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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2018
Die Rolle der Bauernschaft. 1848/49 in Österreich-Ungarn
Potenziell revolutionär und Stütze der Reaktion

von Roman Rosdolsky

Karl Marx und Friedrich Engels hatten eine – gelinde gesagt – negative Einstellung zu den slawischen Nationalitäten (mit Ausnahme der Polen), aber auch zu Basken, Bretonen, Walisern und Griechen (aber nicht zu den Iren). Vor allem Engels drückte immer wieder höchst ungerechte und drastische Urteile über sie aus und sprach von «geschichtslosen Völkern», «reaktionären Völkern und Völkertrümmern».

Gerade auch 1848/49 unterschieden sie zwischen «revolutionären» und «konterrevolutionären» Nationen. Der ukrainische Marxist Roman Rosdolsky unterzog diese Sichtweise einer eingehenden Kritik – mit einer Studie, die heute immer noch viel zu wenig bekannt ist. Im Kern geht es dabei um die Rolle der bäuerlichen Massen in der Revolution. Mit ihrer Politik zugunsten einer radikalen Agrar­reform und für das Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Nationen konnten sich die russischen Revolutionäre von 1917 auf sie stützen. 1848/49 wurden sie jedoch vor allem in Österreich tatsächlich zu einer Stütze der Konterrevolution. Der von uns ausgewählte Ausschnitt der Studie von Rosdolsky erklärt die Zusammenhänge.

«Woher kommt diese eigentümliche und befremdende Gruppierung der Klassenkräfte in der österreichischen Revolution von 1848/49, und was war der Grund, dass diese Gruppierung zugleich als eine Scheidung nach Nationen erschien? Welche Umstände haben denn das widernatürliche Bündnis der kaiserlich-feudalen Reaktion mit den slawischen und nichtslawischen Bauernmassen ermöglicht? Musste es so kommen – oder wäre durch eine andere andere Politik der revolutionären Kräfte das Hinüberschwenken des Bauerntums in das Lager der Kontrerevolution zu vermeiden gewesen?

In der marxistischen Literatur sind leider fast keine Untersuchungen darüber zu finden. Man stellt gewöhnlich den Abfall der Bauern als eine fatale, nicht zu verhindern gewesene Folge ihrer Befriedigung durch die Aufhebung der Feudallasten dar – sonst aber beschränken sich die meisten Autoren auf das Klischee von den «revolutionären» und «kontrerevolutionären» Nationen, ohne auf die in den nationalen Kämpfen 1848/49 sich äußernden Klassengegensätze näher einzugehen und in ihnen die Grundlage dieser eigentümlichen Scheidung zu suchen.

Unseres Wissens versuchte nur R.?Luxemburg die Frage von diesem Gesichtspunkt zu betrachten. So erblickt sie in der «panslawistischen Kontrerevolution der österreichischen Südslawen 1848 … den Ausdruck einer Opposition von konservativen, noch in der Naturalwirtschaft steckenden Bauernländern gegen den sie erdrückenden Vormarsch des Kapitalismus.»

Elende deutsche Mittelklasse

Diese Deutung, deren Kern sich bereits in Engels’ Kritik des Panslawismus findet, enthält zweifellos ein Körnchen Wahrheit; aber eben – nur ein Körnchen! Man darf hier nämlich nicht übersehen, dass trotz aller Rückständigkeit der Mehrzahl der slawischen Gebiete Österreichs um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Bauernmassen dieser Gebiete zumeist im erbittertsten Gegensatz gegen ihre Grundherren standen – dass also im Verhalten dieser Bauernmassen 1848/49 viel mehr Opposition gegen den Adel und den Feudalismus als gegen den «Vormarsch des Kapitalismus» steckte! Für alle diese Bauern stimmt nämlich, was Marx und Engels 1847 über die galizischen Bauern sagten, dass eben ihre «Eigentumsfrage» (ähnlich der Eigentumsfrage der französischen Bauern von 1789) sich «auf die Verwandlung von feudalem Grundeigentum in kleines bürgerliches Eigentum reduzierte, dass folglich diese Bauern ein, wenn zwar noch unentwickeltes, so doch revolutionäres Element darstellten. Und wenn sie trotzdem im Verlaufe der Revolution zur sichersten Stütze der reaktionären Kräfte wurden, so lag das wohl vor allem daran, dass – ganz anders als in der großen Französischen Revolution von 1789 – in der österreichischen Revolution 1848/49 keine Gesellschaftsklasse da war, die bereit und fähig gewesen wäre, an die Spitze der Bauernmassen zu treten und eine wirklich radikale Lösung der Bauernfrage herbeizuführen. Dass man dies von dem ungarischen und polnischen Adel nicht erwarten durfte, liegt auf der Hand; aber auch die «elende deutsche Mittelklasse» Österreichs hat sich in dieser Hinsicht als erschreckend kraftlos und kurzsichtig erwiesen!

So konnte im Endergebnis die österreichische Kontrerevolution die Früchte der durch die Verhältnisse erzwungenen «Bauernbefreiung» in Österreich für sich einheimsen und gerade mit Hilfe der (slawischen und nichtslawischen) Bauernschaft sowohl das deutsche Bürgertum als auch den mit ihm verbündeten ungarischen und polnischen Mittel- und Kleinadel vernichtend schlagen…!

Wir haben bereits berichtet, dass auch die äußerste Linke der Revolution von 1848, deren Organ die N.?Rh.?Ztg. war, die gewaltige Bedeutung der Bauernfrage in Österreich nicht richtig einzuschätzen vermochte, und dass man in der N.?Rh.?Ztg. vergebens nach einer Analyse der österreichischen Agrarprobleme, nach einem konkreten Programm in der österreichischen Bauernfrage oder zumindest nach grundsätzlichen Artikeln und Korrespondenzen darüber suchen würde. Diese Einstellung des Blattes scheint das Urteil Bakunins zu bestätigten, der den entscheidenden Fehler der deutschen Revolutionäre 1848/49 in ihrer Unterschätzung der Bauernfrage sah.

Radikale Agrarreform

Indes war die Sache viel leichter gesagt als getan! Es wurde schon hervorgehoben, wie schwer es der deutschen Bourgeoisie sowie dem mit ihr verbündeten ungarischen und polnischen Adel fiel, zur Rettung der Revolution auf ihre nationalen Privilegien zu verzichten. Um wieviel schwieriger und komplizierter aber muss uns die Situation dieser Klassen erscheinen, wenn wir die Frage nicht vom Gesichtspunkt der nationalen, sondern der sozialen Beziehungen betrachten!

Was zunächst die «auswärtigen» Verbündeten des deutsch-österreichischen Bürgertums, den ungarischen und den polnischen Adel anbelangt, so hätte eine wirklich radikale Lösung der Bauernfrage (entschädigungslose Aufhebung aller Feudallasten, Rückgabe der Wälder und Weiden an das Landvolk, Enteignung des feudalen Großgrundbesitzes) die Grundlagen seiner Existenz als Gesellschaftsklasse zerstören müssen. (Et propter vitam vivendi perdere causas… [Und um des Lebens willen die Gründe zu leben zugrunde richten…]) Dass der ungarische und polnische Adel, seinem gesunden Klasseninstinkt folgend, nicht nur diesen Selbstmord nicht begehen, sondern aus der «Bauernbefreiung» möglichst viel für sich herausschlagen wollte, kann ihm – gerade von einem materialistischen Historiker – nicht übelgenommen werden.

Und die deutsch-österreichische Bourgeoisie, die, vom Gespenst einer «roten Republik» zitternd, es nicht einmal wagte, die Bauern der eigenen Nation gegen den Despotismus zu mobilisieren – wie hätte sie die (von ihr so verachteten) «kulturlosen» slawischen Bauernmassen zu ihren Bundesgenossen machen können? Es genügt, diese Frage zu stellen, um die schier unüberwindlichen Hindernisse zu erkennen, mit welchen die bürgerliche österreichische Revolution zu ringen hatte und die schließlich den Untergang dieser Revolution herbeiführen mussten.

Von diesem Gesichtspunkt aber erhält auch die Frage der «geschichtslosen Völkerschaften» und ihrer Rolle in der Revolution ein anderes Aussehen. Wenn die Demokratie der revolutionären Nationen aus den geschilderten Ursachen nicht fähig war, die Bauernmassen dieser Völkerschaften für sich zu gewinnen, so waren auf der anderen Seite die geschichtslosen Völker selbst, infolge ihrer unentwickelten Klassenstruktur, ebensowenig imstande, in der Revolution als eine selbständige Kraft aufzutreten. Und obwohl ihre Bauernmassen potentiell einen revolutionären Faktor, ein «unentwickeltes revolutionäres Element» darstellten, so mussten sie doch – wie die Dinge damals lagen – in Wirklichkeit zu einem Werkzeug der Reaktion werden. Sie waren daher in der Tat «notwendig konterrevolutionär», wenn zwar in einem ganz anderen Sinne, als es Engels meinte. Der Widerspruch zwischen den ­gewaltigen revolutionären Energien, die in den slawischen Bauernmassen schlummerten und der tatsächlichen reaktionären Rolle, die diese Massen in der damaligen Situation spielten, spiegelt sich besonders ausdrucksvoll in der Ideologie und der revolutionären Praxis M.?Bakunins wider.

Aus: Roman Rosdolsky: Friedrich Engels und das Problem der «geschichtslosen» Völker. (Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848–1849 im Lichte der «Neuen Rheinischen Zeitung».) In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd.?4. Hannover 1964. S.?87–276 (der hier wiedergegebene Auszug S.?211–214; Zwischenüberschriften von der SoZ-Redaktion).

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