Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Flucht/Migration 29. Juni 2018
Breitbeinig, verlogen, bösartig
von Paul Michel
Seit einigen Wochen erleben wir eine CSU-Kampagne für noch perfektere Abschottung, noch weitergehendere Entrechtung der Flüchtlinge und die Freiheit zu ungehemmter Willkür ihnen gegenüber. Vor einigen Monaten ging es um eine willkürlich definierte «Obergrenze» für die Aufnahme von Flüchtlingen. Jetzt geht es um einen vermeintlichen Masterplan des Innen- und Heimatministers Seehofer, der in weiten Teilen noch gar nicht öffentlich bekannt ist.

Die von der CSU entfachte Hysterie konzentriert sich auf den einen Punkt, ob abgelehnte und «papierlose» Flüchtlinge an deutschen Grenzen abgewiesen werden sollen. Es ist eine Phantomdebatte, in der die CSU mit allen Finessen medialer Kunst den Eindruck erweckt, als gehe es um Sein oder Nichtsein der Nation, und einen nationalen Notstand herbeiredet.

Die Zahl der Flüchtlinge, um die es dabei geht, nennt die CSU bezeichnenderweise nicht. Die ist verschwindend klein. Ganze 186.644 Menschen beantragten 2017 Asyl in der BRD. Und die Personengruppe, die Seehofer und Söder zur Bedrohung der Nation hochstilisieren, umfasst maximal etwa 60.000 Menschen.

Dass die CSU mit dieser Methode durchkommt, ist ein Ausdruck dessen, wie stark Pegida und AfD mittlerweile die politische Debatte prägen. Seither hat es sich auch in Kreisen der sog. bürgerlichen Mitte eingebürgert, die häufig erfundenen, stets bombastisch aufgeblasenen Bedrohungsfantasien wildgewordener Spießbürger als «gefühlte Bedrohung» darzustellen, die es angeblich ernst zu nehmen gelte. Ein Beispiel ist das Thema Kriminalität. Die Statistik sagt, dass 2017 im Vergleich zum Vorjahr rund 10 Prozent weniger Verbrechen erfasst wurden – der stärkste Rückgang seit mehr als 20 Jahren. Offenkundig versprechen sich die Parteien der «bürgerlichen Mitte» etwas davon, nicht das Sein, sondern das Bewusstsein, den vorurteilsgeprägten Affekt der rechten Wutbürger, zum Ausgangspunkt und Maßstab ihres politischen Handelns zu nehmen. Das ist der Boden, auf dem die AfD blühen und gedeihen kann.

In den Fußstapfen von FJS

Der CSU ist jene Art von Demagogie, die die AfD auszeichnet, nicht fremd. Sie kann an eine Kultur der Dummdreistigkeit anknüpfen, die in Bayern, der Hochburg der Bierzelte, wohl ausgeprägter ist als im Rest der Republik: großkotziges Auftreten, Lautstärke und penetrantes Wiederholen banaler Stammtischweisheiten waren schon das Erfolgsgeheimnis von Franz-Josef Strauß.

Die aktuelle Führungsriege der CSU versucht sich offenbar an seinem Remake. Mit ihrer derzeitigen Kampagne nähern sich die bayrischen Christsozialen «den Rechtspopulisten, die sie eigentlich bekämpfen» wollten, «immer weiter an,» bemerkt etwa die Zeit.  Etliche der von der CSU bemühten Leerformeln ähneln sehr der AfD-Rhetorik. Etwa in ihrem Sprachgebrauch: Der vom bayrischen Regionalfürsten Söder verwendete Begriff «Asyltourismus» ist eine sprachliche Anleihe bei der NPD und anderen Hardcore-Nazis.

Nicht nur die Landtagswahlen

Das Schüren von Ressentiments hat vor allem die Landtagswahlen in Bayern im Oktober im Blick. Vieles deutet aber darauf hin, dass es auch um mehr geht. Seehofer und Söder scheinen sich trotz sonstiger Hahnenkämpfe einig zu sein, dass jetzt der Moment gekommen ist, eine nachhaltige Schwächung der Modernisier in der CDU, für die Angela Merkel steht, zu erreichen und das Kräfteverhältnis in der Union entscheidend nach rechts zu verschieben. Die Wiedergewinnung eines explizit rechten, «konservativen» Profils für CSU und CDU ist seit Jahren auch ein Anliegen der «Stahlhelmer» in der CDU. Die Unionsparteien sollen in eine C-Partei mit AfD-Programmatik umgebaut werden.

Damit hat die CSU bereits Erfolge erzielt. Meinungsumfragen sehen in der Gesellschaft eine breite Zustimmung für Seehofer und Söder. Auch viele CDU-Abgeordnete sollen Sympathien für Seehofer haben. Offenkundig ist Merkels Autorität in der CDU angeschlagen. Es ist durchaus vorstellbar, dass es Söder und Seehofer gelingt, einen Sturz von Merkel herbeizuführen. Im Endergebnis wird auf alle Fälle die Verrohung des öffentlichen Diskurses, die Barbarisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft weiter vorangetrieben. Wenig spricht dafür, dass es Söder und Seehofer gelingt, damit die AfD zu marginalisieren. Nach einer Forsa-Umfrage vom 16.?Juni hat die Union seit Ausbruch des Streits um Seehofers «Masterplan» bundesweit 4 Prozentpunkte verloren und kommt nur noch auf 30 Prozent. Nach einer anderen Umfrage des Instituts Civey vom 8.?Juni erreicht die CSU bei den bayrischen Landtagswahlen 41 Prozent – ein Rückgang von 3,5 Prozentpunkten in den letzten zwei Monaten. Die AfD konnte im gleichen Zeitraum um 1,5 Prozent zulegen und ist mit 13,5 Prozent in Bayern noch vor der SPD zweitstärkste Kraft.

Solidarität mit Merkel?

Heißt das für Linke, dass wir uns vor Merkel stellen sollten? Gewiss nicht. Die Kanzlerin steht für alles andere als einen humanen Umgang mit Flüchtlingen. Sie hat in der Vergangenheit eine Politik der systematischen Asylrechtsverschärfung betrieben und tritt auch gegenwärtig für eine Verschärfung der Abschottungspolitik ein. Sie will die europäische Grenzschutzorganisation Frontex weiter stärken. Und sie will, wie Seehofer und Söder, Internierungslager für Flüchtlinge in Libyen, obwohl das Auswärtige Amt den libyschen Flüchtlingslagern noch vor wenigen Monaten in einem durchgesickerten geheimen Bericht «KZ-ähnliche Zustände» attestierte. Merkel hat betont, sie könne 62 von 63 Punkten von Seehofers «Masterplan» für Abschottung und Abschiebung unterstützen.

Sie ist für «Ankerzentren», in denen Flüchtlinge bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in großen Lagern, isoliert von der Bevölkerung, festgehalten werden sollen. Sie unterstützt die von Seehofer vorgeschlagenen Kürzungen bei den Asylleistungen, ihren Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt und höhere Hürden für staatliche Integrationsmaßnahmen. Sie hat nicht einmal grundsätzlich etwas gegen die Zurückweisung von Flüchtlingen, deren Daten schon in anderen EU-Staaten erfasst wurden. Sie will lediglich vorher bilaterale oder multilaterale Verträge mit den anderen EU-Staaten abschließen, damit gewährleistet ist, dass diese abgewiesene Flüchtlinge auch zurücknehmen.

Solidarität statt Hetze

Die konkrete Lebenssituation von Flüchtlingen ist hingegen kaum ein Thema. Der Umgang mit ihnen wird immer menschenverachtender. Als neuer Chef des Bundesamts für Migration und Flucht (BAMF) ist Hans-Eckhard Sommer eingesetzt worden, ein notorischen Hardliner aus dem bayrischen Innenministerium. Das lässt befürchten, dass der Druck auf die BAMF-Mitarbeiter wächst, Ablehnungsbescheide zu produzieren. Es reicht nicht mehr, gegen Großveranstaltungen der AfD zu demonstrieren, während die CSU (und Teile der CDU) deren Vorgaben übernehmen.

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