von Thomas Goes
Vor einigen Wochen telefonierte ich mit einem italienischen Freund über Potere al Popolo, einem neuen politischen Bündnis der radikalen Linken in Italien. Als wir im Laufe des Gesprächs auf das Konzept der «poder popular», also Volksmacht, kamen, scherzte er. Um in Deutschland keinem Linken weh zu tun, müsse man das «Leutemacht» nennen. Tatsächlich übersetzen viele Linke Potere al Popolo als «Macht den ArbeiterInnen». Volk, das geht nicht – Volk, das ist rechts.
Das Volk und die Linke
Das ist ein politischer Fehler. «Das Volk» sollte, klassenpolitisch gefüllt, für unsere Politik eine zentrale Rolle spielen. Das hat drei Gründe.
Der erste liegt im «Arbeiterpopulismus». Insbesondere in den unteren Teilen der Arbeiterklasse identifizieren sich die Menschen mit «den einfachen Leuten», «dem kleinen Volk», häufig synonym verwendet als soziales Unten, dem Mächtige und Wohlhabende gegenüberstehen. Daran ist anzuknüpfen, wenngleich wir gegen die mitschwingende Selbstverachtung, die in solchen Selbstbeschreibungen enthalten ist, zu arbeiten hätten. Übergehen wir sie, dann vergeben wir die Chance Brücken nach links zu bauen und zur (Selbst-)Erkenntnis beizutragen.
Zweitens ist es das «Volk», das demokratische Ansprüche stellt. In bürgerlichen Gesellschaften soll es, zumindest dem Namen nach, das Volk sein, das herrscht. Der Demos ist das Volk, Kratos die Macht. Selbst in parlamentarischen Demokratien, die der Macht des Volkes ein Repräsentationssystem gegenüberstellen, lebt dieser Anspruch weiter. Danach gefragt, wie sie auf den Namen gekommen sind, antwortet die Sprecherin von Potere al Popolo, Viola Carofalo, auch nur knapp: «Potere al Popolo ist ein anderes Wort für Demokratie.» Wir sollten dieses demokratische Begehren befeuern und dabei mitwirken, daraus Forderungen nach «Klassenmacht von unten» zu entwickeln – nach Kontrolle über das eigene Leben, nach Aneignung der Produktionsmittel und nach neuen demokratischen Einrichtungen, in denen, wie es die Zapatisten sagen, durch die und gehorsam gegenüber den Massen regiert wird.
Bürgerliche Gesellschaften polarisieren sich in zwei Hauptklassen, zwischen ihnen existiert heute allerdings ein traditionelles und lohnabhängiges Kleinbürgertum. Die buntscheckige Arbeiterklasse kann sich zwar nur selbst befreien, sie braucht dafür aber, drittens, das Bündnis mit diesen anderen subalternen Klassen. «Das Volk» wäre – in einer marxistischen Tradition – das Bündnis der Unterdrückten, der buntscheckigen Arbeiterklasse mit dem Kleinbürgertum. Entstehen kann es aus Kämpfen für soziale Interessen, gegen Klassenherrschaft, Patriarchat und Rassismus, für Frieden und den Schutz unserer Umwelt.
Das Volk entsteht im Kampf
Im Namen des Volkes wurden Massenmorde begangen und demokratische Revolten entfacht. Wir kennen deshalb den Unterschied zwischen «Wir sind das Volk» und «Wir sind ein Volk». Es gibt mehrere mögliche «Völker», die politisch in kleinen und großen Mobilisierungen geschaffen werden. Es kann das Volk-Nation, das «Volk der Rechten», oder das Volk-Klasse, das «Volk der Linken» sein. Abhängig ist das davon, welche Gemeinsamkeiten politisch entwickelt und vermittelt werden (Glaube und Kultur? das Interesse an sozialer Sicherheit und Familien- und Freizeit?), und von wem sich abgegrenzt wird. Das kann die Bevölkerung eines Nachbarlands sein, es kann eine andere Sprachgemeinschaft oder es können die Besitzenden und Mächtigen sein.
Das «Volk der Linken» hat nichts mit Herkommen, Kultur oder gar erfundenen Ethnien zu tun, es ist keine «vorgestellte Gemeinschaft» wie die Nation. Es stimmt, in der herrschenden Ideologie wird Volk als Staatsvolk mit der Nation identifiziert – eine Ideologie, die praktisch durchgesetzt wird, etwa im Schulunterricht oder durch museale Erinnerungspolitik. Wo das so ist, vereint es auf der Basis vorgestellter gemeinsamer Geschichte und Tradition, grenzt andere aus. Das ist das «Volk der Rechten», in dem Klassenunterschiede, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse verwischt werden. Dieses Volk ist aufgrund einer erfundenen Tradition, hergeleitet über Kultur oder Blut, «immer schon da».
«Das Volk der Linken» entsteht dagegen im Kampf – im Kampf gegen das Oben, gegen die Ausbeuterklasse und deren politische Handlanger innerhalb des kapitalistischen Staates. Dieses mögliche «Volk der Linken» ist zwingend postnational, oder es wird nicht sein. Zu ihm gehören alle, die hier leben und auf ein besseres Leben hoffen – ob mit oder ohne deutschen Pass.
Es ist daher mehr als eine politische Geschmackssache, ob Linke «Volk» in den Mund nehmen wollen oder nicht. Dieses «Volk der Linken» sollte ein zentrales strategisches Konzept sein, das zu schaffende Bündnis der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen, der diskriminierten und ausgegrenzten Menschen.
Von Volk und Volksgemeinschaft
Gegen den Gebrauch des Volksbegriffs gibt es für gewöhnlich zwei starke Einwände.
Der erste lautet, «Volk» sei in Deutschland unweigerlich mit der faschistischen Volksgemeinschaft verbunden. Um diesem Einwand zu begegnen, reicht es nicht aus darauf hinzuweisen, dass sich in der Nachkriegsgeschichte AntifaschistInnen durchaus auf «das Volk» bezogen haben, etwa in der kurzen Volksdemokratiephase der DDR – oder in der Bundesrepublik die SPD unter ihrem Volkstribun Kurt Schumacher. Wichtiger ist es, sich mit dem Inhalt bzw. dem Gehalt der Volksgemeinschaft auseinanderzusetzen, wie sie auch heute noch von der Rechten propagiert wird.
Die Volksgemeinschaft war ein hegemoniepolitisches Mittel der NSDAP gegen die marxistische Klassenbewegung, u.a. sollte es dazu dienen, Arbeiter- und Mittelklassen auf nationaler Grundlage für sich zu gewinnen. Sehr wichtig war und ist dafür die radikale Ausweitung des Arbeiterbegriffs. Arbeiter waren für die Faschisten nicht nur die vom Kapital ausgebeuteten Menschen, sondern auch leitende Angestellte, Beschäftigte der Staatsbürokratie und industrielle Unternehmer. Sie alle wurden als «Arbeiter der Stirn» bezeichnet, der in der Volksgemeinschaft gemeinsam mit dem «Arbeiter der Faust» harmonisch leisten sollte. Dieser Volksgemeinschaft, die auf der Basis von Leistung hierarchisiert sein sollte, trat das ausbeuterische Finanzkapital bzw. das Finanzjudentum gegenüber. Nicht die Kritik des Finanzkapitals an sich war insofern charakteristisch für den Faschismus, sondern die Leugnung der Klassenverhältnisse und die antisemitische Verbindung von Finanzkapital und Judentum.
«Das Volk der Linken» ist das genaue Gegenteil, weil es nicht die Leugnung der Klassenverhältnisse, sondern den Kampf gegen die Erscheinungsformen der Klassenausbeutung zum Ausgangspunkt hat. Wo es entsteht, verbindet es die vielfältige Arbeiterklasse und die fortschrittlichen, der Arbeiterklasse zugeneigten Teile des Kleinbürgertums gegen das Kapital und dessen politische Eliten. «Das Volk» ist dann der Gegner des «Blocks an der Macht‘» dem Bündnis aus Mittel- und Großkapital, in dem unter heutigen Bedingungen eine Fraktion des Monopolkapitals führt. Zu diesem Volk können deshalb Lisa, die als Solo-Selbständige Verbände berät, Serdar, der einen Kiosk betreibt, Michaela, die bei REWE arbeitet, Zofia, die ohne deutschen Pass in der heimischen Altenpflege sorgt und Manfred, der Schweine zerlegt, dazugehören – nicht aber die milliardenschweren Familien Quandt und Schaeffler und ihre politischen Handlanger, wie etwa Alice Weidel, Olaf Scholz oder Christian Lindner.
Volk vs. Arbeiterklasse?
Aber, so lautet der zweite Einwand, ein solches strategisches Konzept «Volk» brauchen wir doch gar nicht. Ist das traditionelle Kleinbürgertum nicht verschwindend klein? Und sind nicht sowieso alle, die abhängig beschäftigt werden, Teil einer großen Arbeiterklasse? Lautet die Antwort auf die Frage nach den Bündnisaufgaben deshalb nicht schlicht «Einheit der Arbeiterklasse»?
Nein. Nicht alle, die keine Produktionsmittel besitzen, gehören – im marxistischen Sinne – zur Arbeiterklasse, deren Angehörige nicht nur ihre Arbeitskraft verkaufen, sondern auch durch Kapital ausgebeutet werden. Entscheidend ist außerdem nicht die Stellung zu den Produktionsmitteln allein, sondern in erster Linie die Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn es gibt nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische und ideologische Arbeitsteilung. Sie liegt der Herausbildung von Apparaten zugrunde, die Herrschaft über und Integration der Arbeiterklasse organisieren und so zur Reproduktion der Klassenverhältnisse beitragen.
Im wesentlichen sind das bürokratische Herrschaftsapparate in den Unternehmen und der kapitalistische Staat selbst. Beide wurden bereits in der imperialistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus in den westlichen Zentren stark ausgebaut, im Spätkapitalismus nach 1945 nahm diese Entwicklung aber nochmal an Fahrt auf, wodurch bestimmte (neue) Beschäftigtengruppen an größerem Gewicht gewannen: zum Beispiel untere ManagerInnen, leitende Angestellte, LehrerInnen, Verwaltungsbeamte oder wissenschaftliche MitarbeiterInnen. Selbstverständlich sind die Lohnabhängigen, die in diesen Apparaten arbeiten, auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen. Dennoch haben sie eine eigene Klassenlage.
Mit all diesen Beschäftigtengruppen kann es, weil sie lohnabhängig sind, Bündnisse geben. Deshalb ist es etwa sehr wichtig, LehrerInnen oder (oft prekäre) wissenschaftliche MitarbeiterInnen an Hochschulen gewerkschaftlich zu organisieren – das ist nicht nur aufgrund der zum Teil hochgradig belastenden oder unsicheren Arbeitsbedingungen möglich, sondern auch weil Beschäftigte in diesen Apparaten gegen ihre eigentliche Aufgabe rebellieren können, etwa als kritische Polizisten, als kritische WissenschaftlerInnen, als kritische SozialarbeiterInnen, als demokratische LehrerInnen. Die eigenständige Klassenlage ist dennoch zu betonen. Nicht, um diese Gruppen als urbane hippe Milieus oder «kleinbürgerlich» rechts liegen zu lassen; sondern um sie gezielt für die Linke zu gewinnen, ohne grundlegende mögliche Widersprüche zwischen den Bündnispartnern zu ignorieren.
Das Volk: Der postnationale «Rest von uns»
Die popularen Klassen, aus denen «das Volk» entstehen kann, sind «der Rest von uns», wie Jodi Dean es nennt. Es sind die vielen, die nicht Teil der Ausbeuterklassen und ihrer politischen Eliten sind – die von postdemokratischer Macht- und Reichtumskonzentration Ausgeschlossenen, die der neoliberalen Oligarchie gegenüberstehen, ohne aber bereits geeint zu sein.
Es ist zwingend ein postnationales Volk, von dem Panagiotis Sotiris schreibt, es umfasse alle, die auf einem Territorium leben, ausgebeutet werden und sich wehren, egal ob hier geboren oder hergekommen, egal ob mit oder ohne deutschen Pass. Es ist das «mögliche Volk», das aber erst im Kampf entsteht und mögliche Spaltungslinien überwindet. Im globalen Kapitalismus führt jede Identifizierung des Volkes mit dem Staat und der Nation in eine Sackgasse, weil sie trennt, was zu verbinden wäre. Nicht die Herkunft, sondern die untergeordnete Lage innerhalb der Akkumulation des neoliberalen Kapitalismus, nicht die Abstammung, sondern die möglicherweise aus Kämpfen hervorgehende gemeinsame Zukunft ist, was verbindend wirkt.
Dafür braucht es Organisierung von unten, soziale Bewegungen, die auch klassenverbindend sind (geschichtlich etwa die Frauen- und Anti-AKW-Bewegung, neuerdings etwa Blockupy oder die Platzbesetzungen in Spanien) und eine Politik der Linken, die Brücken baut und Mauern niederreißt, anstatt Gräben zu vertiefen (etwa, indem Menschen mit deutschem Pass gegenüber solchen ohne diesen bevorzugt werden). Durch die vielen molekularen Kämpfe, die Lernschritte nach Niederlagen, durch das Reiben aneinander und die großen Mobilisierungen, setzt «das Volk» einen tiefen Spalt in den politischen Raum. Den Spalt zwischen den Vielen, «dem Rest von uns», den 99 Prozent als möglichen MacherInnen einer radikaldemokratischen Volksmacht, gegen den «Block an der Macht», gegen die neoliberalen Oligarchen, gegen die 1 Prozent: Lisa, Michaela, Serdar, Zofia und Manfred gegen die Schaefflers, Quandts und Alice Weidels dieser Welt.
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