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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2018

Zum 90. Geburtstag von Ernesto Guevara
von Antonio Moscato*

Nachdem die Welle der Veröffentlichungen, die nach Jahren des Vergessens eine Lücke gefüllt hatte, wieder abgeebbt ist, ist es möglich und notwendig, Ernesto Guevara (1928–1967) außerhalb vom Mythos und der Rhetorik vom «heroischen Guerrillero» zu stellen. Nachdem sich der Nebel von Veröffentlichungen aus dritter Hand gelichtet hat, bleiben einige große Biografien, die Ergebnis wirklicher Arbeit sind und aus denen wegen ihrer Vollständigkeit diejenige von Paco Ignacio Taibo II herausragt, der die vielen Beziehungen zu engen Mitarbeitern des Che ausnutzen konnte, welche er in seinen früheren Arbeiten über Santa Clara und den Kongo geknüpft hatte.

 

1  Zu den Umständen von Guevaras Tod bleibt wenig zu klären: Ob der Befehl, ihn zu töten, von Washington oder La Paz ausging, hat wenig Bedeutung. Vielen war daran gelegen zu verhindern, dass er in einem öffentlichen Prozess die Gründe für seine Entscheidung darlegen konnte. Klärungsbedürftig bleiben jedoch die Gründe für die Einsamkeit des Che in seinen letzten sechs Monaten: ohne Medizin, ohne Funkkontakt, um die Verbindung zur zweiten Kolonne aufrechtzuerhalten; ohne dass versucht worden wäre, wie dies im Fall anderer Guerillakerne in diesen Jahren gemacht wurde, ihm mit den Örtlichkeiten vertraute Bolivianer zuzuführen, um ihm zu helfen, aus dieser feindseligen Region hinauszugelangen.

 

2  Ein weiteres entscheidendes Element ist im Dunkeln geblieben: Warum hat der Che Kuba verlassen, das er liebte und wo er sehr geliebt wurde? Allerdings klärt sich das leicht, wenn man seine Bilanz des Kongo­unternehmens heranzieht, die erst 1994 weltweit veröffentlicht wurde – außer in Kuba, wo sie erst fünf Jahre später erschien. Daraus geht hervor, dass Guevara sich diesem Unternehmen – das bereits von anderen angebahnt worden war – anschließen musste, nachdem er die «sozialistischen Länder» als Komplizen des Imperialismus kritisiert hatte – das war unvermeidlich öffentlich geworden, da er diese Äußerungen in Algier getan hatte. Sie waren explizit genug, um den Zorn Moskaus zu entfachen, wie auch Raúl Castro bei seiner Anklage gegen die [stalinistische] «Mikrofraktion» von Aníbal Escalante zugab.

Auch das bolivianische Unternehmen war keine persönliche Initiative des Che: Mit ihm waren mehrere Mitglieder des ZK der KP Kubas nach Bolivien gegangen. Es bleibt höchstens zu klären, warum in beiden Fällen die von den kubanischen Diensten gesammelten Informationen so wenig fundiert waren: im Kongo waren sie um mindestens sechs Monate veraltet, in Bolivien ganz und gar unzutreffend.

 

3  Auch wenn Guevara nicht zur Bereicherung des Marxismus beigetragen hat wie Lenin, Luxemburg oder Trotzki, erscheint er zu Recht als ein Gigant im Vergleich zum größten Teil der Führer der kommunistischen oder sozialistischen Parteien seiner Epoche, denn er hat einige einfache Grundwahrheiten des Marxismus «wiederentdeckt», die vergessen oder verborgen worden waren: die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der kommunistischen Partei; die Ablehnung der Klassenzusammenarbeit; die Selbstorganisation des Proletariats; den Internationalismus. Das war schwierig in einer Epoche, in der in allen KPs die Klassiker des Marxismus mit Hilfe der aus dem Russischen übersetzten «Kurzen Lehrgänge» studiert wurden, was gewährleistete, dass sie als Glaubenssätze rezipiert wurden.

Deshalb hatte Che, ohne allzuviele Polemiken, ein Kuba verlassen müssen, das in vielen Bereichen begann, sich dem sowjetischen Stil anzupassen, einschließlich der «doppelten Wahrheit». Die kubanische Führungsgruppe war, um in einer feindlichen Welt zu überleben, und nicht nur infolge sowjetischen Drucks, dabei einen Weg einzuschlagen, der sie in wenigen Jahren dazu brachte, zu den Irrtümern und Verbrechen «befreundeter» Regierungen zu schweigen. So wurde das Massaker auf dem Tlatelolco-Platz in Mexiko-Stadt 1968 von der kubanischen Presse ignoriert, kaum ein Jahr nach dem Tod des Che. Aber auch über die Illusionen Salvador Allendes hinsichtlich der Vermeidbarkeit einer bewaffneten Verteidigung im Fall einer Verschärfung des Konflikts wurde geschwiegen.

 

4  Ein großes Verdienst des Che ist das frühzeitige Verständnis der schleichenden Krise der UdSSR und der Länder, die ihrem Modell zu folgen hatten, insbesondere der CSSR. Dank des Beitrags vieler tschechischer und auch sowjetischer Berater gelangte Guevara nach anfänglicher naiver Begeisterung und nach einer ersten Reise in diese Länder (wo er sich selbst noch als «Alice im Kontinent der Wunder» bezeichnete) zu einer präzisen Kritik der gesellschaftlichen und ökonomischen Krise, die sie bedrohte und die kurze Zeit nach seinem Tod in der CSSR offen hervortrat.

 

5  Guevaras Kritik am Ökonomielehrbuch der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, von Orlando Borrego als «Prager Hefte» bezeichnet, denn sie wurde in dieser Stadt verfasst, blieb vierzig Jahre lang unveröffentlicht, obwohl der Autor sie minutiös zur Veröffentlichung vorbereitet hatte. Einige tschechoslowakische Ökonomen wie Valtr Komárek halfen ihm, die Schwachpunkte des allen «sozialistischen» Ländern aufgezwungenen «sowjetischen Modells» zu verstehen, aber in jener schönen Stadt konnte Guevara keinen seiner dortigen Freunde und Genossen treffen, denn er musste dort klandestin, ohne Kontakte leben.

Laut Fidel Castro erhöhte der Aufenthalt des Che in Prag die Risiken für Castros Projekte, weshalb er ihn überzeugte, klandestin nach Kuba zurückzukehren. Diese kritischen Reflexionen über die Sowjetökonomie wären kostbar gewesen, wären sie sofort veröffentlicht worden oder zumindest zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR. Jetzt dienen sie, aufmerksam wiedergelesen, fast nur noch als Zeugnis eines intellektuellen Werdegangs. Das Ende der UdSSR liegt weit zurück, und wer an ihre Ewigkeit geglaubt hatte, will nicht zugeben, dass es möglich war, ihren Niedergang vorauszusehen, wozu der Che fähig war.

 

6  Die Verzögerung der Veröffentlichung anderer, vom Che bereits vorbereiteter Schriften, wie den Paisajes de la guerra revolucionaria: Congo hatte schon für die nachfolgenden kubanischen Unternehmungen in Afrika schwerwiegende Folgen. Diese Unternehmungen werden noch heute gefeiert, wobei über den Charakter der von den Kubanern gestützten Regime (vor allem in Angola, Mosambik, Äthiopien) hinweggesehen wird – ebenso wie über den von Führern von Befreiungsbewegungen wie Laurent Désiré Kabila, über den Guevara ein sehr strenges, nicht beachtetes Urteil abgegeben hat und der dreißig Jahre später Präsident der Demokratischen Republik Kongo wurde.

 

7  Die späte Veröffentlichung eines großen Teils bislang unveröffentlichter Texte hat auf die kubanische Debatte von heute nur eine geringe Auswirkung. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass Guevaras Ermahnungen, wie die Lenins in seinem sog. «Testament», zu spät kamen, als die Transformation des Landes bereits weitgehend vollzogen war. Seine Niederlage in der Debatte von 1963/64 war kein Zufall; sie war der Reflex der Konsolidierung einer Bürokratie, die sich ihrer Interessen – die sehr verschieden waren von denen, die sie vorgab (und vorgibt) zu vertreten – immer bewusster wurde.

 

8  Schwer wiegt die neue Isolation Kubas auf dem Kontinent. Die progressiven Regierungen Argentiniens und vor allem Brasiliens, eines der Schlüsselländer des bolivarianischen Projekts dank seiner Größe und seiner Ressourcen, haben bereits Niederlagen eingesteckt, und andere Länder werden in dieser Phase ihre Rolle nicht leicht einnehmen können. Kuba unterstützt die Regierung von Venezuela, aber deren Schwierigkeiten sind keine Erfindung feindseliger Medien. Caracas musste die Erdöllieferungen drastisch reduzieren.

Die Insel steht daher allein den USA gegenüber, die nun obendrein nicht mehr von Obama geführt werden, sondern von einer unberechenbaren Figur wie Trump. Umso mehr, weil die USA weitgehend das Argument des nicht untadeligen Verhaltens der Regierung Maduro bemühen – die wichtigste, wenn auch unzureichende ausländische Stütze Kubas. Die privilegierten Beziehungen zwischen Kuba und Venezuela (auf ökonomischer, aber auch politischer und ideologischer Ebene und gestützt auf eine starke persönliche Bindung zwischen den Castro-Brüdern und Chávez) waren vor allem für die Insel nützlich und kostbar. In Caracas jedoch beschworen sie die Gefahr einer Anpassung an Kuba herauf, das wegen seiner ideologischen Rigidität und der ständigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten seiner Bevölkerung abschreckte und den Gegnern einer stärkeren Integration in ALBA Argumente lieferte. Tatsächlich ist ein weiterer Hinweis von Guevara in Vergessenheit geraten, der schon vor fünfzig Jahren daran dachte, viel mehr die Bewegungen zu koordinieren als die Staaten eines vermeintlich «progressiven Lagers»…

 

9  Eine weitere «Wiederentdeckung» Guevaras, die damals die Welt verblüffte und ein Grund für seine Faszination unter der Jugend war, ist die, dass die Wahrheit revolutionär ist, dass man sagen muss, was man denkt, und tun muss, was man sagt. Das war so bei Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci, aber es wurde in den Jahrzehnten vergessen, in denen der größte Teil der Kommunistischen Parteien hinter revolutionären Phrasen eine Klassenkollaboration verbrämte, die sich nicht von der der Sozialdemokraten unterschied. Das scheint wenig, aber es ist so viel für die verirrte und stimmlose Linke auf der ganzen Welt. Allein das würde genügen, ihn unentbehrlich zu machen.

 

* Quelle: https://anticapitalista.org/2017/10/09/cosa-ci-insegna-ancora-che-­guevara/

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