von Bernard Schmid
Pingpongspiel mit Menschenleben: Auf diesen kurzen Nenner lässt sich die Vorgehensweise der Regierungen verschiedener EU-Staaten im Umgang mit Migranten auf dem Mittelmeer (und anderswo) bringen. Die Tatsache als solche ist nicht neu, die Lage ist jedoch dabei sich zu radikalisieren. Die «Dublin-Vereinbarung» von 2003, die regeln soll, welcher EU-Staat für die Bearbeitung von Asylanträgen jeweils zuständig ist – ganz im Geiste der «Lastenaufteilung» –, läuft für die Staatsführungen inzwischen auf einen Verschiebebahnhof hinaus. Geht es ihnen doch vorwiegend darum, sich gegenseitig den ungeliebten Schwarzen Peter zuzuschieben.
Die Dublin-Vereinbarung wurde maßgeblich durch die Politik der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst. Diese bzw. der Bundestag hatte am 26.?Mai 1993 eine Änderung des Asylrechts im Art.?16 GG verabschiedet. Sie beinhaltete, dass alle Asylsuchenden, die über Nachbarländer in die Bundesrepublik einreisten, dorthin zurückgeschickt werden sollten, sofern den betreffenden Ländern unterstellt werden konnte, Asylverfahren durchzuführen, die internationalen Mindeststandards genügen. Dies Verfahren wurde gegenüber allen, per Land an die Bundesrepublik angrenzenden Staaten praktiziert, auch gegenüber den damals (vor 2004) noch nicht der EU angehörenden Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik. Mit der Dublin-Vereinbarung wurde dieser Mechanismus der Zuweisung von Zuständigkeiten lediglich auf die Ebene einer multilateralen Vereinbarung im Rahmen der gesamten EU gehoben.
Asylanträge bearbeiten sollen seither die jeweiligen Erst-Einreiseländern an den geografischen Rändern der EU. In der Realität schafft das Dublin-Verfahren vor allem eine Situation, in der Hunderttausende Menschen EU-weit hin- und hergeschoben werden mit der Folge, dass sie über einen längeren Zeitraum keinen Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren an ihrem Aufenthaltsort haben. So kam es zu slumähnlichen Lagern etwa rund um Paris, in denen sich bis zu 3000 Menschen aufhielten, obwohl sie mehrfach polizeilich geräumt wurden. In ihnen halten sich mehrheitlich Menschen auf, die aussichtsreiche Asylgründe vorzutragen hätten, die jedoch aufgrund der Dublin-Regel diese vorläufig nicht geltend machen können. Denn nach der Dublin-Regel muss der Aufenthaltsstaat einen Asylantrag erst bearbeiten, wenn seit seit dem Beschluss der Rückschiebund in das Ersteinreiseland sechs Monate vergangen sind – bzw. 18 Monate, wenn der Betreffende sich zwischenzeitlich dem Zugriff der Behörden entzogen hat, etwa durch Änderung seines Aufenthaltsorts.
Ein französisches Urteil
Jahre hindurch praktizierte Italien gegenüber den Migranten, für deren Asylgesuche es kraft der Dublin-Vereinbarung (und der auf ihr beruhenden EU-Verordnung von 2013) zuständig war, ein Doppelspiel. Einerseits ließ Italien die über das Mittelmeer auf Schiffen und Booten ankommenden Migranten in aller Regel relativ unbehelligt an Land kommen. Andererseits hofften die italienischen Behörden inständig – und erklärten dies den Eintreffenden auch –, dass man sie in ihrem Land bald nicht mehr sehen möge. Entsprechend wurden und werden ihnen behördlicherseits keinerlei Unterbringungsmöglichkeit, Rechtsberatung oder Ähnliches angeboten, sondern man hofft einfach auf ihre baldige Weiterfahrt.
Jüngst hat der französische Conseil d’Etat („Staatsrat“, entspricht von der Funktion her in Deutschland dem Bundesverwaltungsgericht) am 29. Mai 2018 eine Einstweilige Verfügung ausgesprochen, also ein Eilurteil, in welchem er in diesem Kontext einem sudanesischen Geflüchteten Recht gab. Dieser war über Italien ein- und nach Südwestfrankreich durchgereist. Dort wurde er jedoch aus dem Raum Tarbes/Toulouse nach Italien zurückgewiesen. Am Flughafen in Rom herrschten die Polizisten ihn an, was er denn wieder in Italien wolle, man habe ihm doch bedeutet, er solle gefälligst in Europa weiterreisen. Infolge seiner Erklärungen, wonach die Dublin-Regel an ihm exekutiert worden war, erhielt er eine Ausreiseverfügung: Innerhalb einer Woche solle er Italien verlassen, anderenfalls könne er in sein Herkunftsland – den Sudan, eine der übelsten afrikanischen Diktaturen – abgeschoben werden.
In diesem Falle sah das höchste französische Verwaltungsgericht es als erwiesen an, dass Italien ihm keinerlei Garantie für ein rechtsstaatlichen Mindestgrundsätzen genügendes Asylverfahren biete. Folglich erhielt der 26jährige Sudanese aus der Kriegsprovinz Darfur nunmehr das Recht eingeräumt, einen Asylantrag auf französischem Boden zu stellen. Dieser, für ihn positive Ausgang bildet jedoch bislang noch die absolute Ausnahme von der Regel, die dadurch möglich wurde, dass der Betreffende (in der Öffentlichkeit identifiziert als „Moussa“) schriftlich nachweisen konnte, dass ihm unmittelbar nach seiner Wiedereinreise nach Italien und ohne weitere Prüfung seiner Situation eine Ausreiseverfügung übergeben wurde. In aller Regel bleiben die Betreffenden ohne einen solchen Nachweis, man lässt sie behördlicherseits in Italien einfach vor sich hinvegetieren…
Diese Einstweilige Verfügung aus Paris ändert sicherlich nichts an den grundlegenden Regeln. Allerdings bildet sie ein Indiz neben anderen dafür, dass das „Dublin-System“ nicht in dem Sinne funktioniert, dass es einen Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewähren und lediglich einen rationalen Rahmen dafür abgeben würde. Es widerspiegelt eine Situation, in welcher die Behörden in Italien seit fünfzehn Jahren hofften, die auf „ihrem“ Territorium an Land gehenden Migranten würden alsbald das Weite suchten, die anderen EU-Staaten es jedoch an seine „Zuständigkeit“ erinnerten, bevor die zuständigen italienischen Stellen die Menschen entweder ihrem Schicksal über- oder erneut ausreisen ließen.
Die italienische Position
Der Amtsantritt der neuen italienischen Regierung, bestehend aus einer Koalition der rechtsextremen Lega mit der Fünf-Sterne-Bewegung, hat jedoch eine neue Situation geschaffen. Sie ist zum großen Angriff auf die Migrantenpräsenz im Land entschlossen. Der «starke Mann» im Kabinett, Lega-Chef und Innenminister Matteo Salvini, macht geltend, Italien habe in den letzten vier bis fünf Jahren 600.000 Migranten auf seinem Boden anstranden sehen. In Wirklichkeit hält sich ein Gutteil dieser Menschen sicher längst nicht mehr in Italien auf.
Die Regierung fordert ein Doppeltes: einerseits «europäische Solidarität bei der Lastenteilung» – dieselbe Regierung, deren Koalitionsparteien vor der Amtsübernahme noch einen Euro- oder EU-Austritt in Erwägung zogen und gerne gegen «Europa» Stimmung machten. Darauf haben Regierungen wie die polnische, ungarische oder die ebenfalls zum Teil aus Rechtsextremen bestehende österreichische, die in vielerlei Hinsicht Brüder im Geiste der Lega sind, geantwortet: Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage, wie jedenfalls nehmen niemanden auf (und Italien niemanden ab).
Andere aufstrebende Rechtskräfte ziehen bereits andere Konsequenzen aus dieser Lage. So forderte der flämische Rechtsnationalist und belgische Minister für Immigration, Theo Francken (N-VA), dessen äußerst brutale Amtsführung gegen Einwanderer auch in der belgischen Öffentlichkeit umstritten ist, in den ersten Junitagen explizit ein Push-back – also ein Zurückschicken der mit Geflüchteten einlaufenden Schiffe aufs Meer oder in Richtung Nordafrika. Das ist zwar völkerrechtlich verboten – es widerspricht unter anderem Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, da es jegliche Untersuchung eventueller Asylgründe von vornherein unterbindet –, das kümmert ihn jedoch nicht. Es sei, so der belgisch-flämische Bluthund, die logische Schlussfolgerung daraus, dass niemand die Leute wolle.
Irrfahrt
Die zweite Hälfte im Diskurs der italienischen Rechtsregierung läuft auf dasselbe hinaus. Das stellte sie erstmals am 10.?Juni 2018 unter Beweis: An diesem Sonntag verbot sie dem u.?a. von einer deutschen NGO betriebenen, zur Seenotrettung für Flüchtende auf dem Mittelmeer eingesetzten Schiff Aquarius mit 629 Menschen an Bord das Einlaufen in italienische Häfen. Die italienische Regierung forderte Malta dazu auf, das Schiff stattdessen in ihre Häfen einzulaufen zu lassen, was diese ihrerseits verweigerte.
Frankreich reagierte offiziell nicht, hat aber bereits seit Sommer 2017 den von Italien aus in See stechenden Flüchtlingsrettungsschiffen die eigenen Häfen faktisch verboten. Nach mehrtägigem zwischenstaatlichem Tauziehen konnte die Aquarius mit Einwilligung der neuen spanischen Regierung dann in Valencia einlaufen. Zwei Wochen später wurde bereits das nächste Rettungsschiff, die Lifeline, wegen des italienischen und maltesischen Anlegeverbots zum Ausharren auf offenem Meer gezwungen; inzwischen erteilte Malta Anlageerlaubnis.
Dieses Vorgehen widerspricht den internationalen Verpflichtungen, die sich für jeden Anrainerstaat aus Kapitel 3.1.9 der im Jahr 1978 in Hamburg unterzeichneten (und 1985 in Kraft getretenen) Konvention zur Seenotrettung SAR ergeben. Doch für die rechten Regierungen gilt: «Legal, illegal, scheißegal!»
Hoffen auf Libyen
Seine wahre Hoffnung setzt Matteo Salvini auf Libyen. Am 25.?Juni besuchte er die ehemalige italienische Kolonie und forderte, Lager für afrikanische Migranten und Flüchtende, die in Richtung Norden streben, «an den von Europa abgewandten Grenzen Libyens», also im Süden Libyens in der Sahara zu errichten. Zur selben Zeit brachten die Regierungen Spaniens, Frankreichs und Deutschlands als Alternative die Einrichtung «geschlossener Zentren» in Südeuropa ins Spiel. Solche Lager, die wohl den derzeit auf mehreren griechischen Inseln bestehenden Hot-spots (wie in Moria auf Lesbos) ähneln würden, sollen der Trennung in Asylberechtigte und möglichst schnell wieder abzuschiebende, «unberechtigte» Migranten dienen. Nur die Erstgenannten sollen nach ihrem Anerkennungsverfahren dann EU-weit verteilt werden.
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