Der Sündenbock ist diesmal schon vor der Krise da. Zehn Jahre nach der Großen Rezession und acht Jahre nach der Eurokrise sehen Konjunkturforscher Vorboten eines Abschwungs am Horizont. Geldpolitiker sorgen sich, dass schon leichte Zinserhöhungen in den USA und das Auslaufen der Anleihekäufe durch die EZB einen Börsenkrach auslösen könnten. Unter Diplomaten und Exporteuren geht die Angst vor einem dauerhaften Schwenk der USA von Freihandel zu Protektionismus um. Dabei ist ausgemachte Sache: Schuld sind die Italiener. Wenn man sie gewähren lässt.
23.?Mai, Rom: Der italienische Staatspräsident Mattarella beauftragt die Führungen von Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und Lega Nord mit der Regierungsbildung. Bei den Wahlen im März hatte die M5S gut 32 Prozent der Stimmen gewonnen, die Lega konnte von 4 auf 18 Prozent zulegen, während die zuvor regierende Demokratische Partei (PD) um 6,5 auf 19 Prozent abrutschte. Mitte Mai gerieten die italienischen Börsen ins Rutschen nachdem durchgesickert war, dass die künftige Regierung massive Steuersenkungen und Ausgabensteigerungen plane.
23.?Mai, Zweites Deutsches Fernsehen: Stellvertretend für die Eliten in Deutschland und ihre nordeuropäischen Verbündeten erklärt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die Ausgabenpläne der designierten Regierungskoalition würden eine Finanzkrise auslösen, die aufgrund der Größe der italienischen Wirtschaft die gesamte EU in Mitleidenschaft zöge. Er sei aber zuversichtlich, dass die Italiener auf den Boden der Tatsachen zurückkommen würden.
27.?Mai, Rom: Mattarella lehnt die Ernennung des von M5S und Lega designierten Finanzministers Savona ab. Der parteilose Ökonom, der Anfang der 90er Jahre Wirtschaftsminister unter Ministerpräsident Ciampi war, galt als zu eurokritisch.
28.?Mai: Mattarella beauftragt den Ökonomen Cottarelli mit der Bildung einer Expertenregierung, die bis zu Neuwahlen im Herbst im Amt bleiben soll. Die italienische Börse erholt sich.
31.?Mai: Cottarelli gibt seinen Auftrag zur Regierungsbildung zurück, nachdem sich Mattarella und der von M5S und Lega vorgeschlagene Ministerpräsident Conte auf den ebenfalls parteilosen, aber weniger eurokritischen Ökonomen Tria als Finanzminister geeinigt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die populistischen Parteien aus Neuwahlen mit einer noch größeren Mehrheit hervorgehen würden, erschien offenbar zu groß. Die Börse in Rom stabilisiert sich, aber die Unsicherheit über die politische und wirtschaftliche Zukunft Italiens bleibt.
Löhne und Schulden
Kapitalabflüsse im Vorfeld und während der Regierungsbildung sowie die offene Drohung mit einer Finanzkrise bestärken die populistischen Parteien in ihrem Anliegen, das einfache Volk vor der Unbill des Weltmarkts zu schützen. Auch die Behauptung, eine abgehobene politische Klasse ignoriere den Willen des Volkes, wird durch das halb öffentlich, halb in Hinterzimmern ausgetragene Gezerre um die Besetzung von Ministerposten bestätigt. Damit haben sich die politischen Kräfteverhältnisse weiter von der Euro- bzw. Marktorthodoxie in Richtung Populismus verschoben. Schwer vorstellbar, wie die Orthodoxie ihre lange Zeit unantastbare Vorherrschaft durch die kommende Wirtschaftskrise retten will.
Dass eine Krise bevorsteht, gilt unter nüchternen Anhängern dieser Lehre als ausgemacht, nur über den Zeitpunkt herrscht noch Uneinigkeit. Einigen dürfte auch klar sein, dass die italienischen Staatsschulden bestenfalls eine, aber sicher nicht die Ursache der kommenden Krise sind. Marktorthodoxe Warnungen, Steuersenkungen und Ausgabensteigerungen würden über den Weg steigender Staatsschulden zu einer Finanzkrise führen, sind nicht einmal mehr eine halbe, sondern eine völlig verdrehte Wahrheit.
Es ist zwar richtig, dass die italienischen Staatsschulden in Vorbereitung auf die Währungsunion in den 90er Jahren von 122 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefallen sind, obwohl die Steuern im gleichen Zeitraum gesunken sind. Dafür ist die private Verschuldung von Haushalten und Unternehmen im gleichen Zeitraum von 120 auf 136 Prozent gestiegen und erreichte bei Ausbruch der Eurokrise 2010 mit 185 Prozent einen Höhepunkt. Der Anstieg kreditfinanzierter Privatausgaben wurde durch die massiven Zinsrückgänge begünstigt, die durch die Aussicht auf Italiens Mitgliedschaft in der Währungsunion ausgelöst wurden. So sank der Zinssatz auf zehnjährige Staatsanleihen, der vielfach als Referenzgröße für langfristige Investitionen aller Art, einschließlich Anlangen und Immobilien, angesehen wird, von 14 Prozent Mitte der 1990er auf 4 Prozent am Ende des Jahrzehnts.
Private Haushalte nutzten die niedrigen Zinsen, um Verluste bei den Lohneinkommen durch kreditfinanzierte Ausgaben zumindest teilweise auszugleichen. Parallel zu den Zinsen sank der Index der Lohnkosten in Italien nämlich von 100 auf 80 Punkte. Die Einkommensteuern sanken, deren Spitzensatz wurde in zwei großen Schritten Ende der 90er Jahre und unmittelbar vor der Großen Rezession 2008/09 von 51 auf 43 Prozent gesenkt, doch das konnte den Rückgang der Arbeitseinkommen nur teilweise ausgleichen. Zudem fiel die Senkung der Einkommensteuern deutlich schwächer aus als die ebenfalls in zwei Stufen erfolgte Senkung der Körperschaftsteuern von 53 auf 23 Prozent.
Krise und Staatsschulden
Steuererleichterungen und niedrige Zinsen sorgten von der Mitte der 90er Jahre bis zur Rezession für steigende Investitionen in Anlagen und Immobilien. Gleichzeitig stieg die Börsenbewertung von Produktionsanlagen, Gebäuden und Infrastruktur von 11 Prozent (gemessen am Bruttoinlandsprodukt 1992, dem Jahr der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags) bis auf 61 Prozent ein paar Monate vor dem Platzen der Dot.com-Blase an der der New Yorker Wall Street im März 2000. Das Ende des kredit-und börsengetriebenen Booms in Italien verlangsamte auch den Rückgang der Staatsverschuldung. Infolge der Großen Rezession und der Eurokrise schossen die öffentlichen Schulden, wie in anderen Ländern auch, dann wieder in die Höhe und liegen seit einigen Jahren bei Werten knapp über 130 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt.
Es waren also nicht die Staatschulden, die Italien vor 10 Jahren in die Krise trieben, sondern die Krise hat die Staatsschulden in die Höhe getrieben. Vorangegangen war ein von Spekulation und Schulden befeuerter Boom in Vorbereitung auf und während der ersten Jahre der Währungsunion. Die in Maastricht und den Anschlussverträgen festgeschriebene Politik hat Spekulation und Schuldenmacherei den Weg bereitet.
Allerdings sollte man sich vor dem Umkehrschluss hüten, außerhalb der Währungsunion wäre es der italienischen Wirtschaft besser ergangen. Die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag fielen mit einer Konjunkturkrise zusammen, in deren Verlauf die Staatschulden ebenso drastisch stiegen wie nach der Großen Rezession und der Eurokrise. Und das, obwohl der Konjunktureinbruch zu Beginn der 90er Jahre kürzer und schwächer war als in den Jahren 2008–2014. Irgendetwas musste damals geschehen, denn irgendwann schaukeln sich Schulden und Schuldendienst tatsächlich zu einer die Wirtschaft erdrosselnden Spirale auf. In dieser Situation bot der Maastricht-Vertrag den italienischen Eliten eine willkommene Gelegenheit, das Gespenst einer Schuldenkrise nach lateinamerikanischem Vorbild zu vermeiden und die Anpassungslasten bei den arbeitenden Klassen abzuladen. Dieses Vorhaben erwies sich als überaus erfolgreich.
Aufgeriebene Linke
In ihrem Bemühen, der Spar- und Umverteilungspolitik etwas entgegenzusetzen, sie zu verlangsamen oder ihr gar ein soziales Angesicht zu verpassen, hat sich die italienische Linke aufgerieben. So sehr, dass der heute grassierende Unmut über die Folgen dieser Politik fast nur noch der Rechten zugute kommt. Deren Erfolge irritieren zwar die noch weitgehend der Marktorthodoxie verschriebenen Eliten und erschweren das politische Geschäft, stellen aber wenigstens die soziale Ordnung nicht in Frage.
Die Währungsunion war den italienischen Eliten nicht nur als ökonomisches Umverteilungsprojekt willkommen, sondern auch als politischer Stabilitätsanker nach dem Zusammenbruch des Parteiensystems, das den Kalten Krieg begleitet hatte. Die Sozialistische Partei, deren Vorsitzender Craxi in den 80er Jahren mehrfach Ministerpräsident war, löste sich spurlos in einem Tangentopoli genannten Korruptionsskandal auf. Aus den Zerfallsprodukten von Christdemokraten und KP gingen zuerst das neue Parteienbündnis Ulivo, später die heutige Demokratische Partei hervor. Eine Weile sah es aus, als könnte sich Rifondazione Comunista – hervorgegangen aus einem Bündnis aus Kommunisten, die die Auflösung ihrer Partei ablehnten, anderen linken Kleinparteien und Bewegungslinken – als neue Kraft der italienischen Linken etablieren. Dieser Versuch ist gescheitert. Rifondazione ist mittlerweile ebenso bedeutungslos wie die Reste der Sozialistischen Partei. Die Demokraten sind zwar noch Teil des derzeitigen Parteiensystems, haben bei den letzten Wahlen mit 19 Prozent allerdings auch eine herbe Schlappe einstecken müssen. Jüngst reichte deren Einfluss noch, um einen bekennenden Eurokritiker als Finanzminister zu verhindern.
Mit der Ernennung des Euro-Befürworters Tria in einem ansonsten zumindest euroskeptischen Kabinett stehen Italiens neuer Regierung ähnliche Zerreißproben bevor wie ihren Vorgängerregierungen. Die kommende Wirtschaftskrise wird das Geschäft für Conte, Tria & Co. nicht einfacher machen. Für die marktorthodoxen Eliten allerdings auch nicht.
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