Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Amerika 1. Juni 2018
Die sandinistische Revolution in der schwersten Krise ihres Bestehens
von Leo Gabriel (Managua)

Auch sechs Wochen nach dem Ausbruch der seit dem Krieg gegen die «Contras» noch nie dagewesenen Konfrontation zwischen den Sicherheitskräften der Ortega-Regierung und der neuartigen Widerstandsbewegung Movimiento 19 de Abril ist das als «sicherstes Land Zentralamerikas» bekannte Nicaragua nicht zur Ruhe gekommen.

In den verschiedenen Landesteilen und Wohlvierteln der größten Städte hat sich die Rebellion, die ursprünglich gegen die vom Präsidenten angeordnete Reform des Sozialversicherungssystems gerichtet war wie ein Lauffeuer ausgebreitet, mit dem niemand gerechnet hatte. Fragt man die seit Wochen auf den Barrikaden verharrenden Jugendlichen nach dem Grund ihres Ungemachs, kommt wie aus der Pistole geschossen ein ¡Que se vayan! (Sie sollen abhauen) als Antwort, aus dem eine tiefe und zumeist mit Hass erfüllte Frustration und Enttäuschung spricht.

Es ist vor allem die Tatsache, dass die einst so beliebte Polizei in Zusammenarbeit mit den von den teilweise bewaffneten Brigaden der Sandinistischen Jugend am Tod von inzwischen über 80 Studierenden und über zehnmal so vielen Schwerverletzten schuld sind, die die etwas Älteren – zu Recht oder Unrecht – zu einem Vergleich mit der Somoza-Diktatur hinreißen lässt.

Tatsächlich hatte auch damals die Repression (und nicht etwa die wirtschaftliche Notlage oder der systematische Wahlbetrug) dazu geführt, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Aufstandsbewegung der sandinistischen Befreiungsfront FSLN unterstützt haben. Und heute sind es auch wieder die Mütter der im Kampf Gefallenen und die mit Folterspuren aufgefundenen Leichen, die in Polizeigefängnissen verschwunden waren, welche viele Nicaraguaner zur Weißglut gebracht haben.

Verfolgt man die Befehlskette der Aufstandsbekämpfung, stößt man auf den Polizeipräsidenten Francisco «Bajito» Díaz, eines engen Verwandten von Rosario Murillo, der Vizepräsidentin und Frau des Staatschefs Daniel Ortega, der seit über zehn Jahren im Amt ist und gleich nach seiner Wiederwahl im Jahr 2007 das Verteidigungsministerium abgeschafft und sich dadurch den direkten Zugriff auf die Sicherheitskräfte verschafft hatte.

Bajito Díaz hat vor etwa drei Jahren sein Amt von der allseits beliebten Aminta Granera übernommen, einer ehemaligen Klosterschwester, die sich in der Kampfzeit gegen Somoza zu einer herausragenden Guerillakämpferin entwickelt hatte. Unter ihrer Führung wurden die nicaraguanische Polizei und ihre hauptsächlich aus Frauen bestehende Kommandostruktur wegen ihrer Volksnähe und Unkorrumpierbarkeit zum Vorbild für die Sicherheitskräfte im gesamten mittelamerikanischen Raum.

Das änderte sich mit Graneras Entmachtung durch die ehrgeizige Präsidentengattin, der viele nachsagen, sie ließe sich in ihren Entscheidungen von spiritistischen Ratgebern des afrokaribischen Santería-Kults leiten, schlagartig: bereits 2014 ließ sie einen Protest der Rentner blutig niederschlagen; 2016 folgte die nicht minder brutale Repression der Demonstrationen gegen das von der Volksrepublik China eingefädelten Projekt eines gigantischen interozeanischen Kanals; und schließlich holten sich die Aktiven einer ökologischen Bewegung gegen die Brandrodung von Indio Maíz, eines Stücks des kostbarsten Primärwalds Nicaraguas an der Grenze zu Costa Rica blutige Köpfe.

So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass in León, der zweitgrößten Universitätsstadt des Landes, ein Konflikt der Medizinstudenten mit der offiziellen sandinistischen Jugendorganisation, die Rosario Murillo seit mehr als zehn Jahren in ganz Nicaragua als Alternative zu den combatientes históricos aufgebaut hatte, aus dem Ruder lief. Der Direktor des eher sandinistenfreundlichen Regionalradios Radio Darío, Aníbal Toruño erklärte erst vor einigen Tagen, dass der für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Parteichef Filiberto Rodríguez die Radiostation in Brand stecken ließ – mit dem Ziel, die Schuld für diese Brandschatzung den aufmüpfigen Studierenden zuzuweisen.

Womit der Clan um Rosario Murillo jedoch nicht gerechnet hatte, war der Umstand, dass sich die Bilder von den Gewaltexzessen der nicaraguanischen Polizei und der mit dieser verbundenen paramilitärischen Einheiten der Juventud Sandinista durch die sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreiteten. Und so kam es, dass bald Zehntausende Studierende und ihre Sympathisanten in Managua demonstrierten, die wichtigsten Universitäten des Landes besetzten und der Kampf sogar auf den indigenen Stadtkern von Masaya übergriff, einer etwa 35 Kilometer von Managua entfernten Stadt, die heute die wichtigste Bastion des Widerstands bildet und von der sich die Polizei seit einigen Tagen völlig zurückziehen musste.

Spricht man mit den Jugendlichen, die im ganzen Land auch an den wichtigsten Durchzugsstraßen ihre Barrikaden errichtet haben, fällt auf, dass sie sich meist derselben oder ähnlicher Slogans bedienen, die die sandinistische Befreiungsbewegung vor 40 Jahren gegen die Diktatur von Anastasio Somoza von sich gegeben haben. So steht jetzt etwa auf den mit Graffiti beladenen Wänden nicht mehr Patria libre o morir (Freies Vaterland oder Sterben), sondern Patria libre para vivir (Freies Vaterland, um zu leben) geschrieben. Nur dass die «Bewegung des 19.April» im Unterschied zu damals über keine Schusswaffen verfügt, sondern nur über ein paar Rohre (im Volksmund morteros genannt) in die eine größere Menge von Schießpulver gestopft wird.

Und so stehen auch bei dem Nationalen Dialog, der seit Mitte Mai unter den Auspizien der katholischen Kirchenhierarchie in Managua stattfindet, etwa 30 Vertreter der nicaraguanischen Zivilgesellschaft (unter diesen auch die großen Unternehmerverbände und die Bauernorganisationen) den Vertretern des Regierungslagers gegenüber. Die Positionen scheinen zunächst unvereinbar zu sein: Während die Opposition den sofortigen Rücktritt des Präsidentenpaars fordert, dringt die vom Außenminister Denis Moncada angeführte Regierungsdelegation auf die sofortige Auflösung der Straßensperren im ganzen Land.

Dazwischen befindet sich der von der Alianza Civica unter der Federführung des ehemaligen sandinistischen Erziehungsministers Carlos Tunnermann entworfene und von der von den Bischöfen vorgetragene Vorschlag einer Demokratisierung der politischen Strukturen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Dieser sieht eine völlige Umgestaltung des hierarchischen Verwaltungsapparats, die Umbesetzung des unter dem Einfluss der Ortegas stehenden Wahltribunals und des Obersten Gerichtshofs unter weitestgehender Autonomie der Gemeinden sowie vorgezogene Neuwahlen vor. Dieser wurde jedoch zunächst vom Regierungssprecher, Außenminister Denis Moncada, als «untauglicher Versuch eines Staatsstreichs» abqualifiziert, womit der Nationale Dialog beinahe gescheitert wäre, was in den Augen vieler die Gefahr eines Bürgerkriegs wieder auftauchen ließ.

Tatsächlich stehen die teilweise blutigen Auseinandersetzungen zwischen der mit den sandinistischen Jugendbanden verbündeten Polizei nach wie vor auf der Tagesordnung – zuletzt an einer großen Straßensperre vor León, an der Technischen Universität in Managua und an der staatlichen Nationaluniversität UNAN.

Sollte keine der beiden lockerlassen, könnte das zu einer Implosion des gesamten Staatssystems führen, zumal der Privatunternehmerverband COSEP bereits unmittelbar vor Ausbruch der Kampfhandlungen die unheilige Allianz zwischen den oligarchischen Großfamilien und dem Ortega-Clan hat platzen lassen. Nicht uninteressant ist auch der überall spürbare Wettstreit innerhalb des sandinistischen Lagers, der dazu geführt hat, dass viele der «historischen Kämpfer» wie der ehemalige Bürgermeister von Managua Dionisio Marenco, der ehemalige Staatssicherheitschef Lenín Cerna und die beiden Exmitglieder der Nationalen Führung, Humberto Ortega und Jaime Wheelock, aus der ein Jahrzehnt dauernden Versenkung wieder aufgetaucht sind und die bis vor kurzem allmächtige Präsidentengattin Rosario Murillo öffentlich kritisieren.

Kurz: es bedürfte schon eines gewaltigen politischen Geniestreichs, um zu verhindern, dass die Revolution zwischen den einzelnen Machtblöcken inner- und außerhalb des Sandinismus nicht zerrieben wird. Und ob ein solcher dem schwerkranken Daniel Ortega noch zuzutrauen ist, ist mehr als fraglich.

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