Ein Gespräch mit Charlotte Hitzfelder vom Konzeptwerk Neue Ökonomie
Der Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. ist ein unabhängiger Verein in Leipzig, der 2011 gegründet wurde. Seine Mitglieder verstehen sich als Teil der Degrowth-Bewegung und wollen eine andere Wirtschaftsweise schon heute erfahrbar machen. Ein Pfeiler der Vereinsaktivität ist die Bildungsarbeit. Der andere Pfeiler ist die Vernetzung verschiedener Bewegungen mit Hilfe von Projekten. Die Degrowth-Sommerschule ist hier ein bekanntes Beispiel.
Für die SoZ sprach Petra Stanius mit Charlotte Hitzfelder. Sie arbeitet seit 2015 beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und ist im Netzwerk Care Revolution aktiv. Eine kaufmännische Ausbildung im Krankenhaus prägte ihre Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. An der Schnittstelle von Wachstumskritik/Degrowth und Care setzt sie sich für eine Neuausrichtung der Wirtschaft und für ein gutes Leben für alle ein.
Was sind die Kernpunkte der Arbeit des Konzeptwerks Neue Ökonomie?
Unser Ziel ist, Konzepte und Bildungsmethoden für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln, die praktisch umsetzbar sind. Wir stellen in Frage, dass Wirtschaftswachstum zu Wohlstand für alle führt, sehen darin eher das Problem der gesellschaftlichen Ungleichheit. Wir fordern ein gutes Leben für alle und weltweit, wozu neben einer anderen Wirtschaftsweise auch genug Zeit für soziale Beziehungen und politisches Engagement gehören.
Und eure Antwort darauf heißt Degrowth?
Ja, wir übersetzen Degrowth mit «Wachstumsrücknahme» oder «Postwachstum». Für mich bedeutet Degrowth die Abkehr vom zwanghaften Wirtschaftswachstum. Das ist unbequem in einer Welt, in der die selbstverständliche Tatsache, dass auf einem endlichen Planeten unendliches Wachstum unmöglich ist, eine radikale Position geworden ist. Das derzeitige Wirtschaftssystem basiert auf Konkurrenz. Es erzeugt Reichtum für Wenige und Armut für Viele. Gleichzeitig werden unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Wirtschaft sollte aber so organisiert werden, dass sie dem Wohlergehen aller weltweit dient. Ich verstehe Degrowth als ein Konzept für den globalen Norden: Die imperiale Lebensweise ist verantwortlich für Armut und Ungerechtigkeit. Die Ursachen liegen also unter anderem hier, und hier müssen wir mit grundlegenden Veränderungen anfangen. Uns steht es nicht zu, Konzepte für anderswo zu entwickeln.
Wie soll Degrowth Wirklichkeit werden?
Wir brauchen gesellschaftliche Veränderungen und einen strukturellen Wandel in der Wirtschaft: weg von «höher, schneller, weiter» hin zu Kooperation, Solidarität und Achtsamkeit. Zu den nötigen Veränderungen gehören die Umverteilung von Reichtum, Ressourcen und Macht. Es muss aber auch hinterfragt werden, was produziert wird und was nachhaltig ist. Unter dem Motto «Lokal handeln – global denken» streben wir offene, regional verankerte Wirtschaftskreisläufe an. Ein individueller Konsumverzicht allein ist keine Lösung. Soziale Bewegungen können von unten mit «revolutionärer Realpolitik», wie Rosa Luxemburg es genannt hat, die dringend nötigen Veränderungen durchsetzen.
Als Konzeptwerk wollen und können wir keine fertigen Konzepte präsentieren, sondern wollen vor allem Räume öffnen, wo sich Menschen begegnen und wo Dinge anders organisiert und gelebt werden können. Wir wollen unterschiedliche Aspekte verzahnen: den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, Zeitsouveränität, das Recht auf Wohnen, gutes Essen, Fürsorge – das alles gehört zum guten Leben und sollte zusammen gedacht werden. Die verschiedenen Bewegungen, die diese Ziele verfolgen, sollten auch gemeinsam handeln.
Was macht ihr genau, um euren Zielen näher zu kommen?
Wir initiieren Projekte, um Menschen aus verschiedenen Bewegungen zusammenzubringen. Ein Beispiel ist die Degrowth Sommerschule, die dieses Jahr zum vierten Mal im Rahmen des ersten Klimacamp Leipziger Land (29.?7.–2.?8.) stattfindet. Hier beschäftigen sich die Teilnehmenden mehrere Tage mit Visionen und Utopien für eine soziale, ökologische und demokratische Gesellschaft, inhaltlich, aber auch praktisch. Zugleich ist die Vorbereitung der Sommerschule selbst bereits ein politischer, selbstermächtigender Prozess: Die Beteiligten lernen hier, wie man sich organisiert, Fähigkeiten teilt und Wissen weitergibt. Wir wollen die Bewegung für Klimagerechtigkeit mit der Degrowth-Bewegung zusammenbringen, damit beide voneinander profitieren. Und das klappt auch gut.
Ihr befasst euch auch mit Care-Ökonomie, mit der Sorgearbeit. Siehst du hier ebenfalls Verbindungen zu Degrowth?
Degrowth wird in erster Linie mit Ökologie verbunden, was in der Tat stimmt, jedoch nicht alles umfasst. Zu Degrowth gehört ebenso das Soziale, denn ohne das Ökologische funktioniert das Soziale nicht und umgekehrt. Degrowth beinhaltet für uns auch eine feministische Herrschaftskritik. Feminismus ist für uns nicht nur ein Zusatz, er muss eine Säule unserer politischen Handelns sein. Ein zentraler Ansatz dafür ist die Kritik, dass Sorgearbeit, egal ob bezahlt oder unbezahlt, unterbewertet ist und meist von Frauen erledigt wird.
So ist das Netzwerk Care Revolution in unser Blickfeld gerückt. Das Netzwerk mit seinen über 80 Gruppen und Einzelpersonen engagiert sich für eine grundlegend andere Organisierung von Sorgearbeit bzw. für eine Neuausrichtung des Gesundheitswesens: Nicht Profitmaximierung, sondern die Bedürfnisse der Menschen sollen im Zentrum stehen. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, wenn das Gesundheitssystem warenförmig organisiert ist. Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen sollten nicht von profitorientierten Konzernen betrieben werden, sondern kommunal, nachbarschaftlich oder selbstorganisiert sein. Ebenso ist die ganze unsichtbare Sorgearbeit – wie z.B. Hausarbeit und Kindererziehung –, ohne die unser Leben nicht funktionieren würde, keine Ware.
Wir wollen, dass weder der Mensch noch die Natur immer weiter ausbeutet wird. Wir wollen eine nachhaltige Wirtschaft, die dem Menschen dient. Das haben wir mit Care Revolution gemeinsam. So ist das Konzeptwerk Neue Ökonomie vor zwei Jahren Kooperationspartner des Netzwerks geworden.
Wen erreicht ihr als Konzeptwerk?
Aufgrund unserer eigenen Hintergründe sprechen wir eher ein junges, aktivistisches und akademisches Publikum an. Wir erreichen indirekt aber auch andere Menschen, weil wir mit unserer Bildungsarbeit bei MultiplikatorInnen ansetzen, die ihrerseits in andere Milieus hineinwirken, auch in die Gewerkschaften. Was das Care-Projekt des Konzeptwerks betrifft, so sehe ich hier ein großes Potenzial, viele Menschen von der Pflegekraft über Erzieherinnen, Lehrerinnen, Gärtner oder Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen anzusprechen. Beim Thema Sorgearbeit können alle mitreden: sei es als Sorgende, oder als Umsorgte. Leider haben im Care-Bereich Tätige häufig zu wenig Zeit für politisches und gesellschaftliches Engagement, da wollen wir den Diskurs mit Care Revolution stärken und Care stärker politisieren.
Wie verbindet ihr die verschiedenen Anliegen in der Praxis?
Ich gebe ein Beispiel: Die AktivistInnen vom Hambacher Forst, die gegen den weiteren Abbau von Braunkohle protestieren, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben mit dem Thema Pflege zu tun. Weil ihre Eltern, Freunde oder sie selbst sie benötigen. Umgekehrt ist der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ein vitales Interesse derjenigen, die sich für eine menschenwürdige Pflege einsetzen. Weil es sonst absehbar nichts mehr geben wird, worum gekämpft werden könnte. Deshalb haben wir beim Klimacamp im Rheinland Workshops zum Thema Care organisiert. Sie sind dort auf großes Interesse gestoßen.
Soziale und ökologische Fragen stehen nicht gegeneinander, beides ist für die Leute wichtig. In Leipzig haben wir gemeinsam mit dem Netzwerk Care Revolution im November 2017 eine Mitmachkonferenz organisiert. Hier stand die Sorgearbeit im Zentrum, aber wir haben auch die Degrowth-Perspektive mit eingebracht. Wir haben die Frage gestellt, welche Auswirkungen die bisherige Art der Organisierung der Wirtschaft auf Care-Arbeit hat. Durch verschiedene Veranstaltungsformate und offene Räume konnte ein breiter Austausch zwischen Teilnehmenden stattfinden.
Wenn sich die Aktiven verschiedener Bewegungen gegenseitig kennenlernen, kann an die Stelle der Angst vor den Unterschieden die Anerkennung der Unterschiedlichkeit treten. Die Beteiligten erfahren: An diesen konkreten Punkten können wir gemeinsam stark sein.
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