von Kurt Hofmann
Das Festival «Crossing Europe» in Linz an der Donau präsentierte in diesem Jahr abermals Filme außerhalb des «Eurofilm»-Einheitsbreis, ästhetisch anspruchsvoll und nachfragend in gesellschaftspolitischen Angelegenheiten. Auf der Leinwand zu sehen war: ein Europa abseits der Klischees.
The Cured
Irland/Großbritannien/Frankreich 2017 (Regie: David Freyne)
Infolge eines Virus, dessen Ursprung gemäß offiziellen Bekundungen nicht erforscht werden konnte, ist ein Großteil der irischen Bevölkerung zu Zombies geworden. Viele von ihnen können mittels eines rasch entwickelten Heilmittels «kuriert» werden, sie tragen allerdings auch die Last der Erinnerung. Der nicht infizierte Teil der Bevölkerung traut mehrheitlich der Rückverwandlung nicht, selbst die mit allerlei Repressalien verbundene «Reintegration» (die in Wahrheit keine ist), wird stark abgelehnt.
Die Regierung hat dafür gesorgt, dass die einen mit den anderen möglichst nicht in Kontakt kommen. Eine Rückkehr in ihre einstigen Berufe ist den «Geheilten» untersagt, die Tätigkeiten, die sie verrichten dürfen, werden ihnen zugeteilt.
Einer, der den Neuanfang versucht, ist Senan. Nur seine Schwägerin Abbie, eine Witwe mit Sohn, ist bereit, ihm Unterschlupf zu gewähren. Senan muss in einem Krankenhaus arbeiten, wo die Resistans, jene Gruppe der einst Infizierten, bei denen das Heilmittel nicht geholfen hat, verwahrt und «behandelt» werden. Die militärische Führung des im Ausnahmezustand befindlichen Landes hat allerdings längst deren Tötung beschlossen.
The Cured ist Teil der famosen Genrereihe «Nachtsicht» und auf den ersten Blick ein Horrorfilm, in Wahrheit jedoch eine packende Studie über Ausgrenzung. Freynes Film ist eine düstere Parabel über ein Europa, dass sich immer mehr abschottet, dabei vorzeigend, wie Bevölkerungsteile gegeneinander ausgespielt werden, um gewisse Folgewirkungen zu erzielen. Überall Checkpoints und Zäune, an den Wänden hasserfüllte Graffiti gegen die «anderen»: derartige Bilder haben «Wiedererkennungswert»…
Sashishi deda (Scary Mother)
Georgien/Estland 2017 (Regie: Ana Urushadze)
Kurz vor Mananas 50.Geburtstag scheint – aus Sicht ihrer Familie – alles im Lot zu sein. Dass die Mutter zweier Kinder an einem Text schreibt, wird als Marotte abgetan. Nur ein Lektor aus dem Viertel, der für ihr Buch einen Verlag finden will, und ihr Vater, ein Übersetzer, dem sie das Manuskript anonym zugesandt hat, kennen den Inhalt ihres Werkes. Obgleich ihr der Lektor dringend rät, ihren Mann «schonend» auf die anstehende familiäre Leseprobe vorzubereiten, ignoriert Manana dessen Vorschlag. Als sich herausstellt, dass Mananas Roman ein Erotikthriller mit literarisch verfremdeten Versatzstücken aus ihrem Leben ist, kann es der Ehemann nicht fassen, spricht von Pornografie und vermag das Literarische vom «Realen» nicht zu trennen. Doch Manana lässt sich nicht beirren, zieht aus und flüchtet, spätestens nachdem auch ihr «weltmännischer» Vater, der das anonyme Manuskript noch gelobt hatte, ihr «Outing» bösartig kommentiert, in eine Welt, die zwischen ihrer feindseligen Umgebung und den Handlungen ihrer Romanfiguren liegt…
Sashishi deda zeigt ein Georgien, in dem so etwas wie eine weibliche Perspektive nicht vorgesehen ist. Ob als Autorin oder vor sich hinträumend (als Teil ihrer Fantasiewelt, die eine Gegenwelt zum Männlichkeitswahn ist): Verrücktheit wird Manana allemal attestiert. Wehe, wenn die Frau nicht «an ihrem Platz» ist… «Scary Mother» folgt Manana auf deren Weg ins Freie mit surrealer Überhöhung, vieles bleibt in der Schwebe, doch alles wird aus deren Perspektive erzählt.
Antonio One Two Three
Portugal/Brasilien 2017 (Regie: Leonardo Muramateus)
Antonio wird von seinem Vater aus der Wohnung geschmissen, als dieser durch einen anonymen Hinweis herausfindet, dass Antonio, dessen Studiengebühr er immer noch zahlt, seit langem die Technische Uni meidet. Dreisterweise wendet sich Antonio in seiner Suche nach einer Wohngelegenheit ausgerechnet an seine Exfreundin. Doch letztlich kann niemand dem Charme des sympathischen Schlitzohrs und Lebenskünstlers widerstehen, selbst seine Ex ist davor nicht gefeit…
Soviel zu dem, was wir von Antonio um dois tres (Antonio One Two Three), dem diesjährigen Siegerfilm von «Crossing Europe», gesichert wissen. Und, nicht zu vergessen: Antonio ist Teil einer Schauspieltruppe, deren Leiter Johnny, ein Nervenbündel, gemeinsam mit dem Ensemble eine Adaption von Dostojewskis Weiße Nächte vorbereitet. Da ist Improvisation gefragt und eine Szene, die im Film eben noch Handlungselement war, entpuppt sich als spontaner Einfall Antonios… Oder? Immer wieder wird in Antonio One Two Three das eben Gesehene wieder in Frage gestellt. Das Kinopublikum ist Teil des «Stückes», dessen Wahrnehmung eine der Improvisationen, die dieses benötigt.
Die Abenteuer des Lebenskünstlers und notorischen Aufschneiders Antonio, dessen Clique und deren Gefühlsskala zwischen aufgeregter Selbstdarstellung und Entspanntheit, der Müßiggang in der «Weißen Stadt» Lissabon: all dies ein leichter, immer in Schwebe gehaltener Film.
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