fast 800000 Stimmen – mehr, als wenn sie gemeinsam angetreten wären. Ihre Anhänger schauten halt sehr genau auf die Positionen, die vertreten wurden, demgegenüber war ihnen das Anliegen, möglichst breite Wählerschichten anzusprechen, nicht so wichtig.
Dieses Bild blieb auch die 80er Jahre hindurch erhalten: Selbst als die PdUP 1983 gemeinsame Wahllisten mit der PCI präsentierte (in die sie sich ein Jahr später auflöste), konnte Democrazia Proletaria daraus nicht viel Honig saugen und bleib auf 540000 Stimmen sitzen. Erst 1987 legte sie leicht auf 640000 Stimmen zu – das war ihr größter Wahlerfolg, bevor der Zusammenbruch des Ostblocks und des italienischen Parteiensystems in den 90er Jahren auch die PCI mit in den Abgrund riss.
*Lotta Continua löste sich Anfang November desselben Jahres 1976 auf ihrem 2.Kongress in Rimini auf; die Frauen stellten auf dem Kongress die bisherige Führung massiv in Frage, diesem Ansturm hielt die Organisation nicht stand.
Potere Operaio löste sich bereits 1973 auf, nach Ansicht ihres bekanntesten Sprechers Antonio Negri, weil die Arbeiter durch die Betriebsbesetzungen im März 1973, die gegen den ausdrücklichen Willen der Gewerkschaften organisiert worden waren, ein neues Niveau an Basisorganisation erreicht hätten und die bestehenden linksextremen Gruppen dadurch überflüssig geworden seien.
Ein großer Teil von Potere Operaio schloss sich in den nachfolgenden Jahren der Autonomia Operaia an, die sich im März 1973 bildete. Andere gingen zu den Roten Brigaden.
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