Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2018
DIE LINKE ist mit aktueller Radikalisierung ihres Pro-Israel-Kurses endgültig im ­deutschen Nationalkonsens aufgegangen
Gespräch mit Moshe Zuckermann*

Das Projekt Kritische Aufklärung (PKA) sprach mit dem israelischen Marxisten Moshe Zuckermann über den Antisemitismus-Antrag der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Wir veröffentlichen Auszüge.

 

PKA: DIE LINKE zündet ein großes Feuerwerk zum 70.Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Es «blickt heute mit Stolz auf 70 Jahre Demokratie mit einer lebendigen und pluralistischen Zivilgesellschaft», heißt es in einen Antrag «70 Jahre Staat Israel», den die Fraktion der LINKEN zusammen mit den Grünen in den Bundestag eingebracht hat.¹ Fraktionschef Dietmar Bartsch mahnte die Deutschen zur Israelsolidarität und begründete seine Forderung mit der «moralischen Pflicht, alles zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederholt». Wie kommt so ein Gebaren bei Ihnen als jüdischem linken Israeli an?

 

MZ: Solche Aussagen kommen mir vor wie der Versuch von Deutschen, sich an den ideologischen Vorgaben der israelischen Propaganda zu orientieren. Was meinen diese Menschen, wenn sie im Zusammenhang von Israel von «Demokratie» reden? Was für ein Israel meinen sie, wenn sie «Solidarität» mit ihm anmahnen? Und was hat das mit dem Postulat zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederhole? Hier manifestieren sich deutschbefindliche Vermessenheiten.

Realität in Israel ist, dass die Regierungskoalition dabei ist, die Grundfesten der Demokratie zu demontieren: Der Oberste Gerichtshof wird attackiert, um die Judikative der Exekutive gefügig zu machen. Das Erziehungsministerium, in der Hand der Nationalreligiösen Partei, ist bestrebt, das gesamte Bildungswesen immer mehr religiösen Vorgaben unterzuordnen. Miri Regev, die Kulturministerin, eine erklärte Faschistin, ist vor allem damit befasst, sich bei Netanyahu und seiner Frau einzuschleimen. Fremdenhass, ethnisches Ressentiment und Rassismus bestimmen in vielerlei Hinsicht den Alltagsdiskurs. Das Militär, in Avigdor Liebermans Händen, schießt auf unbewaffnete Palästinenser.

Israel ist ein Land, das seit über 50 Jahren ein brutales Okkupationsregime unterhält, mit dem es das palästinensische Volk knechtet, und mit einem riesigen Siedlungswerk permanent völkerrechtswidrige Expansion betreibt. Das ist keine Demokratie. Das ist keine Zivilgesellschaft. Das ist ein Land, das jedes Recht verwirkt hat, sich noch auf die «Lehren von Auschwitz» zu berufen.

 

PKA: Das könnten Sie in der LINKEN nicht sagen, ohne zumindest von der Parteichefin Katja Kipping der Anwendung «doppelter Standards» und damit mehr oder weniger direkt des Antisemitismus angeklagt zu werden. Dabei rekurrieren Kipping & Co., ohne die Quelle explizit zu nennen, auf den umstrittenen «3-D-Test für Antisemitismus» des rechtsgerichteten ehemaligen israelischen Vizeministerpräsidenten Natan Scharanski². Laut diesem «Test» ist Antisemit, wer Israel anders als andere Staaten behandelt und selektiv für ein Verhalten kritisiert, das bei anderen Staaten ignoriert wird. Folgt man dieser Logik, kann man kaum eine negative Aussage über die Netanyahu-Regierung machen, ohne gleichzeitig alle Missstände in anderen Ländern anzuprangern. Auf der Basis einer manipulativen Gleichsetzung von Judentum mit Israel macht die LINKE-Parteispitze seit Jahren mit dem Vorwurf des «doppelten Standards» jede nach links abweichende Meinung nieder. Dietmar Bartsch hat in seiner Geburtstagsrede das, was in seiner Partei noch an «Kritik» übrig geblieben ist, gut auf den Punkt gebracht: Er sei zwar mit einigen «politischen Entscheidungen Israels» nicht einverstanden. «Aber als deutscher Staatsbürger, demokratischer und linker Politiker ist es nicht meine Aufgabe, Israel zu belehren.» Immerhin konnte er sich noch zu der Aussage durchringen: «Die Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen einen eigenen Staat.»

 

MZ: Wenn man sich als Linker Scharanski zum Maßstab der Definition von Antisemitismus wählt, dann führt man die Emanzipationsagenda ad absurdum. Scharanski bezog sein politisches Kapital aus einem im Westen im Kontext des Kalten Krieges gefeierten Dissidententum gegen die Sowjetunion. In Israel angekommen, schloss er sich (wie die meisten Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR) sogleich dem rechten nationalistischen Lager an. Als Vorsitzender der Jewish Agency, eine Position, die es ihm ermöglicht hat, viel im Ausland zu weilen und ab einem bestimmten Zeitpunkt sich aus der israelischen Tagespolitik herauszuhalten, war ihm das Doppelpack Hasbara plus Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs raison d’être seines Jobs. Wahrlich kein Grund, sich an ihm im Hinblick auf Antisemitismus-Bekämpfung zu orientieren. Aber es geht primär um das Besatzungsregime, das Israels Politik bestimmt. Hier müsste linke Kritik ansetzen.

 

PKA: Im LINKEN-Antrag «70 Jahre Staat Israel» wird auch die Forderung an die Bundesregierung erhoben, dieses Israel als nichtständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat zu hieven, seine Interessen in «internationalen Organisationen» zu vertreten, die Palästinensische Autonomiebehörde unter Druck zu setzen, keine «Märtyrerrenten für Familien von Terroristen» mit deutschen und europäischen Geldern zu finanzieren. Bedenkt man, dass jeder Palästinenser, der heute auch nur in völlig gewaltloser Weise von seinem Selbstverteidigungsrecht gegen die Willkürherrschaft des israelischen Militärs und der rechtsradikalen Siedler Gebrauch macht, als «Terrorist» gebrandmarkt wird, dann kann man sich vorstellen, was das heißt.

Wichtig ist aber vor allem, dass die LINKE von Merkel fordert, «weiterhin» für die «Sicherheitsinteressen des Staates Israel als einem zentralen Prinzip der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik aktiv einzutreten», bezogen auf ein Israel in den Grenzen von 1967 (die aber gar nicht existieren). Das heißt, die LINKE will, dass die bisherige Israelpolitik der Großen Koalition weitergeht. Das wiederum bedeutet praktisch: von der Zwei-Staaten-Lösung reden, aber keinen Finger dafür krumm machen, dass sie durchgesetzt wird; lieber Rüstungsexporte in ein Krisengebiet; enge Kooperation zwischen der Bundeswehr und dem israelischen Militär; Abnicken der Belagerung und des Aushungerns von Gaza, inkl. Schießbefehl gegen unbewaffnete Zivilisten, auch Kinder etc.

Ferner verlangt die LINKE in ihrem Antrag, dass «schnellstmöglich die weiteren Forderungen aus dem interfraktionellen Beschluss zur Bekämpfung des Antisemitismus» umgesetzt werden sollen. Gemeint ist die von CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen und AfD am 17.1.2018 verabschiedete Resolution «Antisemitismus entschlossen bekämpfen». Die LINKE hatte sich damals der Stimme enthalten. Aber nach eigenen Angaben vor allem deshalb, weil die antragstellenden Parteien sie von einer Mitwirkung ausgeschlossen. Die Resolution enthält u.a. die Forderung nach Bekämpfung der BDS-Kampagne, mit der dringenden Empfehlung an die Justiz zu prüfen, ob diese zivilgesellschaftliche Kampagne nicht als «Volksverhetzung» geahndet werden kann. Das heißt, die Fraktion der LINKEN befürwortet eine juristische Gleichsetzung von Boykottaufrufen gegen Israel mit der Leugnung des Holocaust und somit die Kriminalisierung des BDS.

Und das ist noch nicht alles. Der Beschluss verlangt auch die Anwendung eines Sonderrechts gegen «Ausländer», die zu «antisemitischem Hass» aufrufen. Da die Antragsteller bekanntlich nicht nur Judenfeindlichkeit, sondern auch Zionismuskritik und Kritik an der Netanyahu-Politik als «Antisemitismus» definieren, wird damit die Meinungsfreiheit von Flüchtlingen und anderen Migranten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus massiv eingeschränkt. Wer nicht spurt, dem droht künftig die Ausweisung. Zunächst hatte die LINKE-Fraktion wenigstens noch in diesem einen Punkt Bedenken geäußert. Mit ihrem «70 Jahre Staat Israel»-Antrag wurden nun aber offenbar auch noch die letzten Skrupel über Bord geworfen, denn er enthält keinen einzigen Einwand mehr gegen diese unsägliche «Antisemitismus entschlossen bekämpfen»-Resolution. Damit hat sich die LINKE zu den Abschiebeparteien gesellt.

Berücksichtigt man dann noch, dass die LINKE-Fraktion und -Parteiführung die Antisemitismus-Definition von der Bundesregierung und den anderen bürgerlichen rechten Parteien übernommen hat, wird klar, dass ihre Forderung nach offensiver Bekämpfung von Judenhass nicht zuletzt als Kampfansage an die nichtzionistische jüdisch-israelische und nahezu die gesamte internationalistische Linke zu lesen ist. Denn mit ihrer rechten Israel-Politik und der demagogischen Antisemitismus-Definition, die sie sich zu eigen gemacht hat, stigmatisiert die LINKE-Fraktion nicht nur Millionen von Palästinensern und ultraorthodoxen Juden, die Israel aus religiösen Gründen ablehnen, sondern stempelt auch renommierte jüdische Intellektuelle, beispielsweise Judith Butler und Naomi Klein, sowie internationale Linke wie Angela Davis und Ken Loach als «Antisemiten» und «Rechtsextremisten» ab.

Welche Folgen kann es perspektivisch für die Aufarbeitung deutscher Vergangenheit haben, wenn der Aufruf zum Boykott israelischer Waren mit Holocaust-Leugnung und anderen Straftatbeständen rechter Volkverhetzung auf ein Stufe gestellt wird, wie es CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne, AfD und nun auch DIE LINKE anregen?

 

MZ: Ich glaube, mit Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit hat das, was gegenwärtig in Deutschland abläuft, nichts mehr zu tun. Ich würde da eher von Hitlers verlängertem Arm sprechen. Anstatt sich sachlich und rational mit vorhandenem Rassismus, Fremdenhass und Antisemitismus auseinanderzusetzen, werden unappetitliche Erscheinungen aufgebauscht, als ginge es um die Heraufkunft eines Vierten Reiches ? um mit diesem Popanz politisch-ideologische Ziele zu verfolgen.

 

PKA: Es regt sich ja nicht einmal Protest gegen die sich stetig vergrößernde nach rechts offene Flanke der radikalen Israelsolidarisierer unter den LINKEN-Politikern, die seit Jahren mit «antideutschen» Bellizisten und Islamhassern an einem Strang ziehen. Ein Beispiel ist Petra Pau, die mit neokonservativen Kriegshetzern und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) kooperiert.

Diese Netanyahu-Lobby-Organisation hatte noch nie etwas mit Friedenspolitik und den fortschrittlichen Kräften in Israel am Hut, aber in den vergangenen Jahren ist sie gefährlich nach rechts abgerutscht. Offiziell distanziert sie sich von Gaulands Truppe, aber wie selbst die Jüdische Allgemeine berichtet, sind AfDler in der DIG aktiv.

Pau hat auch keine Probleme mit dem kürzlich ernannten Antisemitismusbeauftragen der Bundesregierung: Felix Klein fand sich am israelischen Gedenktag für die Gefallenen und Terroropfer, einige Tage vor seinem offiziellen Amtsantritt, an der Spitze eines von einer an die «Mächte der Finsternis» glaubende, evangelikal-charismatischen Sekte initiierten «Marsch des Lebens». Statt diese Ungeheuerlichkeit zu skandalisieren, fiel Petra Pau nichts anderes ein als sie zu beschweigen und den Antisemitismusbeauftragen zu loben: «Ich schätze den neuen Amtsinhaber Felix Klein sehr», sagte sie rund eine Woche nach dessen peinlichen Auftritt in einem Interview.

Abgeordnete der Globke-Partei trugen im Bundestag an einem verabredeten Aktionstag gegen Antisemitismus in Deutschland die Kippa, bei Kundgebungen auch Vertreter der anderen etablierten Parteien, auch LINKE-Politiker, wie Berlins Kultursenator Klaus Lederer und Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow mussten unbedingt dabei sein. Und natürlich wollte auch die AfD nicht nachstehen – mit dem Ergebnis, dass auch Faschisten und andere Rechtsradikale die Kippa spazieren trugen. Wie erleben Sie solche Demonstrationen eines neuerdings entdeckten rechtsradikal-linken deutschen Konsenses gegen Antisemitismus – was ist davon zu halten?

 

MZ: Wie ich das erlebe? Ich war bei der «Deutschland trägt Kippa»-Aktion so peinlich berührt wie schon lange nicht mehr. Es bedarf nur einer opportunen gesellschaftlichen oder politischen Stimmungswende, damit der Philo- in einen Antisemitismus zurückfällt. Wissen die deutschen Kippaträger denn nicht, dass die Kippa eine religiöse Kopfbedeckung ist? Wissen sie nicht, dass die allermeisten Juden auf der Welt, einschließlich vieler in Israel lebender Juden, keine Kippa tragen, weil sie eben ein religiöses Bekenntnis indiziert? Und wissen diese Leute nicht, dass es verschiedene Kippot gibt – etwa die schwarze Kippa, welche orthodoxe, mithin nicht- bzw. antizionistische Juden tragen? Oder die gehäkelte Kippa, das Erkennungsmerkmal nationalreligiöser Juden, u.a. Hauptträger des Siedlerkontigents im Westjordanland – hat man sich etwa mit der Aktion auch zu ihnen bekannt? [Bodo Ramelow trug die gehäkelte Kippa.] Wie kommen Nichtjuden dazu, jüdische Menschen mittels der Verwendung eines Utensils aufs Religiöse zu reduzieren?…

13.Mai 2018

 

* Quelle: http://projektkritischeaufklaerung.de/de/verwirkte-relevanz/ .

 

1 Antrag DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen vom 25.4.2018: 70 Jahre Staat Israel, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/018/1901850.pdf, S.1f.

2 Jedenfalls können sie sich nicht auf die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) berufen, denn darin ist nicht die Rede von «doppelten Standards», Israel wird gar nicht erwähnt. Erst in einer von der deutschen Bundesregierung ergänzten und damit verfälschten Fassung der IHRA-Definition findet sich der Satz: «Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.»

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