von Paul B. Kleiser
Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Sozialdemokratin, dazu noch eine Landtagsabgeordnete aus Hessen, ein lesenswertes und kritisches Buch vorlegt. Andrea Ypsilanti war von 2003 bis 2009 Fraktionsvorsitzende der hessischen SPD und wäre nach den Landtagswahlen 2008 in einer rot-grünen, von der LINKEN tolerierten Koalition als Nachfolgerin des CDU-Rechtsauslegers Roland Koch beinahe Ministerpräsidentin geworden, wenn nicht vier SPD-Abgeordnete wenige Stunden vor der Wahl ihr «Gewissen» entdeckt und erklärt hätten, nicht für sie stimmen zu wollen.
Im dritten Kapitel ihres Buches arbeitet sie diese Geschichte einer gescheiterten sozial-ökologischen Wende auf. Ypsilanti ist Mitglied des Netzwerks «Solidarische Moderne» und steht für eine «ökologische Wende» in Verbindung mit «sozialer Gerechtigkeit». Ihr Buch Und morgen regieren wir uns selbst umfasst sieben Kapitel, die als grundsätzliche Abrechnung mit der bestehenden (deutschen und europäischen) Sozialdemokratie gelesen werden können.
Ihr Ausgangspunkt ist die neoliberale Konterrevolution, die laut Sebastian Budgen, Stathis Kouvelakis und Slavoj Žižek dazu geführt hat, dass es «leichter geworden ist, sich den Untergang der Welt vorzustellen als die bescheidenste Veränderung der Produktionsverhältnisse». Sie beschreibt sodann die Durchsetzung von Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung, wodurch inzwischen eine Gesellschaft «des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung» entstanden ist. «Der Markt ist immer effektiver als der Staat, war die Kampfansage der Ritter der Modernität. Private können es besser, schneller, günstiger. Steuern strangulieren die Eigeninitiative.» Also «mehr Netto vom Brutto». Ein besonderer Glücksfall für die neoliberalen Ideologen und Macher war natürlich der Zusammenbruch des Ostblocks, wodurch die Idee des Sozialismus weiter diskreditiert wurde. Der Neoliberalismus führte auch zu einem Umbau des Staates, der Kommunen und öffentlicher Einrichtungen wie der Krankenhäuser, die mehr und mehr nach der Logik unternehmerischen Handelns umgestaltet wurden. Die Ausbreitung neuer Medien und des Privatfernsehens sorgt für massenhafte Verbreitung der neoliberalen Ideologeme und des «Eventkapitalismus».
Die Sozialdemokratie hat sich, so Ypsilanti, beginnend mit Giddens und Blair in Großbritannien auf den Weg gemacht, den alten gewerkschaftlichen und sozialistischen Ballast abzuwerfen. Man suchte und fand die «neuen Mittelschichten» als die neuen Leistungsträger, um die die Sozialdemokratie zu kämpfen habe. Gerade auch in Hessen seien solche Papiere ausgearbeitet worden, wonach es keine linke oder rechte, sondern nurmehr eine moderne oder unmoderne Wirtschaftspolitik gebe. Diese Ideologie sei dann von Gerhard Schröder und seinem Umfeld (Hombach, Clement) übernommen worden und habe in der Wirtschaftskrise ab 2001 zur «Agenda 2010» geführt.
Laut Ypsilanti war es vor allem Lafontaines Programm der Bekämpfung der unsozialen Maßnahmen der Kohl-Regierung, das den Wahlsieg von 1998 möglich gemacht habe. Schröders «Basta-Politik» habe der SPD dann einen Niedergang der innerparteilichen Demokratie und zahlreiche Austritte eingebracht. Nach dem Verschlafen des Themas Ökologie habe die Agenda 2010 zur «zweiten Spaltung der Sozialdemokratie» geführt. Die Anpassung an den Neoliberalismus zusammen mit der Entstehung von rechtspopulistischen Parteien bedeute, dass sich für die Sozialdemokratie inzwischen die «Existenzfrage» stelle.
Die «Sozialdemokratie als Reparaturbetrieb am Krankenbett des Kapitalismus» sei am Ende. Angesichts der «Grenzen des Wachstums, Krise der Reproduktion, ökologische Verheerungen … Geflüchtetenbewegung, Rechtspopulismus, Demokratiedefizite» brauche es grundlegendere und umfassendere Lösungen. Laut Ypsilanti müsse man in der Perspektive einer sozialen Ökonomie drei Reproduktionskreisläufe in den Blick nehmen: «Die Reproduktion der Arbeitskraft, die Reproduktion der Gesellschaft und die Reproduktion der Natur». Dazu müsse man zunächst einmal aussprechen, was ist, nämlich die «Vertiefung der Klassengegensätze, die skandalöse Verteilung des materiellen Reichtums und des ‹Humankapitals›, die ökologische Krise, die Ausbeutung der schwachen Einkommens- und Bildungsschichten» im Niedriglohnsektor. Gegen den Klassenkampf «von oben» müsse man (auch gegen die veröffentlichte Meinung) den Klassenkampf von unten organisieren. Dazu gehörten nicht nur Steuererhöhungen für die Reichen, sondern auch eine gerechte Verteilung des Produktionsfortschritts.
Ypsilanti tritt für die «Utopie» einer «radikalen Reformpolitik» ein. Die europäische Sozialdemokratie müsse von einer «Marktsozialdemokratie» zu einer «Transformationssozialdemokratie» umgebaut werden. Dazu bedarf es – auch angesichts der neuen Technologien der «künstlichen Intelligenz» – einer deutlichen Reduzierung der Arbeitszeit, was auch Zeit für «mehr Demokratie» schaffe. Aber auch die Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern muss sich grundlegend ändern. Ypsilanti zitiert die feministische Philosophin Eva von Redecker: «Manche radikal feministischen Ansätze würden die Art von Wirtschaft, wie wir sie heute haben, komplett umstrukturieren. Denn die Idee, dass man die ganze Welt als ausbeutbare Ressource versteht, und die Idee, dass Bedürfnisse nur durch Waren befriedigt werden können, widerspricht den Vorstellungen des fürsorglichen Miteinander.»
Eine wirkliche Transformation der bestehenden Verhältnisse zu einer sozialen, humanen und solidarischen Gesellschaft bedarf grundlegender Eingriffe in die «Verfügung von Kapital und Eigentum». Die öffentliche Daseinsvorsorge müsse umgestaltet und ausgebaut werden, weil die «Privatisierungskosten» längst bei den Bürgern angekommen sind. Angesichts explodierender Mieten stelle sich auch die Frage einer «Kommunalisierung von Grund und Boden». Und die «imperiale Lebensweise», mit ihrer Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Süden müsse grundlegend in Frage gestellt werden. Albert Camus’ Philosophie habe eine frühe Kritik an der «industriellen Fortschrittsideologie» geleistet; in Deutschland brauche es einen Schub «mittelmeerischen Denkens».
Andrea Ypsilanti: Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift. Frankfurt a.M.: Westend, 2018. 248 S., € 18 Euro
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