Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2018

Staat, Klassen und sozialistischer Übergang
Interview mit Panagiotis Sotiris

Panagiotis Sotiris ist politisch aktiv in der griechischen Partei Volkseinheit und Mitglied der Gruppe ARAN (Linke Neuzusammensetzung). Er hat Sozialphilosphie und Politische Philosophie an verschiedenen Hochschulen in Griechenland gelehrt. Seine Forschungsinteressen gelten der Marxistischen Philosophie, dem Werk von Louis Althusser und den sozialen und politischen Bewegungen Griechenlands.

Thomas Goes arbeitet als Soziologe in Göttingen.

Warum sollten wir uns heute mit Nicos Poulantzas beschäftigen? Was können Aktivisten aus seinen Schriften lernen, mit dessen Hilfe sie eine starke und vielversprechende Linke aufbauen können?

Die Arbeit von Poulantzas ist eine der wichtigsten Beiträge zu einer möglichen marxistischen Staatstheorie und über die Beziehung des Staates zu den Klassenantagonismen gewesen. Er entwickelte eine sehr originelle relationale Konzeption des Staates, die sich darin ausdrückte, dass er den Staat nicht als ein Instrument in den Händen der herrschenden Klasse, sondern als eine Verdichtung der Klassenbeziehungeni verstand. Auf dieser Grundlage hat er wichtige Einsichten in die Komplexität der Staatsapparate, die vielfachen Beziehungen zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes (auch des Bereichs der kapitalistischen Produktion) vermittelt. Er hat dabei auch darauf hingewiesen, auf wie viele Weisen der Staat als ein Knotenpunkt in der (Re-) Produktion bürgerlicher Klassenstrategien wirkt.

Insbesondere sein letztes Buch, die „Staatstheorie“, bietet eine entwickelte theoretische Ausarbeitung darüber, wie der Staat eine entscheidende Rolle nicht nur bei repressiven Maßnahmen oder für „ideologische Anrufungen“ spielt, sondern auch bei der Schaffung und Reproduktion von Diskursen, Strategien und Technologien der Macht, um mit Foucault zu sprechen. Dieser Ansatz erinnert an Gramscis Begriff des integralen Staates, den dieser als “der gesamte Komplex praktischer und theoretischer Aktivitäten ist, womit die führende Klasse ire Herrschaft nicht nur rechtfertigt und aufrechterhält, sondern es ihre auch gelingt den aktiven Konsens der Regierten zu erlangen (…).“ii

In diesem Sinne können Poulantzas Theorien Aktivisten dabei helfen zu verstehen mit was sie es genau zu tun haben. Gleichzeitig erlaubt es sein Staatsverständnis die andauernden Auswirkungen des Klassenkampfes zu theoretisieren. Es stimmt aber auch, dass es in der Linken eine Neigung dazu gab diesen relationalen Ansatz auf reformistische Art und Weise zu interpretieren. Diese Lesart legt es nahe, eine graduelle Transformation des Staates durch Kämpfe „innerhalb“ des Staates sei möglich.

Ich teile diese Lesarten nicht, die Poulantzas beinahe in eine Art Reformisten a la Eduard Bernstein verwandeln. Laut Poulantzas sind die Staatsapparate eine „Materialisierung und Verdichtung von Klassenverhältnissen“iii. Also sprechen wir von einem Klassenstaat, einem Staat, der durch die „Einschreibung“ der strategischen und taktischen Interessen der Bourgeoisie bestimmt wird. Aber gleichzeitig ist er weder eine Festung, noch ist er ein Instrument, sondern ein offenes Terrain der Klassenantagonismen.

Warum ist das wichtig?

Weil es bedeutet, dass die subalternen Klassen Brüche und Öffnungen herbeiführen sowie Verbesserungen gewinnen können – alles als Teil einer Hegemoniestrategie, die am Ende auch eine Konfrontation mit der bloßen „Materialität“ der repressiven Staatsapparate nötig macht. In der klassischen marxistischen Theorie wurde das als die Notwendigkeit beschrieben, den Staat zu zerschlagen.

Dieses Staatsverständnis ist auch ein nützlicher Merkposten für Aktivisten. Denn radikale Politik ist eben weder ein „langer Marsch durch die Institutionen“, noch die schlichte Vorbereitung auf eine „finale Konfrontation“, eine letzte Schlacht mit dem Staat. Es ist eine komplexe Dialektik mehrerer Momente: daran zu arbeiten das Kräfteverhältnis zu Gunsten der subalternen Klassen zu verschieben, die Bedingungen für eine Hegemonie der ArbeiterInnenklasse zu schaffen und die Konfrontation mit den Klassenstrategien vorzubereiten, die materiell in den Staat „eingeschrieben“ sind.

Außerdem möchte ich noch unterstreichen, dass Poulantzas Theoretisierung „autoritärer Staatlichkeit“ für unsere Zeit sehr wichtig ist. Er war einer der ersten marxistischen TheoretikerInnen, die im Nachklapp der Krise von 1973/74 darauf hingewiesen haben, dass die kapitalistische Klasse und ihre politischen Repräsentanten mit der Kombination weitreichender kapitalistischer Restrukturierungen auf der einen, mit einer autoritären Transformation des Staates auf der anderen Seite reagierten bzw. reagieren würden.

Inwiefern ist das für uns heute relevant?

Weil diese Tendenz seither ein elementarer Bestandteil davon ist, wie soziale und politische Macht artikuliert wird. Auf der einen Seite ist das sowohl in der Entwicklung der kapitalistischen Staaten beispielhaft zu sehen, etwa in der Ausweitung repressiver Überwachung, in der Verlagerung der Macht von der Legislative zur Exekutive, in der Abschottung des Entscheidungsprozesses gegen das Einwirken der Volksklassen, auch in der Abflachung der politischen Debatten; auf der anderen Seite ist es offensichtlich im autoritären institutionellen Gefüge der Europäischen Union, das in gewisser Weise eine Form autoritärer Staatlichkeit par a excellence in Europa darstellt.

Über den kapitalistischen Staat hat Poulantzas immer im Zusammenhang mit den Klassenbeziehungen gearbeitet. Dabei hat er eine eigene Klassentheorie vorgelegt. Welche Bedeutung sollte sie Deiner Meinung nach noch für unsere heutige Politik haben? Warum sollten wir heute beispielsweise zwischen der ArbeiterInnenklasse und dem neuen Kleinbürgertum unterscheiden, das sich ebenfalls aus Lohnabhängigen zusammensetzt?

Poulantzas hat versucht eine Theorie der Klassenstrukturen zu entwickeln, die von drei wichtigen Punkten ausgegangen ist.

Erstens, wir können über gesellschaftliche Klassen gar nicht nachdenken außerhalb des Feldes des Klassenkampfes: „gesellschaftliche Klassen umfassen in ein und demselben Prozess sowohl Klassenwidersprüche als auch Klassenkampf; gesellschaftliche Klassen existieren nicht erst als solche und treten erst dann in den Klassenkampf ein. Soziale Klassen fallen mit der Klassenpraxis zusammen, insbesondere dem Klassenkampf, und sind durch ihre gegenseitige Opposition zueinander definiert.“

Zweitens sagt er, dass die Produktionsverhältnisse nicht einfach Beziehungen rechtlichen Eigentums sind, sondern komplexe Machtbeziehungen hinsichtlich der Kontrolle der Produktionsmittel und des Produktionsprozesses.

Drittens geht er davon aus, dass wir, wenn wir uns mit den Produktionsverhältnissen und der Klassenformierung auseinandersetzen, nicht lediglich über „ökonomische“ Aspekte, sondern auch über politische und ideologische reden müssen. In diesem Sinne wendet er sich gleichzeitig gegen einen engen Ökonomismus, der vielen traditionellen marxistischen Ansätzen eigen ist, als auch dagegen die Zentralität der Produktionsverhältnisse zu unterschätzen, einem Charakteristikum Neo-Weberianischer Schichttheorien.

Im Hinblick auf das neue Kleinbürgertum waren Poulantzas Einsichten sehr wichtig. Zu dieser Klasse zählte er verschiedene bezahlte Schichten wie etwa Techniker, Ingenieure, Lehrer, Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, Hochschullehrer oder auch Ökonomen.

Wie kam er dazu? Mir ist zwar klar, dass auch andere MarxistInnen z. B. LehrerInnen oder Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes nicht zur ArbeiterInnenklasse zählten, Paul Boccara als Nestor der Stamokap-Theorie oder Hal Draper, Vertreter eines Sozialismus von unten, sprachen eher von lohnabhängigen Zwischenschichten. Für andere, und das ist für die deutsche Diskussion heute sehr relevant, zählen alle zur ArbeiterInnenklasse, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Seine Analyse beruht auf der Annahme, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung vor der technischen Arbeitsteilung Vorrang hat. Darin drückt sich der Vorrang der Produktionsverhältnisse vor den Produktivkräften aus. Für Poulantzas „ist es die gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der Form, in der diese durch politische und ideologische Beziehungen innerhalb des Produktionsprozesses vorhanden ist, die die technische Arbeitsteilung dominiert.“

Deshalb hat er darauf bestanden, dass das Auftauchen widersprüchlicher Klassenpositionen, die gleichzeitig Aspekte des Gesamtarbeiters und des Gesamtkapitalisten repräsentieren, keine Folge einer neutralen technischen Evolution sind, sondern die Vertiefung des kapitalistischen Charakters des Arbeitsprozesses sowie der politischen und ideologischen Beziehungen innerhalb der Produktion selbst ausdrücken.

Es gab aber auch einige Verkürzungen in seinem Ansatz, etwa seine Ineinssetzung der ArbeiterInnenklasse mit produktiver Arbeit, wodurch wichtige Segmente der ArbeiterInnenklasse etwa in der Zirkulationssphäre oder z. B. niedere Schreibjobs außen vor blieben. Aber das mindert nicht die Bedeutung seines Beitrags zu einer möglichen marxistischen Klassentheorie.

Warum ist das nicht nur analytisch, sondern politisch von Bedeutung?

Ich glaube, dass Poulantzas Analyse uns dabei hilft zu verstehen, dass es falsch ist die neuen kleinbürgerlichen Schichten als Teil der ArbeiterInnenklasse zu behandeln.

Täte man das, dann würde man die Form des kapitalistischen Arbeitsprozesses und die Form der kapitalistischen Arbeitsteilung zwischen intellektueller und manueller Arbeitsteilung, die zur Entstehung des neuen Kleinbürgertums beigetragen hat, zu akzeptieren. Das ist so als würden wir bestimmte Hierarchien und Spaltungen als „technisch“ oder „neutral“ betrachten, während sie eigentlich grundlegend gesellschaftlich sind. Das ist auch der Grund, weshalb es ein integraler Bestandteil jedes sozialistischen Transformationsprozesses wäre Wissen und Expertise zu sozialisieren und die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren.

Außerdem würden wir, würden wir dieses neue Kleinbürgertum ebenfalls zur ArbeiterInnenklasse zählen, auch Aspekte der „ideologischen Praxis“ als gegeben annehmen, die man mit diesen Schichten in Verbindung bringen kann – etwa das Verständnis sozialer Hierarchien als etwas, das durch Wissen und Expertise verursacht wird; oder die Emphase auf Erfolg und Leistung, die Identifikation mit technokratischen Ideologien oder Modernisierungsideologien, die diese Schichten manchmal dazu führen sich mit Projekten der kapitalistischen Restrukturierung zu verbünden.

Trotzdem gehören diese Schichten zum “Volk”, also dem Bündnis der subalternen Klassen. Tatsächlich ist es eine der größten Herausforderungen diese Schichten für ein solches politisches Projekt zu gewinnen. Heutzutage tendiert die kapitalistische Restrukturierung dazu diese Klassenpositionen auszuweiten, gleichzeitig aber deren Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. So werden sie in die Richtung der ArbeiterInnenklasse „polarisiert“. Solche Schichten zu organisieren, sie für die Gewerkschaften zu gewinnen, sie in kollektive Arbeit und für gemeinsame Forderungen zu gewinnen sowie ihre Mittelklassen- oder Professionalsideologie zu brechen, das sind tatsächlich wichtige Aufgaben des Klassenkampfes heute.

Du hast das „Volk“ als Bündnis der subalternen Klassen bereits erwähnt, für Poulantzas zwischen ArbeiterInnenklasse und dem alten und neuen Kleinbürgertum. Wie hat er sich vorgestellt würde sich ein solches Bündnis entwickeln? Welche Rolle spielten dabei linke Parteien und der Staat? Mein Eindruck ist, dass insbesondere sein Verständnis der Rolle, die „die“ Partei spielen würde, recht traditionell geblieben ist.

Poulantzas hat sich um die Rekonstruktion einer Theorie der Klassenallianzen bemüht, die auf einem Konzept „des Volkes“ als Bündnis unter der Hegemonie der ArbeiterInnenklasse basierte. In diesem Sinne bietet er eine klassentheoretische Perspektive auf „das Volk“, im Unterschied etwa zu zeitgenössischen Ansätzen, die sich etwa an Ernesto Laclau anlehnen und dazu tendieren „das Volk“ als eine Art „Anrufung“ oder „diskursive Konstruktion“ zu betrachten.

Es stimmt, Poulantzas hat die Kommunistische Partei als das „Hauptterrain“ betrachtet, auf dem die politischen Bedingungen eines solchen Bündnisses geschaffen würden. Im Kopf hatte er dabei sowohl die großen westeuropäischen Kommunistischen Parteien als auch die kommunistische Bewegung in Griechenland und die KKE, die zur führenden Kraft des Volkes im Widerstand und im Bürgerkrieg wurde. Er beschäftigte sich wohl auch mit der Idee eines Bündnisses der linken Kräfte bzw. Linksparteien.

Also doch die Partei als treibende Kraft?

Nein, nicht ausschließlich. Es ist wichtig festzuhalten, dass er sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Partei oder auf Parteien beschränkt hat. Autonome sozialen Bewegungen hat er als wichtig betrachtet. In seinen letzten Diskussionsbeiträgen, kurz vor seinem Selbstmord, finden sich Momente eines tieferen Verständnisses der Krise der westlichen Massenarbeiterparteien. Darin legt er sogar einen noch größeren Nachdruck auf autonome soziale Bewegungen. Unglücklicherweise können wir aufgrund seines Todes nicht sagen, in welche Richtung sich seine Arbeit entwickelt hätte. Heute wissen wir, dass wir uns mit diesen Fragen nicht einfach im Rahmen der traditionellen Parteiform beschäftigen können.

Soziale Bewegungen, insbesondere neue Formen des politischen Eingreifens, die auf der Aneignung des öffentlichen Raums beruhen, etwa die Plätzebewegung in Griechenland oder die Indignados in Spanien, haben z. B. genau die unterschiedlichen sozialen Klassen und Gruppen zusammengebracht, aus denen „das Volk“ zusammengesetzt ist. Dennoch meine ich, dass die Frage der Hegemonie der ArbeiterInnenklasse innerhalb der „Artikulation“ eines solchen Bündnisses immer noch nach einem gemeinsamen politischen Projekt und einer organisatorischen Form verlangt, die es unterstützen kann – ich meine etwa neue Formen der Fronten der radikalen Linken und deren Zusammentreffen mit autonomen Initiativen von unten.

Wie beurteilst Du Poulantzas theoretische und politische Entwicklung? Man kann recht schnell einen maoistischen Einfluss etwa in „Faschismus und Diktatur“ erkennen, das gilt auch für „Klassen im Kapitalismus – heute“. Welchen Einfluss hatte der Maoismus insgesamt auf ihn? Zumindest sein Verständnis sozialistischer Transformation blieb davon wohl unberührt – jedenfalls, wenn wir vom letzten Abschnitt aus der „Staatstheorie“ ausgehen.

Poulantzas theoretische und politische Entwicklung begann mit seinen Erfahrungen, die er als Jugendlicher in Athen sammelte, innerhalb der griechischen Linken, und mit seinen späteren Naherfahrungen der französischen Entwicklungen und des Mai 1968.

Dazu gehören auch eine Reihe theoretischer Einflüsse, etwa durch Lucien Goldmann, Antonio Gramsci und Louis Althusser. Eine weitere wichtige Erfahrung war für Poulantzas die besondere Art und Weise wie er nicht nur den Mai 1968 in Frankreich erlebt hat, sondern auch die Spaltung der Griechischen Kommunistischen Partei im selben Jahr und dann seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen des Inlands (KKE tou Esoterikoú).

Herkömmlicherweise wird die Spaltung der griechischen kommunistischen Bewegung als Bruch zwischen den an der UdSSR orientierten Hardlinern und einem eher rechten, eurokommunistischen Flügel beschrieben, aus dem die KP des Inlands hervorging. Tatsächlich haben aber viele AktivistInnen, die sich der KP des Inlands angeschlossen haben, nach einer radikalen oder sogar revolutionären Erneuerung der Strategie und Taktik der kommunistischen Bewegung gesucht – gegenüber dem eher traditionellen und bürokratischen Ansatz der KKE.

Die Gliederung der griechischen KP des Inlands in Paris, in der Poulantzas ein aktives Mitglied war, befand sich politisch weit links von der Führung der Partei. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass Poulantzas auch von der radikalen Kritik am Ökonomismus und Reformismus beeinflusst wurde, die durch den Mai 1968 und die chinesische Erfahrung ausgedrückt wurde, durch Mao und die Kulturrevolution. Beispielsweise findet sich in seinem Bestehen darauf, Hierarchien innerhalb des Arbeitsprozesses nicht einfach als „neutral“ und „technisch“ zu behandeln, ein Echo der Kritik der Kulturrevolution an der kapitalistischen Arbeitsteilung.

Beim „späten“ Poulantzas war das anders?

Später, insbesondere in der zweiten Hälfte der 1970er, können wir dann sehen, dass Poulantzas einen anderen politischen Ansatz verfolgt. Er neigte nun zu dem, was er als einen linken Eurokommunismus verstand und scheint – trotz seiner früheren Kritik - größere Sympathien für eine Strategie der Vereinigten Linken und einen demokratischen Weg zum Sozialismus gehegt zu haben.

Das ist offensichtlicher im letzten Kapitel seiner „Staatstheorie“, wo er diesen Ansatz verteidigt und darauf besteht, dass es strategisch möglich ist parlamentarische Wahlsiege mit starken autonomen Bewegungen von unten zu kombinieren. Das ist natürlich eine widersprüchliche Position. Dennoch ist es ein Versuch ein wichtiges Problem zu durchdenken und letztlich eine offene Möglichkeit. Im Rückblick können wir sagen, dass er überoptimistisch war. Gleichzeitig hat er aber auch nicht gesehen, dass und wie die durchaus linken Sozialistischen Parteien dieser Zeit, etwa die PS in Frankreich oder PASOK in Griechenland, am Ende zu Kräften werden sollten, die die kapitalistische Restrukturierung ab den 1980ern durchsetzten.

Man muss aber betonen, dass diese Diskussion, in der es Beiträge von Poulantzas, Althusser, Etienne Balibar, Christine Buci-Glucksmann sowie Entgegnungen durch Henri Weber oder Daniel Bensaid gab, und die gleichzeitige italienische Debatte, an der sich etwa Pietro Ingrao beteiligte, die letzte große Auseinandersetzung über Fragen der Strategie einer sozialistischen Transformation war – als wirkliche und nicht nur theoretische Frage, meine ich.

Du hast Poulantzas Kritik an Ökonomismus und Reformismus erwähnt. Worum ging es in der Kritik genau? Und wie hat es sein theoretisches und strategisches Denken beeinflusst? In „Faschismus und Diktatur“ argumentiert er beispielsweise durchgängig, dass die Parteien der Dritten Internationale einen ökonomistischen Ansatz gehabt hätten. Seine einzige strategische Schlussfolgerung ist aber, dass eine Politik der Massenlinie nötig gewesen wäre. Wie hat sich seine Ökonomismus- und Reformismuskritik etwa auf die Politik der lokalen KKE (Inland) in Paris ausgewirkt?

Poulantzas Ökonomismuskritik zeigt sich in vielen Aspekten seiner Arbeit. Erstens steht schon die bloße Idee, zu versuchen eine komplexe Theorie des Staates und seiner Rolle auszuarbeiten, im Kontrast zu jeder instrumentellen Konzeption des Staates. Zweitens ist die Kritik am Ökonomismus der Dritten Internationale ein ganz entscheidendes Moment des Argumentes, das er in „Faschismus und Diktatur“ ausbreitet. Und drittens umfasst seine Klassentheorie auch politische und ideologische Determinanten und besteht auf dem Primat der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vor der technischen. Das ist ebenfalls ein Bruch mit dem Ökonomismus.

Was heißt das genau?

Mit Blick auf seine Kritik an der Dritten Internationale ist es sehr interessant, wie Poulantzas versucht hat sowohl eine Trennungslinie gegenüber dem Sektierertum der „Dritten Periode“iv als auch gegenüber der Volksfrontstrategie und Bündnissen mit „demokratischen“ bürgerlichen Parteien zu ziehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich gerne auf seine Interventionen in die Debatten hinweisen, die in der griechischen Kommunistischen Partei (Inland) stattfanden.

1970 hat Poulantzas unter Pseudonym im Organ der Pariser Gliederung der KP (Inland), „Kampf“, einen Artikel veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Antwort auf einen Artikel von L. Eleutheriou, einem Mitglied der Parteiführung. Letzterer hatte eine Strategie der Bündnisse von oben mit demokratischen Parteien vorgeschlagen. Dieser Vorschlag beruhte auf der Annahme, die entsprechenden Parteien würden die kleinbürgerlichen Schichten repräsentieren. Poulantzas opponierte gegen diesen Ansatz der politischen Repräsentation, hat die Idee der Bündnisse „von oben“ zurückgewiesen und bestand darauf, dass die Einheitsfronttaktik politische Arbeit „von unten“ und den Versuch seitens der Kommunistischen Partei nötig machte, selbst politisch in der Bauernschaft und anderen kleinbürgerlichen Schichten zu arbeiten. Da Eleutheriou in seinem Beitrag den 7. Kongress der Kommunistischen Internationale und Dimitroffs Positionen in Erinnerung gerufen hatte, nutzte Poulantzas seinen kritischen Zugang dazu – die wir auch in „Faschismus und Diktatur“ finden –, um vorzuschlagen, dass ein anderer Zugang zu politischen Bündnissen nötig wäre.

Warum war das Deines Erachtens ein wichtiger Diskussionsbeitrag?

Weil die Frage der politischen Bündnisse außerordentlich wichtig war in den Debatten der griechischen Linken, die in der Periode der Diktatur zwischen 1967 und 1974 stattfanden. Die Linke stand vor der Herausforderung, wie man eine Einheit im Kampf gegen die Diktatur schaffen konnte, ohne den bürgerlichen Kräften die hegemoniale Rolle in den Kämpfen gegen die Diktatur zu überlassen. Offensichtlich war das in Poulantzas Beiträgen zur Diskussion über die Strategie der KKE (Inland), die nach der Diktatur stattfand. Poulantzas kritisierte darin die Linie der nationalen Anti-Diktatur-Bündnisse, die erneut Allianzen mit bürgerlichen Kräften vorschlug. In diesen Diskussionen jedenfalls bewegte sich Poulantzas immer links der Parteiführung.

Andererseits blieb Poulantzas ein Theoretiker, der sich immer auf die kommunistische Bewegung bezogen hat, nicht auf irgendeine Art der politischen Heterodoxie. Seine Positionen waren unter dem Strich eher links der europäischen kommunistischen Parteien. Man kann in seiner Arbeit auch viele Positionen finden, die kritische gegenüber dem waren, was wir als kommunistischen Reformismus bezeichnen können. Allerdings hat er sich nie irgendeiner Form des Linksradikalismus zugewandt, sein Fokus lag immer auf den kommunistischen Parteien. Er scheint jedenfalls nie vorgeschlagen zu haben, dass die Lösung der Probleme darin bestehen könnte die Positionen maoistischer oder trotzkistischer Gruppen dieser Zeit zu übernehmen. Die betrachtete er ebenfalls als einseitig, wenngleich er die Bedeutung autonomer und radikaler Massenbewegungen unterstrichen hat.

Kommen wir nochmal auf Poulantzas Gebrauchswert für die heutige Linke zurück. Zumindest seit 1989 gab es innerhalb der europäischen Linken kaum mehr Diskussionen über sozialistische Transformation. Abgesehen von einigen kleineren Gruppen der revolutionären Linken, wie zum Beispiel die Socialist Workers Party in England oder die Ligue Communiste Revolutionnaire (heute die Noveau Parti Anticapitaliste) in Frankreich, konzentrieren sich linke Parteien stärker darauf für Reformen zu kämpfen.

Auf die eine oder andere Weise war oder ist das – in der Regel – mit der Strategie verbunden, Bündnisse mit Sozialdemokraten und/oder linksliberalen Parteien zu schmieden. Das gilt sogar für den Partito della Rifondazione Comunista in Italien – immerhin eine Partei, die versucht hat das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Partei neu zu denken und, zumindest in Deutschland, eine große Hoffnung der radikalen Linken war.

In anderen Worten: Die antineoliberale Regierung ist die hauptsächliche strategische Idee innerhalb der breiteren europäischen Linken gewesen. Von einer „poulantzianischen“ Perspektive aus, und auch auf der Grundlage der griechischen Erfahrungen, was denkst Du über diese Strategie?

Es stimmt, die Periode nach 1989 war eine der strategischen Krise der Linken, und diese hat viele Formen angenommen. Eine davon war die „Ent-Kommunistisierung“ großer Parteien der Linken und ihre Verwandlung in sozialdemokratische und später sozialliberale Parteien. Die Kommunistische Partei Italiens fällt einem da als erstes ein. Auf der anderen Seite haben die Strömungen, die sich einer solchen offenen sozialdemokratischen Wende widersetzt haben, in den 1990er Jahren kaum mehr als antineoliberale Positionen entwickelt, neben der Verteidigung von Massenbewegungen und ganz genereller und sehr abstrakter Plädoyers für den Sozialismus.

Zur gleichen Zeit befanden sich auch die meisten Strömungen der revolutionären oder antikapitalistischen Linken, die sich auf die Erfahrung von 1968 bezogen haben, in der Krise. Viele Gruppen hatten sich aufgelöst. Die übrig gebliebenen Strömungen waren relativ klein und konnten sich strategisch nicht erneuern. Das war offensichtlich im Fall der Vierten Internationalev, bei der Internationalen Sozialistischen Tendenzvi, aber auch bei anderen Strömungen.

In diesem Zeitraum, insbesondere nach der zweiten Hälfte der 1990er, ist allerdings auch ein neuer Radikalismus aufgetaucht. Symbolisch fand das seinen Ausdruck etwa in der Antiglobalisierungsbewegung. Dieser Radikalismus drückte sich in den Straßen, in sozialen Bewegungen, auch in Zusammenstößen mit der Polizei und zum Teil auch in wichtigen Wahlergebnissen aus - Letzteres etwa bei den Europawahlen 1999 für das Bündnis der LCR mit Lutte Ouvrièrevii, durch die beeindruckenden Ergebnisse für Olivier Besancenotviii oder auf einer anderen Ebene der Rückhalt des italienischen PRC in der Jugend. Dennoch war all das nicht mit einer tieferen strategischen Debatte verbunden. Offensichtlich war das im Europäischen Sozialforum und im Weltsozialforum: Tausende Aktivisten, bedeutende Bewegungen, ein neues Interesse an marxistischer Theorie aber keine wirkliche strategische Debatte. Daniel Bensaïd’s damaliger Aufruf, die strategische Debatte neu zu eröffnen, blieb unbeantwortet.

Bedauerlich – aber trotzdem setzten sich ja strategische Orientierungen in der europäischen Linken durch…

Was schlimmer war: Strategie wurde durch die Idee ersetzt, ein Bündnis mit der Sozialdemokratie in der Form antineoliberaler Regierungen oder – noch schlimmer – Regierungen des „kleineren Übels“ zu bilden. Von der katastrophalen Erfahrung, die die Beteiligung der PRC an der zweiten Prodi-Regierung (2006-2008) darstellte, hat sich die kommunistische Linke in Italien nie erholt. Das sind Lehren, die wir nicht ignorieren können. Es stimmt schon, dass man sich bei verschiedenen Gelegenheiten auf Poulantzas berufen hat, um solche Strategien zu unterstützen – aber eigentlich gab es keine tiefergehende strategische Debatte. Es ging dabei auch nicht um einen „demokratischen Weg zum Sozialismus“, sondern um eine vollständige Kapitulation vor der parlamentarischen Logik und um die Anerkennung der Hegemonie der Sozialdemokratie – und das in einer Phase, in der sie eine der Hauptkräfte war, die den „real existierenden Neoliberalismus“ durchsetzte.

Das strategische Vakuum, das durch diesen Ansatz und den Umstand erzeugt wurde, dass Strategie eigentlich durch Wahlpolitik und die Orientierung auf einfache antineoliberale Reformen ersetzt wurde, markiert auch die Grenzen dieser Art der Linken. Das hat eine spezielle Version der Linken geschaffen, rhetorisch radikal aber ohne tatsächliches Nachdenken darüber, wie eine mögliche Strategie der Brüche aussehen könnte. Das tragischste Beispiel ist SYRIZA. Die Partei war programmatisch unvorbereitet, gleichzeitig zwanghaft pro-europäisch – beides bereitete den Weg für die vollständige Kapitulation vor der Troika und nun die vollständige Anerkennung einer ganz aggressiven neoliberalen Logik. Und ich will hier nochmal unterstreichen, dass die relativ jungen Mitglieder der SYRIZA-Führung ihre „politische Erziehung“ in den 1990er und frühen 2000er Jahren genossen haben, also genau in der Phase der Europäischen Sozialforen und der Idee antineoliberaler Bündnisse.

Einige GenossInnen würden argumentieren, dass das Kräfteverhältnis und auch der „Charakter der Periode“ nicht mehr als antineoliberale Politik zulassen.

In der deutschen Diskussion ist es etwa ein gängiges Argument, dass, da es mehrere mögliche Varianten kapitalistischer Entwicklung gibt und die Kräfteverhältnisse schlecht sind, wir heute gar nicht mehr tun können als für einen besseren Kapitalismus zu kämpfen.

Und auf diesem Weg schaffen wir dann – möglicherweise – bessere Bedingungen für den Klassenkampf, für soziale Bewegungen und öffnen auch neue Räume für die Linke. Nicht zuletzt der späte Poulantzas wird als ein Bezugspunkt für diese Art von Strategien genommen. Wie würdest Du auf diese strategischen Vorschläge antworten?

Ich denke, das ist ein sehr undialektischer Ansatz. Die bloße Idee, dass die Linke ein Projekt eines „besseren Kapitalismus“ entwickeln und so bessere Bedingungen für Bewegungen schaffen kann, ist fast absurd. Ich meine, die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung legt eher nahe, dass, wann immer es so etwas wie einen „besseren Kapitalismus“ gab, der nicht auf eine Linke zurückging, die sich für Bündnisse für einen guten Kapitalismus eingesetzt hat. Es war immer das Ergebnis autonomer und auch militanter Kämpfe sowie einer breiteren antikapitalistischen Herausforderung der sozialen Ordnung, wofür die Anziehungskraft der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts als Beispiel gelten kann. Nur solche Dynamiken können kapitalistische Kräfte dazu anhalten Reformen durchzuführen und den subalternen Klassen Zugeständnisse zu machen.

Darüber hinaus unterschätzt ein solcher Zugang einen anderen wichtigen Aspekt der gegenwärtigen politischen Konjunktur. Auf die strukturelle kapitalistische Krise von 2007/2008 gab es eine neoliberale Flucht nach vorne, inklusive verstärkter autoritärer Staatlichkeit und einem fast post-hegemonialen Politikansatz. Dies ging einher mit einer Erosion des demokratischen Prozesses. Diese Kombination lässt wenig Raum für Reformen, die einen „besseren Kapitalismus“ schaffen könnten. Natürlich, der Klassenkampf endet niemals und der soziale Antagonismus wirkt sich konstant aus. Gleichzeitig ist der tatsächliche politische Entscheidungsprozess stärker von den Eingriffen der subalternen Klassen abgekapselt, als zu irgendeiner anderen Zeit in der Vergangenheit.

Und was folgerst Du daraus politisch?

Dass wir einen viel konfrontativeren Ansatz verfolgen müssen, der auch nach einer radikalen Alternative verlangt. In diesem Sinne müssen wir über ein Übergangsprogramm reden, also eine Reihe von zusammenhängenden Forderungen und Zielen, die die Macht der Kapitalisten herausfordern, die Widersprüche der gegenwärtigen Form der bürgerlichen Politik und des Krisenmanagements aufgreifen und den Weg für eine nachkapitalistische soziale Konfiguration öffnen.

Solch ein programmatischer Ansatz kann dabei helfen die Linke als wirklich antisystemische Kraft neu zu schaffen, eine Trennungslinie bürgerlichen Kräften gegenüber zu ziehen, eine neue alternative Erzählung (und nicht die Phantasie eines besseren Kapitalismus) vorzuschlagen und eine politische Perspektive für Massenbewegungen zu bieten. Meines Erachtens kann es so gelingen ein wirklich hegemoniales Projekt der ArbeiterInnenbewegung auf den Weg zu bringen und die Bedingungen für eine Linke zu schaffen, die nicht nur Widerstand leistet, sondern Macht und Hegemonie zu erlangen versucht.

Mit Poulantzas haben solche systemimmanenten Reformstrategien also nichts zu tun?

Ich kann mir durchaus vorstellen, wie Poulantzas in solchen Debatten und bei derartigen strategischen Positionierungen heraufbeschworen wird. Aber Poulantzas hat sich nie auf eine Linke bezogen, die einfach nur für einige Reformen gekämpft hat. Sogar als er eine politische Wende hin zum „demokratischen Weg“ gemacht hat, sollten wir nie vergessen, dass er sich auf einen „demokratischen Weg zum Sozialismus“ bezogen hat – einen Prozess, in dem der parlamentarische Sieg der Linken, die mit einem radikalen Programm in Richtung sozialistischer Transformation antritt, einhergehen sollte mit starken autonomen sozialen Bewegungen. Es ging um einen komplexen Prozess des sozialistischen Übergangs. Wir können diese Positionen oder Vorstellungen natürlich kritisieren und ihre Widersprüche und Leerstellen herausarbeiten, etwa Poulantzas Unterschätzung dessen, wie der Staatsapparat auf eine solche Herausforderung reagieren würde. Oder seine zu positive Haltung gegenüber einer möglichen Zusammenarbeit zwischen einer kommunistischen linken und Parteien wie PASOK. Trotzdem muss man zugeben, dass er nie im Namen eines „besseren Kapitalismus“ für ein Bündnis mit sozialdemokratischen Kräften plädiert hat.

Poulantzas hat durchaus gesehen, dass der Griff nach der Regierungsmacht nicht die Antwort auf die Frage der Strategie war, auch wenn er gegenüber klassischen politischen „Aufstandsansätzen“ hervorgehoben hat, dass ein demokratischer Weg möglich sei. Er hat dabei immer die Bedeutung von Massenbewegungen von unten betont, autonome Bewegungen, die auch Druck auf eine Linksregierung ausüben würden, damit diese ihre Versäumnisse ausräumen und in eine radikale Richtung gehen – Bewegungen, die auch Transformationsprozesse einleiten und mögliche Gegenoffensiven durch bürgerlichen Kräften entgegentreten würden.

Die folgende Passage aus einem Interview, das Poulantzas 1979 gegeben hat, unterstreicht diesen Punkt: „Die Machtverhältnisse innerhalb des Staats zu verändern und darüber hinaus radikal die Materialität des Staates zu modifizieren ist nur ein Aspekt des demokratischen Weges zum Sozialismus. Der anderer Aspekt dieses Prozesses hängt gleichzeitig von Graswurzelbewegungen/sozialen Bewegungen ab, die die Ausbreitung von Räumen der direkten Demokratie vorantreiben: von Bewegungen, die sich selbst in popularen Kämpfen verwurzeln, die immer weitertreibend sind, und die auf Distanz zum Staat bleiben. Sich auf das Terrain des Staates zu beschränken, selbst um eine Strategie der Brüche anzuwenden, heißt unklugerweise in Richtung Sozialdemokratie zu rutschen; aufgrund des Gewichts der Materialität des Staates können selbst die Kräfteverhältnisse innerhalb des Staates nur verändert werden, wenn sich auf Kämpfe und Bewegungen gestützt wird, die über den Staat hinausgehen.“

Wie könnte also eine alternative Strategie aussehen? Soweit ich sehen kann werden drei alternative Strategien, wenn überhaupt noch, in der radikalen Linken diskutiert.

Erstens: Die Idee eines antimonopolistischen Bündnisses und einer fortschrittlichen Demokratie. Beispielsweise findet sich das noch bei den Resten der Deutschen Kommunistischen Partei, aber auch bei marxistischen Sozialdemokraten oder ehemaligen KommunistInnen in der LINKEN.

Zweitens: Die Idee radikaler nicht-staatlicher Politik, die in verschiedenen Varianten vorkommt, etwa bei anarchosyndikalistischen oder eher autonomen Strömungen.

Und drittens organisieren die kleineren revolutionär-marxistischen Gruppierungen, meist mit einem trotzkistischen Hintergrund, ihre Politik um die Idee einer tieferen revolutionären Krise und der Entwicklung von Situationen der Doppelmacht herum. Siehst Du eine Alternative hierzu?

In einer Diskussion, der ich beiwohnen konnte, hat Stathis Kouvelakis für eine Linksregierung argumentiert, die für antikapitalistische Reformen mobilisieren und dabei mit sozialen Bewegungen – aber auch in einem Spannungsverhältnis zu ihnen – arbeiten würde.

Das ist sicherlich eine offene und ziemlich schwierige Frage. Erstens einmal glaube ich, dass die Idee eines antimonopolistischen Bündnisses auf einem Missverständnis darüber beruht, wie der herrschende soziale Block zusammengesetzt bzw. „artikuliert“ wird. Die Unterschiede zwischen Monopolen und eher mittleren oder kleineren Bourgeoisien führt durchaus zu Spannung innerhalb des dominanten Blocks, dieser wird aber auch die dominanten Segmente des Machtblocks geleitet bzw. angeführt. Indem die Monopole etwa die Deregulierung der Arbeitsmärkte betrieben und die Möglichkeit der Überausbeutung geschaffen haben, konnten sie zum Beispiel eine führende Rolle gegenüber den mittleren und kleineren Unternehmen spielen. Sie haben ihnen damit wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Darüber hinaus ist die Reproduktion der mittleren und kleinen Unternehmen in vielen Fällen auch durch die Strategien des Monopolkapitals bedingt, ich denke an Outsourcing und neue flexible Formen der Zentralisierung und Konzentration. Es ist also eine Sache, über ein mögliches Bündnis mit Soloselbständigen oder sehr kleinen Unternehmen nachzudenken, aber eine ganz andere, auf der Fantasie zu bestehen, ein Bündnis mit fortschrittlichen Teilen der Bourgeoisie sei möglich.

Das gilt für die Strategie der antimonopolistischen Demokratie – was sagst Du zu den eher libertären Ansätzen?

Da ist ja die Vorstellung, man könnte auf Politik im Sinne eines revolutionären Kampfes um Macht überhaupt verzichten. Von Alain Badiou’s „Politik auf Distanz zum Staat“ bis John Holloway’s Ansatz die „Welt zu verändern ohne die Macht zu übernehmen“ gibt es dafür viele Beispiele.

Wie dem auch sei, das Ausmaß von Veränderungen, die autonome soziale Bewegungen bewerkstelligen können, ist wichtig. Aber es gibt Grenzen. Wir brauchen ganz sicher starke, autonome und auch siegreiche soziale Bewegungen. Wir brauchen auch erfolgreiche Experimente mit alternativen Lebensformen, etwa Experimente mit der Arbeiterkontrolle von Unternehmen. Aber auch das ist nicht genug. Sozialer Wandel braucht auch die Konfrontation mit der Macht der herrschenden Klassen, mit der Macht, die in den Staatsapparaten materialisiert und kondensiert ist.

Das gilt umso mehr, wenn wir uns gegenwärtige Formen autoritärer Staatlichkeit anschauen, insbesondere in der Form des permanenten wirtschaftlichen Notfall- und Ausnahmestaate. Ein Beispiel ist das Regime, das die Troika in Griechenland erzwungen hat. Es gibt eine Tendenz zur präventiven Unterminierung sozialer Bewegungen, zur drastischen Verringerung der Möglichkeit von größeren Veränderungen durch soziale Bewegungen. Es gibt eine extreme Abkapselung des politischen Entscheidungsprozesses. In einer solchen politischen Konjunktur braucht man politische Macht, um die Welt zu verändern.

Also doch traditionelle revolutionäre Politik, wie sie von etlichen Kleinstgruppen vertreten wird? Das scheint mir auch nicht überzeugend zu sein.

Die Vorstellung, dass die Ergreifung der Macht schlicht eine Wiederholung des Oktober 1917 wäre, ist natürlich absurd. Das ist eher eine Fantasie, als eine wirkliche Strategie und in gewissen Fällen – etwa der gegenwärtigen antikapitalistischen Rhetorik der Griechischen Kommunistischen Partei – ist es auch lediglich eine Ausrede dafür politisch nicht viel zu tun.

Ich kann die Verteidigung des revolutionären Weges als ideologischen Bezugspunkt gegenüber einem politischen und theoretischen Antikommunismus durchaus verstehen. Aber das muss in Strategie übersetzt werden. Und das bedeutet wirklich über die politische Konjunktur nachzudenken, über die Möglichkeiten, die sie bietet und über innovative Wege, die wir gehen müssen, um Vorteile aus ihnen zu ziehen. In keinem Fall heißt das, die politische Lage als „nicht reif genug“ zu behandeln. Griechenland war in der Periode 2010-2012 beispielsweise das Land, das einer Hegemoniekrise näherkam als irgendein anderes europäisches Land seit dem „Ende der Diktaturen“ Mitte der 1970er Jahre. Was könnte „reifer“ sein als das?

Und was sagst Du zur strategischen Möglichkeit, linke Regierungen mit einem Übergangsprogramm und starken autonomen sozialen Bewegungen von unten zu verbinden?

Ich denke, wir brauchen einen dialektischeren Ansatz. Auf der einen Seite zeigen die jüngeren Entwicklungen – nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika – die Möglichkeit, dass Kräfte der radikalen Linken unter der Bedingung einer extremen sozialen und politischen Krise, die auch zu Massenbewegungen und großen Brüchen in der politischen Repräsentation durch Systemparteien führt, die Regierungsmacht erlangen können. Gleichzeitig machen es die Transformation des Staates – die Verfestigung und „Materialisierung“ der Klassenkräfteverhältnisse zu Gunsten des Kapitals – und das Ausmaß des Aufstiegs einer autoritären Staatlichkeit sehr schwierig politische Macht auf normale Art und Weise auszuüben. Das stimmt insbesondere, wenn wir uns eine Regierung vorstellen, die – im Unterschied zu SYRIZA – den Weg des Bruchs mit der Europäischen Union und dem Imperialismus versuchen würde. Immerhin ist es unmöglich soziale Verbesserungen im Rahmen des institutionalisierten Neoliberalismus der Eurozone und des EU-Institutionensystems durchzusetzen.

Und welche Alternative schwebt Dir vor?

Was wir brauchen ist die Ausübung von Volksmacht von unten, um den kapitalistischen Strategien entgegenzuwirken, die bereits in der „Materialität“ des Staates „eingeschrieben“ sind. Diese Macht von unten wäre auch am ehesten dazu in der Lage, die möglichen bürgerlichen Gegenmobilisierungen wirkungsvoll zu beantworten. In diesem Sinne brauchen wir nicht nur starke Bewegungen, sondern auch neue Formen der Doppelmacht.

Mehr noch, dieser Prozess würde es früher oder später nötig machen nicht nur den Staat zu „leiten“ oder zu „reformieren“, sondern einen tiefgreifende Wandel, eine Entwicklung einzuleiten, die nach Brüchen mit der Bourgeoisie verlangen würde. Sie sollte zu einem „konstituierenden Prozess“ führen, durch den neue institutionelle Arrangements eingeführt würden, die sich antagonistisch zu den kapitalistischen verhalten. Ich denke an die Einschränkung des Privatbesitzes, an neue Formen der Demokratie, neue Formen der partizipatorischen Planung, an demokratischer Kontrolle und den Abbau repressiver Mechanismen.

Aber diese Überlegungen können keine abstrakte Blaupause für die Zukunft sein. Solche Schritte müssen auf wirklichen Erfahrungen und Experimenten beruhen, auf der kollektiven Kreativität der Massen, auf Lernprozessen, die mit sozialen Bewegungen und radikaler Politik zusammenhängen, und auf einer offenen theoretischen Debatte.

Radikale oder revolutionäre Politik ist ein Prozess des andauernden, des konstanten Experimentierens. Unglücklicherweise haben die meisten Organisationen, Bündnisse und Fronten der Linken bisher dabei versagt zu solchen Arten von „kollektiven Laboratorien“ zu werden, um die Strategien, Diskurse und neuen Intellektualitäten zu schaffen, die wir brauchen. Sogar das „Experiment SYRIZA“ wurde nicht als ein „Testfall“ behandelt, um aus dessen tragischen Defiziten und Niederlagen zu lernen.

Einige Leute sagen, dass wir jetzt lediglich Widerstand und Bewegungen brauchen, da wir uns nicht mehr innerhalb eines „Möglichkeitsfensters“ für revolutionäre Politik befinden, wie es vielleicht zwischen 2010 und 2012 der Fall war. Aber strategische Debatten waren nie ein Luxus für die Linke. Von 1848 über die Pariser Kommune bis zu den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 war die Idee, dass wir aus großen Erfahrungen lernen und so kommunistische Theorie und Praxis konstant neu einschätzen und auch verändern, der frische Sauerstoff sowohl für den Marxismus als auch für die ArbeiterInnenbewegung. Diesen Sauerstoff brauchen wir heute.

i Nicos Poulantzas, Classes in Contemporary Capitalism, translated by David Fernbach, London, New Left Books, p. 26.

ii Antonio Gramsci, Gefängnishefte. S. 1725-1726. Hamburg.

iii Poulantzas, Classes…, p. 25.

iv Die Kommunistische Internationale unterschied auf ihrem 6. Kongress 1928 drei Perioden, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden waren. Eine erste revolutionäre Periode direkt nach dem Krieg, eine zweite Periode der Konsolidierung des Kapitalismus und – so die Annahme – Ende der 1920er Jahre eine neue Phase der Offensive und der Arbeiterradikalisierung. Einher ging diese Unterscheidung mit einer extrem feindseligen Haltung reformistischen Parteien gegenüber, worauf etwa das Ausbleiben antifaschistischer Einheitsfrontpolitik zurückgeführt werden kann.

v Die deutsche Sektion war bis in die 1980er Jahre die Gruppe Internationale Marxisten, heute die in der LINKEN aktive Internationale Sozialistische Organisation.

vi Die Gruppe der IST in Deutschland war bis zur Selbstauflösung 2007 „Linksruck“, aus der das Netzwerk „Marx 21“ hervorging, das innerhalb der LINKEN aktiv ist.

vii Die LCR und LO sind bzw. waren zwei kleine trotzkistische Parteien, die 1999 und 2004 gemeinsam zur Europaparlamentswahl antraten. 1999 erreichte ihre Liste 5,2 Prozent der Stimmen und gewann 5 Sitze im Parlament.

viii Olivier Besancenot, von Beruf Postbote, kandidierte 2002, gerade 28 Jahre alt, als Mitglied der LCR für das Präsidentenamt und gewann rund 4 Prozent der Stimmen, ein kleiner Erfolg, der 2007 wiederholt werden konnte.

Teile diesen Beitrag:

1 Kommentar

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.