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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2018
Lehren aus den Lehrerstreiks in den USA
ein Auszug aus dem Jacobin Magazine

Überall in den USA finden derzeit Bildungsstreiks statt – von Arizona über Colorado bis nach North Carolina, sie folgen den Beispielen in Oklahoma und West Virginia, wo alles den Anfang nahm. Im Bundesstaat Oklahoma konnte die Regierung Ende März durch einen Streik gezwungen werden, den Bildungsetat um 400 Millionen Dollar und das Jahresgehalt eines Lehrers um 6000 Dollar zu erhöhen, doch nach zwei Wochen war klar, dass die kompromisslose republikanische Regierung zu weiteren Bildungsausgaben nicht zu bewegen war. Die Lehrer wollten es ihren Kolleginnen in West Virginia gleichtun, die nach neun Tagen Streik in sämtlichen öffentlichen Schulen Lohnerhöhungen um 5 Prozent erkämpften und verhindern konnten, dass ihre Beiträge zur Krankenversicherung angehoben werden. Sie hatten ihren Streik so lange fortgeführt, obwohl die Lehrergewerkschaften ihn bereits vorher beenden wollten.

Eric Blanc von Jacobin Magazine sprach darüber mit der Organizerin Jane McAlevey. Wir veröffentlichen einen gekürzten Auszug.


Die Macht liegt in den ­Betrieben

Auch wenn die Streikenden in Oklahoma nicht alles durchsetzen konnten, wäre es falsch kleinzureden, was sie erreicht haben. Die Lohnerhöhung ist ein gewaltiger Erfolg in einem Bundesstaat, in dem seit 1990 keine neuen Steuern erhoben wurden. Ohne Streik hätte es dieses Zugeständnis nie gegeben.

Lass uns einen Schritt zurückgehen. Wir hatten weltweit Bewegungen, angefangen 2011 in Tunesien. In den USA hatten wir die Besetzung in Madison und die Occupy-Proteste. Das waren alles gute Proteste, die Themen der Arbeiterklasse aufgriffen. Auch die Wahlen spielten eine große Rolle, Bernie Sanders ist das beste Beispiel. Aber in Wahrheit lag der Fokus zu wenig auf Streiks. Die wichtigste Lektion aus Oklahoma und West Virginia ist, dass die Arbeitenden, ihre Familien und Communities mit diesen Streiks in kürzerer Zeit mehr erreichen als in einem anderen vergleichbaren Kampf. Und zwar weil sie sich auf den Arbeitsplatz konzentrierten, sie legten die Arbeit nieder und führten so eine Krise für die Kapitalisten herbei.

Der Streik in Oklahoma zeigt jedoch auch, dass ein Streik nicht automatisch dazu führt, alle Forderungen durchzusetzen. Jetzt müssen wir neu lernen, wie wir bei der Vorbereitung und Durchführung eines Streiks sowohl effektiv als auch strategisch vorgehen können.

Das Faszinierende am Streik in Oklahoma ist, wie massiv er trotz der fehlenden lebendigen Gewerkschaftstradition in dem Bundesstaat war. Auf seinem Höhepunkt am 9.April beteiligten sich 50000 Lehrerinnen und Lehrer – weitaus mehr als in West Virginia. Auch die öffentliche Unterstützung war enorm: 72 Prozent laut der jüngsten Umfrage. Dass es in West Virgina und Oklahoma so unterschiedliche Ergebnisse gab, kann also nicht einfach an der Bereitschaft zu kämpfen oder an der öffentlichen Unterstützung liegen.

Es braucht eine Menge, um einen Streik zu gewinnen. Nach meiner Erfahrung sind für einen Sieg sogenannte strukturelle Tests notwendig, die einem zeigen, wo man gut und wo man schwach aufgestellt ist. Auf dieser Basis kann man entscheiden, ob man für den Streik gerüstet ist. Normalerweise müssen mindestens 90 Prozent der Beschäftigten dazu bereit sein.

Nehmen wir den Schulstreik in Chicago 2012, der erste in der Streikwelle nach 2010. Es lohnt sich, die Unterschiede von West Virginia und Chicago klar zu machen. Einer fand in der Stadt statt, einer auf dem Land, in dem einen waren die Schüler und Eltern überwiegend schwarz, im anderen überwiegend weiß. Aber es gab auch Ähnlichkeiten. An beiden Orten schlossen sich 100 Prozent an. Und zwar, weil die Organizer viel Zeit in die Vorbereitung gesteckt und grundlegende Bildungsarbeit am Arbeitsplatz, mit Eltern und Schülern geleistet haben; an beiden Orten die Bereitschaft vorab mehrfach getestet. In West Virginia dauerten die Vorbereitungen monatelang. Noch im Januar waren die Beschäftigten an den Schulen nicht zu einem Streik im ganzen Bundesstaat bereit. Entscheidend war – und das hat es in Oklahoma nicht gegeben – die Urabstimmung unter allen Beschäftigten unabhängig von ihrer  Gewerkschaftsmitgliedschaft. Es war ein tatsächlicher Branchenstreik. Nicht nur die Lehrer, auch die Busfahrer, Köche und alle Verwaltungsangestellten legten zu 100 Prozent die Arbeit nieder. Letztendlich hat der Streik der Busfahrer dazu geführt, dass die Schulleitungen beschlossen haben, die Schulen zu schließen. Man darf auch nicht vergessen, dass in West Virginia wie in Chicago die Streikführer mit einer tatsächlichen Gewerkschaftsstruktur arbeiten konnten.

Das ist richtig. Auch wenn die Gewerkschaften geschwächt wurden, etwa durch fehlende Tarifverhandlungen, waren viele der einflussreichsten Streikführer an der Basis gewählte Vorsitzende ihrer lokalen Gewerkschaftsgliederung. Diese Vorsitzenden agierten eher wie Vertrauensleute, weil sie Vollzeit arbeiten. Aber sie konnten sich auf die gewerkschaftliche Infrastruktur stützen, um die Streiks zu organisieren, und das anfängliche Bremsen durch die Hauptamtlichen überwinden. In Oklahoma hingegen gab es faktisch keine Gewerkschaftsbasis. Dadurch gab es kein funktionierendes militantes Netzwerk, um die Streiks voranzutreiben – und z.B. auf demokratischen Urabstimmungen zu bestehen.

Die Infrastruktur der lokalen Gewerkschaftsvorsitzenden in West Virginia ermöglichte den eher linken Schulleitern auch mitzuteilen, dass man mit der Regelung des Gouverneurs leben könne und auf das Ergebnis stolz sein kann. Die lokalen Schulleiter spielten eine wichtige Rolle dabei, zwischen den Funktionären auf oberster Ebene und den eher militanten an der Basis, die weiter gehen wollten, zu vermitteln. Das war eine Schlüsselrolle. Auch die Beschäftigten in Oklahoma haben viel erreicht und können auf ihren Kampf stolz sein.


Die Rolle der militanten ­Minderheit

Ich teile, was du über die Streikstrategie gesagt hast: Aber das wirft auch eine Frage auf: Wer wird diese politische Perspektive in der Arbeiterbewegung stark machen? Die Initiative für die Arbeitsniederlegungen in Oklahoma und West Virginia ging ziemlich klar von der Basis und nicht der höheren Bürokratie aus. In vielen Mainstreamdebatten über die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung wird oft die strategische Rolle von Sozialisten im Aufbau starker, militanter Bewegungen übergangen. An den jetzigen Streiks können wir die Bedeutung einer radikalen Minderheit klar erkennen.

In West Virginia waren einige der führenden Lehrer organisierte Sozialisten. Sie hatten ein Grundverständnis von Kapitalismus und Klassenkampf; sie hatten den Bildungsstreik in Chicago studiert und versuchten, die Lehren umzusetzen. Auch wenn sie nicht viele waren, konnten diese jungen Sozialisten gemeinsam in die Bewegung in West Virginia intervenieren und eine bedeutende Führungsrolle spielen.

In Oklahoma gab es etwa ebenso viele Sozialisten – großartige Genossen, die solide Arbeit im ganzen Bundesstaat machten. Aber keiner von ihnen arbeitete an der Schule. Deshalb wurden die politischen und organisatorischen Lehren aus West Virginia nicht in die Bewegung eingebracht – weder zu Beginn noch während des Streiks. Ich meine das mehr in der Art: Wie artikulieren wir eine Strategie für die neue Generation von Radikalen, die in den letzten Jahren gekommen ist? Die Democratic Socialists of America (DSA) sind zahlenmäßig explodiert und auch andere sozialistische Gruppen sind gewachsen. Jetzt gibt es eine lebendige Debatte unter den jungen Radikalen, wo und wie sie politisch effektiv arbeiten können. Wir haben eine historische Chance, eine neue Aktivistenriege dafür zu gewinnen, dass sie am meisten bewirken können, indem sie in strategisch wichtigen Branchen organisieren, wie Gesundheit, Bildung oder Logistik.

Ein weiterer sehr positiver Aspekt des Oklahoma Streiks war, dass die Frage aufgeworfen wurde, wofür Geld ausgegeben und von wem es eingenommen wird. Angesichts der katastrophalen Kürzungen im öffentlichen Sektor sagten die Streikenden: Lasst die Reichen zahlen, besteuert die Energiekonzerne, das Geld ist da. Das liegt auch konträr zur verbreiteten Sicht, dass die politische Lösung in der Wahl der Demokraten besteht. Natürlich können wir Wahlen nicht ignorieren, aber sie sind nur ein Teil im Puzzle. Und Streiks sind das größere. Es gibt eine massive Sehnsucht im Land, das Errungene zurückzukämpfen – davon brauchen wir mehr.

Das Interview erschien am 18.4. in ­Jacobinmagwww.jacobinmag.com (Übersetzung: vb).

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